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ihn. Malouf. Weil er sie geliebt hatte. Weil er ihn geliebt hatte. Raphael starrte in den Reis, der langsam kalt wurde. Nur dass er keine Ahnung hatte, das konnte der Mann nicht sagen. Das nahm ihm keiner ab. Abwesend tauchte Raphael die Finger in den Teller.

      „Keine Ahnung“, sagte der Mann.

      Raphael musterte ihn nachdenklich. „Sie hatte keine Ahnung“, präzisierte der Mann. Raphael ließ ein Reisbällchen fallen. „Keine Ahnung wovon?“, fragte er lauernd, während er sich Reis aus dem Schritt klaubte.

      „Warte ...“ Youssouf streckte die Hand aus. „Finger weg“, sagte Raphael hart. Wenn man klein war, geschah einem sowas. Nur, wenn man klein war. Plötzlich fühlte er sich vollkommen erschöpft. Verdammt, was sollte das hier werden?

      „Es war ein Traum. Träume sind Schäume“, sagte der Mann unvermittelt. „Ich weiß“, brach es aus Raphael heraus. Youssouf lächelte weise. „Malouf war ein Spinner“, informierte er, bereitwillig, wie zum Trost. „Er wollte Caroline heiraten. Flors Tochter ...“ Raphael verschluckte sich und spie ein paar Reiskörnchen über die Kissen. „Flor hat eine Tochter?“, war alles, was er sagen konnte. Youssouf lachte. Ein paar Leute sahen zu ihnen herüber. „Ich dachte, du bist Polizist ...“

      Raphael ignorierte den Einwand. „Und Flor?“, fragte er scharf. Youssouf lachte noch immer. „Er wusste auch nichts davon. Malouf war feige. Wir haben ihn alle damit aufgezogen.“

      „Wir?“

      „Ich und die anderen, die bei Flor arbeiten. Eines Tages wollte ich es ihm selber sagen, aber Malouf hat gesagt, er bringt mich um“, jetzt lachte er nicht mehr.

      Raphael zog Block und Kuli aus der Innentasche seiner Lederweste und kritzelte drauflos. Das war ja hier ganz großes Kino. „Er hat doch nur Spaß gemacht“, murmelte der Mann. Die anderen, die dichter gerückt waren, pflichteten ihm eilig bei.

      „Eine Morddrohung ist kein Spaß“, knurrte Raphael, während er ungerührt weiterschrieb. Langsam wurden die Leute ihm richtig sympathisch. Er hatte eine Schwäche für ernst zu nehmende Gegner.

      „Wer hat bei Flor gearbeitet in der Nacht zum dreiundzwanzigsten, als Malouf starb?“, donnerte er. Sie tauschten schnelle Blicke. Schließlich ging eine Hand hoch. Dann noch eine. Youssouf. Und dann noch zwei. „Wir haben nichts Ungewöhnliches bemerkt“, sagte einer von ihnen ein bisschen zu professionell. Vielleicht guckte er diese verdammten Fernsehkrimis. Die anderen nickten zustimmend. „Und zur Tatzeit, wer von euch war da noch im Restaurant?“

      „Ich …“ Youssouf, der sich sofort wieder unterbrach und nach Luft schnappte. Vielleicht hatte ihn wer geboxt. Es gab verdammt wenig Überblick, wenn man so weit am Boden war. Raphael schrieb weiter. Was sollte er sonst tun. „… Ich weiß ja gar nicht, wann die Tatzeit war“, sagte Youssouf jetzt. Raphael nickte. Fernsehkrimis. Es waren wirklich ernst zu nehmende Gegner. „Zwischen dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig und null Uhr fünfzehn“, informierte er kühl. Der Notruf war um null Uhr achtzehn eingegangen. Wer ihn abgesetzt hatte, wusste man nicht, aber es musste direkt nach dem Ende der Attacke gewesen sein. Der Mann hatte noch eine Stunde gelebt, nach Auskunft der Pathologin die maximale Überlebenszeit in seiner Lage.

      „So lange müssen wir niemals arbeiten. Flor ist kein Unmensch“, sagte der Typ von eben. Raphael seufzte und schrieb. Das hatte er schon mal irgendwo gehört. Sie waren ziemlich clever. Er sah auf. Vielleicht hatten sie einfach nur furchtbare Angst.

      Mit jovialer Geste steckte er sein Schreibgerät wieder ein. „Genug für heute. Ich muss das ja alles noch abtippen“, sagte er und beobachtete, wie sich ihre stecknadelkopfgroßen Pupillen trotz der Sommersonne ein bisschen weiteten. Er lächelte. Good cop, bad cop. Es war lange her, aber er konnte es noch.

      Sie entspannten sich. Der Mann mit dem Bier hatte eine Gitarre geholt und begann leise zu spielen. Blues, die afrikanische Art. Träume von Timbuktu. Er sang mit geschlossenen Augen. Raphael verstand nicht die Worte, aber den Sinn, den verstand er. Ab und zu hielt der Musiker inne und nahm einen Schluck. Dann spielte er weiter. Auch Raphael schloss die Augen. Die Weise perlte über das Wasser wie eine Sommerbrise. Wie eine Liebkosung.

      „Vielleicht hätte es geklappt“, sagte Youssouf nachdenklich. „Er war klug. Er war schön ...“, er brach ab. „Sie ist so eine dämliche Kuh.“

      Raphael riss die Augen auf. Da war aber einer mächtig eifersüchtig. Fragte sich bloß, auf wen. Auf Caroline? Auf Malouf? Konnte man auf Tote eifersüchtig sein? Konnten Tote eifersüchtig sein? Er ballte die Fäuste, als er merkte, wie die Gedanken ihm wieder zu entrinnen begannen.

      Plötzlich lag Youssoufs Hand auf seiner. Raphael zuckte zurück, aber dann sah er Youssoufs Augen. Er lockerte die Fäuste. „Allah liebt dich“, hörte er den hageren Mann leise sagen. „Allah hilft uns. Vergiss das nie.“ Ein paar Leute murmelten zustimmend. Es klang fast wie eine Beschwörung. Wie ein Gebet. Er fuhr sich über das Gesicht. Bestimmt hatten sie ihm was in den Tee getan. Oder in den Reis.

      Oder auch nicht.

      Langsam dämmerte es ihm: Er trank nicht und er war beschnitten und sie hatten eins und eins zusammengezählt.

      Sie hatten sich verrechnet. Zu seinen Gunsten verrechnet. Nur ein Idiot würde das nicht ausnutzen.

      Raphael starrte auf die Zahlenreihe, die sich über seine Fingerknöchel zog.

       Großvater war schon eine Weile tot gewesen, als der Geschichtslehrer eines Tages von den eintätowierten Häftlingsnummern erzählt hatte, an denen man die Überlebenden der Konzentrationslager erkannte. Als Raphael es zu Hause erwähnte, sprachen die Eltern drei Tage lang nicht mehr mit ihm. Er hatte sich dann auch eine Nummer stechen lassen. Die Telefonnummer eines Mädchens, mit dem er damals ging. Es war krank, aber er hatte nicht anders gekonnt. Er war so verdammt wütend gewesen. Und so abgrundtief traurig. Und so heillos allein.

      „Wir sind Juden“, sagte er schlicht.

      Es klang komisch. Es hatte ihm nie etwas bedeutet. Es bedeutete ihm auch jetzt nichts, außer, dass es die Wahrheit war.

      „Oh“, sagte das Mädchen. Die anderen sagten nichts.

      „Allah liebt dich trotzdem“, beschloss Youssouf. Raphael lächelte höflich. Er kramte nach einem Kärtchen. „Wenn euch noch was einfällt ...“ Love hurts. Er wollte nach Hause. Nur noch nach Hause.

      Er verstand nicht gleich, woher das Blut kam, das auf das Kärtchen tropfte. Als einer ihm Klopapier auf die Stirn drückte, fiel es ihm wieder ein. Er hätte doch Fannys Pflaster benutzen sollen. Shit. Fuck. Sorry. Sie fragten, woher er die Platzwunde hatte, und er sagte es ihnen.

      Sie nickten anerkennend. Es klang verwegen. Verwegen ehrlich.

      Sie brachten einen Verbandskasten. Kaum zu glauben, dass sie hier sowas hatten. Kaum zu glauben auch, was darauf stand, in ernsthafter Druckschrift, die unter dem alten Klebefilm zerlief. Trotzdem gab es keinen Zweifel. Raphael schluckte. Es war eindeutig. Da stand: Werner Huysmans.

       Protokoll Zeugenaussage Werner H. folgt.

      Mechanisch begann er den Kasten zu öffnen, weil keiner etwas unternahm. Es war ein Autoverbandskasten, lange abgelaufen. Raphael kramte ein einzeln verpacktes knittriges Pflaster heraus und begann das Papier zu lösen. Amina nahm ihm das Pflaster aus der Hand. „Erst sprayen“, sagte sie, „Augen zu!“ Raphael gehorchte und fühlte, wie etwas Kühles seine Stirn benetzte, das nach Krankenhaus roch. Er machte die Augen wieder auf und beobachtete, wie das Mädchen seine Wunde bepflasterte. Hatte er eben Amina gedacht? Verdammt.

      „Wer ist Werner Huysmans?“, fragte er hart. Das Mädchen zuckte die Schultern und zeigte ihm einen in Plastikfolie gesteckten Zettel, der in dem Kasten gelegen hatte: „Sprayen – Verbinden – Beobachten. Werner“, stand darauf. In Englisch, Französisch und Deutsch. Und ein Smiley. „Ein Arzt?“, vermutete sie.

      Vorsichtig

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