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seit einigen Tagen verfolgt hat, oder das vielmehr er seit einigen Tagen verfolgt hat, heute in eine ganz neue Form brachte. Und wieder eigentlich in keine neue Form, sondern in die endgültige. Wie er vor allem ein Seitenthema fand, in so direktem Wege, als wäre es schon seit dem ersten Tage des Auftauchens des Hauptthemas vorhanden gewesen und mußte jetzt nur noch gespielt werden. Ich habe in Florenz halbfertige Statuen des Meisters Michelangelo gesehen. Die halb aus dem Marmor herausgehauenen Figuren geben einem das Gefühl, als wären sie schon immer in dem Stein drinnen gewesen, völlig fertig, der Meister half jetzt nur, sie zu befreien. Und es sah aus, als würden die Figuren selbst fest mithelfen. Sie wirkten, so halb im Stein, so halb aus dem Stein, als wollten sie mit Kraft, ja mit Gewalt dem Künstler in die Hand arbeiten. So wirkte das Thema auf mich, als es mein Vater aus seiner dunklen Vorhandenheit hervorzauberte. Er schrieb es sogleich auf und verwahrte die Noten in seinem Geheimarchiv. Nur ich weiß, daß dort nichts Geheimes zu finden ist, als seine gesammelte Musik.

      Einiges aus dem 'Geheimarchiv' wurde später, als Dietrichstein sich beruflich ganz der Musik widmete, aufgeführt. Joseph Moritz aber dürfte die Aufführungen der Werke seines Vaters nicht mehr erlebt haben.

      Habe heut’ dem Franz (zur Erinnerung: Franz ist der Herzog) von diesem wundersamen Erlebnis erzählt, woh1 wissend, daß die Kunst nicht das ist, womit er sein Leben zu erfüllen gedenkt.

      Seine Antwort aber überraschte mich: „Siehst du, Jomo“, -

      ‚Jomo‘ ist die vertrauliche Abkürzung von ‚Joseph Moritz‘, die nur der Herzog verwendete, wie, das erfahren wir noch – „da ist etwas entstanden. Und immer sind es die Väter, die etwas entstehen lassen. Deiner und meiner. Meine Musik sind die Schlachtenpläne meines Vaters.“

      Dann wollte er läuten, tat es aber nicht, sondern winkte mich in das Bibliothekszimmer. Unter der Türe wartete er auf mich, legte seinen Arm um meine Schulter, drückte sie mit der Hand, preßte mich impulsiv an sich, nur so nebenbei, denn sein Augenmerk war schon auf den Tisch gerichtet, auf den wir zustrebten. Ich spürte dennoch mit vibrierender Aufmerksamkeit seinen schmalen Körper, die Magerkeit, die Härte des Brustkorbes, die Rippen. Ganz im Gegensatz zu der Wärme, die in seiner Bewegung lag und der Wärme, die sein harter, zarter Körper ausstrahlte. Er ist nur ein wenig größer als ich, wirkt aber mit seinen 1 Meter 90 doch wie ein Riese.

      Franz wies auf den Tisch, auf dem Pläne ausgebreitet waren, umgeben von ausführlichen Beschreibungen von den verschiedensten Händen. Auf all das deutete er mit großer Geste: „Ich höre Austerlitz, ein faszinierendes Stück Kunst. Genauer geordnet, als je eine deiner Symphonien es sein kann.“

      Ich wagte das zu bezweifeln und meinte, das sei doch immerhin Krieg. In Falle Austerlitz' sogar ein stattgefundener Krieg, mit vielen wirklichen Toten.

      „Jomo“, belehrte er mich, „jede Änderung in dieser Welt wird durch Krieg vorbereitet. Im nachfolgenden Frieden wird dann das festgeschrieben, was der Krieg entschieden hat. Das Neue, mein lieber Jomo, kommt aus dem Krieg. Der Krieg besteht aus Schlachten. Schlachten muß man gewinnen, wenn man das Nachfolgende mitbestimmen will.“

      „Aber dein Vater, Franz“, wollte ich einwenden, wußte aber nicht so recht, ob ich in meiner Freiheit so weit gehen durfte, ihn darauf hinzuweisen, daß Napoleon doch allerhand, und zuletzt alles, verloren hatte und somit auch die Schuld an der jetzigen Situation des Herzogs trug.

      „Ich weiß“, unterbrach mich Franz, obwohl ich selber gar nicht weitergeredet hätte, „mein Vater hat zu viel gewollt. Die Geschichte wird ihn zum Größenwahnsinnigen oder zum Großen, ja Größten machen. Die Geschichte wird erst einmal aufgeschrieben, dann bewertet, du weißt."

      Ob Joseph Moritz diese weitschauende Aussage des Herzogs wirklich verstand, gibt er uns nicht preis. Seine Beschreibung widmete sich stets mehr dem Menschlichen zwischen den Beiden. So gelingt es Joseph Moritz im folgenden Absatz sehr schnell, die Schilderung des sachlichen Gespräches in den Bereich des dabei Gefühlten hinüber gleiten zu lassen.

      „Er war zu genial.“

      Franz lächelte jetzt.

      Und er wiederholte: „Er war genial.“

      Er sagte es mit der Pedanterie, die mich an meinen Vater erinnerte. Es war seiner feinen Aufmerksamkeit für die Sprache nicht entgangen, daß man zwar genial sein konnte, aber nicht genialer und nicht zu genial.

      Im Lächeln seufzte er wie unter schwerer innerer Last.

      „Sein Wollen, sein Können, reichten aus für zwei, für mehrere Leben.“

      Dann hielt er inne. Ich sah von der Seite, daß eine Träne über seine rechte Wange lief. So nahe waren seine Empfindungen beisammen, eben hat er noch gelächelt, und schon hat ihn die Liebe zu seinem Vater, den er nie gekannt hat, berührt. Franz sah mich an, wollte sprechen, konnte nicht gleich, hielt still, um sich zu fassen.

      Es war eine Zeit, in der Männer, Jünglinge, sich nicht schämten, auch einmal zu weinen. Wie viele „heiße Tränen“ wurden in der Zeit der Romantik auch von Männern vergossen…

      Ich kann nicht, wie Vater mein Empfinden in Musik fassen. Ich kann nicht Fassung erringen durch die Kunst. Ich kann nicht dichten, was ich wahrhaftig empfinde, ich schreibe es nieder, aber es bringt mir keine Fassung. Collin dichtete Empfundenes. So viel, wie der dichtet, kann er gar nie empfunden haben. Welch ein Überfluß aber doch! Mein Vater atmet tief ein, geht in sich, und macht Ordnung in allem, worin er lebt, auch in dem, was er empfindet. Da wird dann Musik draus. Wie aber soll aus meinen Tränen, die den Polster tränken, Musik werden? Oder ein Kunstwerk? Wie kann ich Tränen formen?

      Eine schwere Last von Empfindungen, zu deren Ordnung ihm, wie er meinte, die Gabe fehlte - und er litt unter dem vermeintlichen Wissen, seiner Empfindungen nie Herr werden zu können. Er schrieb auf, was er erlebte und brachte es in eine Fassung, die ihm selber fehlte. Denn es war der tödliche Irrtum des Joseph Moritz, nicht zu erkennen, dass das, was er da schrieb, die Fassung war, die er suchte.

      Bald aber hatte Franz wieder sein Innerstes beruhigt und sagte leise: „Schreib’ ein Musikstück, Jomo. Mach’ ein Gedicht. Du kannst das. Ich beneide dich. Denn ich -“, er hielt noch einmal inne, sodaß ich erkannte, daß hier die Wurzel seines augenblicklichen Schmerzes lag, „- ich werde wohl nie eine Schlacht schlagen.“

      Damit umarmte er mich und legte seinen Kopf an meine Schulter; ein heftiges Schluchzen schüttelte ihn. Ich konnte nicht anders, ich weinte ebenfalls, ihn fest an mich drückend. Den armen, mageren, sinnlosen Thronfolger auf niemandes Thron.

      Einer erkannte den anderen genau, aber keiner erkannte sich selber. Beide waren sie Söhne von Vätern, die ihren Kindern keine Chance ließen, der Herzog in der historischen Vollkommenheit Napoleons, die abschließend und für alle Nachkommen tödlich war, Joseph Moritz durch vorgelebtes wohlgeordnetes, vollkommenes Innen- und Außenleben eines kompletten Vaters. Zwei empfindsame junge Männer waren sie, denen niemand half, ihr Leben zu bewältigen. Es waren ihnen nur die Handgriffe beigebracht worden, die man tätigen musste, wenn die Äußerlichkeiten des Tagesablaufes eine Handlung verlangten. In sich hatte jeder der beiden seine eigene Traurigkeit. Die eigenen Gedanken fanden keinen anderen gemeinsamen Ausdruck, als die Traurigkeit. Diese Traurigkeit, die dann bewusst und quälend fühlbar wurde, wenn die Verlassenheit des Einzelnen ihre kalten Ringe um sie legte.

      Franz löste sich, wischte eine Träne aus seinem Gesicht, lächelte, als er meine Tränen sah, wischte sie mit der anderen Hand zart aus meinem Antlitz, dann sagte er: „Wir zwei. Was soll aus uns werden?“

      Ich verließ Franzens Gemächer auf dem gewohnten Weg, ging nach Hause, suchte in der Bibliothek meines Vaters nach einem Dichter, der mir eine Form oder eine Sprache vorzugeben imstande war. Ich habe schon so oft gesucht und wie jedes Mal fand ich auch diesmal keinen. Also verschreibe ich mich dir, meinem Tagebuch.

      Man hätte dem Joseph Moritz sagen müssen, dass Gedichte vielleicht gar nicht diese Aussagekraft gehabt hätten, wie sie sein Tagebuch bietet. Joseph Moritz wusste wirklich nicht, was für ein guter Schreiber er war, als er dieses sein Tagebuch schrieb. Niemand hat es zu seinen Lebzeiten gelesen, wer also hätte es ihm sagen können?

      Joseph

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