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Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur. Herbert George Wells
Читать онлайн.Название Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur
Год выпуска 0
isbn 9783753199054
Автор произведения Herbert George Wells
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Aber Geschichte!«
Sarnac lachte. »Ja, es ist absonderlich. Nun, da ich wieder wach bin, sehe ich das sehr gut ein. Ihr könnt mir's aber glauben, mehr wurde uns nicht gelehrt.«
»Erzählte man euch nichts über Anfang und Ende des Lebens, nichts über seine unendlichen Freuden und Möglichkeiten?«
Sarnac schüttelte den Kopf.
»In der Schule nicht«, sagte Stella, die offenbar noch gut wußte, was in ihren Lehrbüchern gestanden hatte. »Das geschah in der Kirche. Sarnac vergißt die Kirchen. Ihr müßt bedenken, daß jenes Zeitalter eines intensiver Religiosität war. Es gab allenthalben Stätten der Andacht. Ein ganzer Tag von sieben wurde der Betrachtung des Menschheitsschicksals und dem Studium der göttlichen Absichten gewidmet. Der Arbeiter feierte an diesem Tage. Von einem Ende des Landes bis zum andern war die Luft erfüllt vom Klange der Kirchenglocken und vom Gesang der Gläubigen. Lag darin nicht eine gewisse Schönheit, Sarnac?«
Sarnac lächelte sinnend. »Es war nicht ganz so, wie du sagst. Unsere Geschichtsbücher bedürfen in dieser Hinsicht einer kleinen Revision.«
»Aber man sieht doch zahllose Kirchen und Kapellen auf alten Photographien und kinematographischen Bildern. Auch besitzen wir ja noch eine Menge der damaligen Kathedralen. Manche von ihnen sind recht schön.«
»Sie mußten allesamt gestützt, die Mauern mit Stahlklammern zusammengeheftet werden,« sagte Heliane, »weil sie nachlässig oder gewissenlos erbaut worden waren. Und sie stammen nicht aus Sarnacs Zeit.«
»Mortimer Smiths Zeit«, verbesserte Sarnac. »Sie wurden Jahrhunderte früher erbaut.«
3
»Ihr dürft die Religiosität eines Zeitalters nicht nach seinen Tempeln oder Kirchen beurteilen«, fuhr Sarnac fort. »Ein ungesunder Körper birgt in der Regel mancherlei in sich, was er abzustoßen nicht die Kraft hat; je schwächer er ist, desto weniger vermag er dem Wachstum abnormer und unnützer Gebilde zu steuern, die an sich mitunter ganz schön sind.
Ich will versuchen, euch das religiöse Leben in meiner Heimat und die religiöse Seite meiner Erziehung zu schildern. Es gab in England eine Art Staatskirche, doch hatte diese zu meiner Zeit ihr offizielles Ansehen bei der Gesamtheit des Volkes bereits zum größten Teil eingebüßt. Sie besaß zwei Gotteshäuser in Cherry Gardens; das eine, ältere, stammte aus den Tagen, da der Ort ein Dörfchen gewesen war, es hatte einen viereckigen Turm und war, verglichen mit anderen Kirchen, recht klein; das andere war neuer, geräumiger und mit einem spitzen Turm versehen. Überdies hatten zwei nicht der Staatskirche angehörende christliche Sekten, die Kongregationalisten und die Methodisten, sowie auch die alte römisch-katholische Glaubensgemeinde ihre Kapellen in Cherry Gardens. Jede dieser Kirchen gab vor, die einzig wahre Form des Christentums zu vertreten, und jede unterhielt einen Geistlichen, das größere Gotteshaus der Staatskirche sogar zwei, einen Pfarrer und einen Unterpfarrer. Ihr denkt nun gewiß, daß in diesen Kirchen Ähnliches dargeboten wurde wie in den Geschichtsmuseen und Visionstempeln, die unsere heutige Jugend besucht; ihr denkt, daß dort die Geschichte der Menschheit und das große Abenteuer des Lebens, an dem wir alle teilhaben, so eindrucksvoll und schön als möglich geschildert, daß die Zuhörer an die Bruderschaft aller Menschen gemahnt und aus dem Kreis selbstsüchtiger Gedanken emporgehoben wurden ... Laßt mich euch berichten, was Religion und Kirche für mich bedeuteten.
Der ersten religiösen Unterweisungen, die ich erhielt, entsinne ich mich nicht mehr. Sehr früh lernte ich ein kleines Gebet in Versen auswendig, das mit den Worten anhob:
›Sanfter Jesus, lieb und lind,
Blick auf mich, dein kleines Kind!‹
Ein anderes Gebet, das ich lernte, blieb mir fast völlig unverständlich. Schon die Anfangsworte ›Vater unser – der du – bis in den Himmel –‹ waren mir ein Rätsel. Es war darin von ›Schulden‹ die Rede, ferner enthielt es die Bitte ›Gib uns unser tägliches Brot‹ und den Wunsch ›Zu uns komme dein Reich‹. Meine Mutter muß mich diese Gebete gelehrt haben, als ich noch ganz klein war, und ich sagte sie jeden Abend auf, manchmal auch des Morgens. Sie hielt offenbar die altehrwürdigen Worte viel zu sehr in Ehren, als daß sie sie mir erklärt hätte. Als ich einmal nicht nur um das tägliche Brot, sondern auch um etwas Butter dazu bat, schalt sie mich heftig. Sehr gerne hätte ich sie gefragt, was wohl mit der guten Königin Victoria geschehen würde, sobald das Reich Gottes käme, doch fand ich nie den Mut dazu. Ich hatte die sonderbare Idee, daß dann eine Heirat geschlossen werden müßte, daß aber noch niemand an diese Lösung gedacht habe. Ich muß damals noch recht jung gewesen sein, denn Victoria die Gute starb, als ich fünf Jahre alt war, während des sogenannten Burenkrieges, eines heute fast vergessenen, aber ziemlich langwierigen Kampfes in Afrika.
Meine kindlichen Zweifel wuchsen, doch als ich das Alter erreicht hatte, in dem Kinder die Kirche und die Sonntagsschule zu besuchen begannen, machten sie einer Art selbstschützerischer Gleichgültigkeit Platz.
Der Sonntag-Morgen bedeutete für meine Mutter die allergrößte Anstrengung der ganzen Woche. Den Abend vorher bekamen wir allesamt in der unterirdischen Küche eine Art Bad, die Eltern ausgenommen, die sich, glaube ich, niemals am ganzen Körper wuschen – ich kann das aber nicht mit Bestimmtheit behaupten –, und am Sonntag-Morgen standen wir etwas später auf als gewöhnlich und zogen reine Wäsche an sowie die besten Kleider, die wir besaßen. (Man trug in jenen Tagen eine erschreckende Menge von Kleidungsstücken. Jedermann war infolge schwächlicher Gesundheit überaus empfindlich gegen Nässe oder Kälte.) In Erwartung größerer Dinge war das Frühstück ein hastiges und durchaus nicht feiertägliches Mahl. Dann mußten wir uns hinsetzen und still verhalten, damit unsere Kleider weder schmutzig würden noch sonst irgendwie Schaden nähmen, und dabei so tun, als ob wir eines der zehn oder zwölf Bücher, die unser Heim besaß, mit Interesse betrachteten oder läsen – bis es Zeit war, zur Kirche zu gehen. Die Mutter bereitete das Sonntagsmahl, meist eine bestimmte Art von Fleischgericht, das Prudence zu einem benachbarten Bäcker trug, wo es gebraten wurde, während wir dem Gottesdienst beiwohnten. Der Vater erhob sich noch später als wir anderen und erschien, seltsam verwandelt, in einem schwarzen Rock, mit Kragen, Vorhemd und Manschetten und mit niedergebürsteten, gescheitelten Haaren. In der Regel gab es irgendeinen unvorhergesehenen Zwischenfall, der unseren Abgang verzögerte. Eine meiner Schwestern hatte ein Loch im Strumpf, oder meine Schuhe waren noch nicht zugeknöpft und der Schuhknöpfer nirgends zu finden, oder eines der Gebetbücher war verlegt worden. Solches verursachte allgemeine Verwirrung, und es gab angstvolle Augenblicke, wenn die Kirchenglocken zu läuten aufhörten und ein monotones Bimmeln ertönen ließen, das den Beginn des Gottesdienstes anzeigte.
›Ach, nun kommen wir wieder zu spät!‹ rief meine Mutter. ›Nun kommen wir wieder zu spät!‹
›Ich geh' mit Prue voraus‹, pflegte der Vater zu sagen.
›Und ich geh' auch mit‹, sagte Fanny.
›Nicht, ehe du mir den Schuhknöpfer gefunden hast, Fräulein Hurlebusch,‹ schrie meine Mutter, ›ich weiß genau, du hast ihn gehabt.‹
Fanny zuckte die Achseln.
›Warum hat der Junge nicht Schnürstiefel wie andere Kinder, das möcht' ich wissen‹, meinte Vater unfreundlich.
Und Mutter, blaß vor Aufregung, erwiderte zusammenfahrend: ›Schnürstiefel in seinem Alter! Abgesehen davon, daß er die Schnürbänder zerreißen würde.‹
›Und was ist das dort auf der Kommode?‹ rief Fanny dann plötzlich.
›Aha, natürlich weißt du, wo er ist.‹
›Ich gebrauch' eben meine Augen.‹
›Um eine Antwort bist du nie verlegen, du schlechtes Geschöpf!‹
Fanny zuckte wieder die Achseln und schaute zum Fenster hinaus. Zwischen