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deutlich spürte. Da der Frühstückstisch weit weg vom Fenster stand, war weder die Einsicht von draußen noch die Aussicht auf den Vorplatz verlockend. Der Berufsverkehr war noch weit genug weg, als dass er beim Frühstücken störte. Auch hielten die Fensterscheiben die Verkehrsgeräusche in angenehmer Weise fern. Der sichtbare Verkehr lief also in Stille ab, was Boris in die Lage versetzte, sich bei der zweiten Tasse Kaffee die Brahms-Partitur im Kopf zurechtzulegen.

      Er nahm das Taxi zur Philharmonie, das für ihn von der Rezeption des Polnischen Hofes bestellt war. Auch diesem Taxifahrer gab er ein fürstliches Trinkgeld, als er auf dem weitläufigen Platz der Philharmonie ausstieg. Der Fahrer dankte es ihm mit gezogener Fahrermütze. Die Orchesterklänge, vor allem der Bläser, aus dem zweiten Klavierkonzert kamen ihm entgegen, als er den klassizistischen Bau der Philharmonie betrat, der im Krieg stark beschädigt und nach dem Krieg meisterhaft wiederhergestellt wurde. Oboen und Fagotte bliesen die Tonleitern über zwei, manchmal über drei Oktaven rauf und runter, während die Streicher ihre Quinten von Saite zu Saite stimmten und miteinander abstimmten, wobei die Kontrabässe wie schlafende Bären dazwischenbrummten, oder klangverwandter, dazwischenschnarchten. Boris trat in den Konzertsaal, einem großen Saal mit doppelstöckigen Seitenrängen unter einer hohen, gewölbten Decke. Er stieg die sechs Stufen zur Bühne und ging auf den Flügel zu. Der Konzertmeister, ein Geiger zwischen dreißig und vierzig kam ihm entgegen und begrüßte ihn herzlich: “Willkommen in Warschau! Willkommen in unserer Philharmonie!” Bei der Begrüßung hielt er Geige und Bogen in der linken Hand. Boris traf auf ihn zum ersten Mal, denn vor zwei Jahren war der Konzertmeister ein älterer Herr, der in dem sympathischen Gesicht eine Narbe über der linken Wange hatte, die ihm noch die Nazis beigebracht hatten.

      Der junge Geiger nun war ein hochgewachsener, schlanker Pole mit ovalem Gesicht, dunkelbraunen Augen und langem, zurückgekämmten schwarzen Haar. Auch die übrigen Orchestermitglieder hießen Boris willkommen, indem die Streicher mit den Bögen gegen ihre Instrumente klopften, was die Bläser und der Schlagzeuger mit den Schuhen auf dem Bühnenboden taten. Boris dankte für den herzlichen Willkommensgruß mit einer tiefen Verbeugung. Dann klappte er den Flügeldeckel auf, setzte sich und spielte Abschnitte aus dem ersten, zweiten und dritten Satz. Viertel nach neun betrat der Dirigent Wiktor Kulczynski die Bühne und begrüßte Boris mit einer väterlichen Umarmung, denn dieser untersetzte, freundliche Herr mit der hohen Stirn und großen Nase hätte vom geschätzten Alter her gut sein Vater sein können. “Ich freue mich sehr, Boris Baródin, mit ihnen das zweite Brahms-Konzert aufführen zu können, nachdem ich so hervorragende Kritiken über Sie gelesen habe. Ich hoffe, dass Sie in einer guten Verfassung sind, damit wir das Konzert zu einem großen Erfolg bringen.” Das sagte Dirigent Kulczynski im fehlerfreien Deutsch mit polnischem Akzent. “Packen wir’s an!” Er stieg aufs Podium, schlug die große Orchesterpartitur auf, nahm den Taktstock in die rechte Hand und sagte: “Bitte meine Herren, fangen wir von vorne an.”

      Das Orchester brachte das Eingangsmotiv im ‘Allegro non troppo’ mit den steigenden Viertelnoten B-C-D, der herabgleitenden Triole Es-D-C, dann dem D als Viertelnote und dem langgezogenen F als Dreiviertelnote. Wieder und unwillkürlich hörte Boris den Ruf seines Vaters, den stummen Schrei des Ilja Igorowitsch. Wieder sah er vor sich den breiten Wolgastrom, wieder spürte er die Breite der Schwermut über diesem Lauf. Er setzte seinen stakkierten Triolenlauf als die leichtermachende, lebensweckende Kraft aus dem fortdauernden, nie-endenden, die Lebensspanne des Individuums überschreitenden Status nascendi mit seiner grenzenlosen Hoffnungstracht entgegen, setzte das Triolen-Stakkato zum Zeichen der Seinsannahme wie einen bunten, verheißungsvollen Spitzhut “der Weisheit” dem weinenden Clown in seiner, der Kleingeisterei widerstrebenden Existenz- und existenzphilosophischen Bedeutung auf, um ihn aus der Blick- und Daseinsschwere heraus zu helfen, ihn wieder zum Lachen zu bringen, ihm mindestens ein Lächeln abzugewinnen. Nun hatte Boris plötzlich die springenden Flachsteine auf dem Wasser wieder vor Augen. Schnell wuchs die Dynamik mit den stakkierten Oktavläufen in der rechten Hand über den begleitenden Dezimen in der linken, als hätte sich ein kräftiger Arm, der Arm eines Riesen ausgestreckt, der das Klanggebäude, in dem es “Türen und Fenster” gab, die geöffnet und geschlossen werden, in der Hand hält, es hebt und senkt.

      Den Ohren stellte sich ein gewaltiges Gebäude von unerhörten Dimensionen dar, das aus immer neuen Perspektiven zur Betrachtung kam. Da kam etwas ins Schwingen, das großartig war nach außen wie nach innen, bis in die feinsten ‘molekularen’ Strukturen hinein. Ein Tonwerk des Meisters, der ingroßen Visionen schöpfte, die mit der Zeit nicht zu begrenzen oder zuschließen waren. Intellektuell allein ist das Werk nicht zu fassen, zu viele Emotionen sind hineingeflossen. Es ist ein “Kraftwerk” ständig auftauchender und versinkender Gefühle, kommender und gehender Weisen mit ihren Mahnungen und Verweisen zur besseren Menschlichkeit, zur Erfüllung des Lebens im Leid und im Glück, und das in immer anderen Klanggewändern des ständigen Fließens, dem Heraklit’schen “Panta rhei” der nicht aufhörenden Verwandlung, des immer Anderen zum immer Neuen.

      Wiktor Kulczynski, der Dirigent, wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, als er in der Mitte des ersten Satzes das Halt gebot und seine ersten Bemerkungen zum Gespielten machte: “Meine Damen und Herren, es war nicht schlecht, was wir gespielt haben. Aber für einen Brahms war es nicht gut genug. Bedenken Sie, dass Brahms ein Meister der Liebeslieder war, sowohl im Kompositorischen wie im Vortrag. Wie bei Tschaikowsky verbirgt sich auch bei Brahms die große, überempfindliche Seele in seiner ausschwingenden Musik. Nun ist es unsere Aufgabe, dieser Seele zum Durchbruch zu verhelfen. Die Brahms’sche Seele muss zum Klingen kommen. Das wird von diesem Klangkörper, also von uns erwartet, und das müssen wir schaffen. Um die Seele zum Klingen zu bringen, muss das ‘forte’ und ‘piano’, das ‘fortissimo’ und ‘pianissimo’ genau beachtet und das Vibrato stärker und präziser gebracht werden. Beginnen wir noch einmal von vorn!”

      Wieder war es die Schwermut, die aus den ersten beiden Takten des Orchester tönte.Wieder sah Boris den trägen Lauf des breiten Wolgastroms; wieder hörte er den stummen Schrei seines Vaters, Ilja Igorowitsch, der verloren am Ufer des breiten Stromes stand; wieder setzte er mit seinem Triolen-Stakkato dem weinenden Clown den Spitzhut der Weisheit auf, und wieder waren es die geworfenen Flachsteine, die Boris über das träg fließende Wasser springen sah. Es galt eben wieder, mit dem einsetzenden Spiel des Pianos die Schwermut zu durchbrechen, die Dinge in der Welt und der Tonwelt im Besonderen leichter zu machen, der Unergründlichkeit des Leidens das Beglückende, das das Leben auch bereithält, wenn man es nur annehmen will, entgegenzusetzen. Das Gesicht des Dirigenten entspannte. Züge der Zufriedenheit kamen auf und seine Augen begannen zu leuchten. “Wunderbar!”, rief er ins Spiel und dankte nickend den Spielern, die es als Ansporn begriffen und den Unterschied zum ersten Mal herausspielten und heraushörten. Die große Seele kam ins Schwingen und die Klänge mit der genauen Beachtung von laut und leise und dem stärkeren und präzisen Vibrato drückten das Schwingen unsagbar schön und ergreifend aus.

      Das ließ sich in Worten nicht sagen, weil eine Musik gespielt wurde, die in ihrer Aussage weit über die Wortsprache hinausreichte. Die Gesichter der Spieler waren konzentriert, die Verbindung zum Werkkern, zur Seele des Werkes tonal zu halten und zu festigen. Das sah Boris beim flüchtigen Hinsehen in das Halbrund des Orchesters. Er brachte seinen Teil fehlerfrei und ausdrucksstark. Er war froh, dass er von einer Hustenattacke verschont geblieben war, die seinen Vortrag mit einem Schlag zunichte gemacht hätte. Von der Stabführung des Dirigenten war Boris ebenso angetan wie vom Spiel des Orchesters, war doch die Warschauer Philharmonie ein großartiger Klangkörper von hohem internationalen Ruf. Die Tonqualität war Spitzenqualität, das Klangvolumen und die Farbigkeit ein Erlebnis der besonderen, slawisch kultivierten Ausdrucksweise, einer Weise der tiefgehenden, bodenständigen Einfühlsamkeit sowie des aus diesem Boden hervorgegangenen Stolzes.

      Mit dem lang anhaltenden B-Dur-Akkord war das Ende des ersten Satzes gespielt. Wiktor Kulczynski klopfte mit dem Taktstock seine Zufriedenheit auf das Pult und wischte sich mit der linken Hand den Schweiß vom Gesicht: “Ich denke, dass wir jetzt auf dem richtigen Weg sind und dem großen Brahms die nötige Ehre erweisen. Machen wir weiter und spielen das ‘Allegro appassionato’, aber nicht zu schnell. Es ist ein Satz von großer Aussage und hoher Würde.” Er hob den Stab. Boris setzte mit seinem Achtellauf im Vortakt an, dem er die Viertelnoten im Folgetakt wie

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