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SchriftZüge 14 eBook. Thomas Frick
Читать онлайн.Название SchriftZüge 14 eBook
Год выпуска 0
isbn 9783754924389
Автор произведения Thomas Frick
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Издательство Bookwire
Emil und seine Mutter verkrochen sich im Keller einer Ruine. Sogar eine Matratze hatte er besorgt. Er tauchte seine Hände in kalte Asche, nahm Wasser aus einem Eimer dazu und verschmierte das Gesicht seiner Mutter und ihre Haare. Grau und dreckig sollte sie aussehen, unappetitlich. Aber am nächsten Tag fanden die Soldaten sie, seine Mutter und ihn. Emil zählte fünf. Er versteckte sich hinter einer Mauer, während sie seine Mutter ...
Jedes Gesicht merkte er sich. Jedes dieser russischen Gesichter. Seine Mutter konnte sich nicht wehren, weinte nur noch leise. Das war jetzt über ein Jahr her. Mutter redete nicht mehr, sang keine Lieder mehr, streifte nicht mehr mit ihm durch die Natur, um ihm alles über Wildkräuter und Sträucher zu zeigen. Sie lag nur noch da.
Emil beobachtet den Übergang am Brandenburger Tor. Da beginnt der russische Sektor. Eine Soldatin regelt den Verkehr. Streng sieht sie aus. Mit einem Dutt. Emil muss sich unsichtbar machen. Auf der anderen Straßenseite stehen einige Iwans, acht oder neun. Sie lachen laut. Als eine Frau mit zwei Kindern die Straße überquert, schließt er sich ihr an. Er bleibt bei den Russen stehen, sie beachten ihn nicht. Er bietet ihnen seine Feldflasche an, aber sie jagen ihn weg.
Dann eben nicht. Es ist sowieso keiner von seinen Russen dabei.
Er geht die Linden entlang, weiter in den Osten rein, auf der Suche nach passenden Soldaten. „Nein, den lass ich leben“, überlegt er. „Den Übernächsten aber spreche ich an, ganz bestimmt.“
Doch auch ihn lässt Emil am Leben. „Hier sind zu viele Zivilisten“, denkt er. Sein Herz klopft. Er setzt sich auf einen Trümmerhaufen, beobachtet die Vorbeigehenden und die Fahrzeuge. Die Straßen sind jetzt frei geschippt, die Bombentrichter auf den Fahrdämmen zugeschüttet und geebnet. Löwenzahn treibt seine Blätter durch Schutt und Ritzen. Wie schön die gelben Blütenköpfe in der Abendsonne leuchten. Nein, er pflückt sie nicht. Nein. Auch wenn er Hunger hat. Aber einige junge Blätter entfernt Emil, wischt den Staub darauf an seiner dreckigen Hose ab und kaut sie genüsslich. Die Blätter schmecken herb und bitter. Jemand zeigt auf ihn. Keine Ahnung, was der will. Emil steht auf und geht in eine Seitenstraße. Hier war er noch nie, kennt sich nicht aus. Sieht sich um, keiner ist ihm gefolgt. Er ist bereit, bei jedem verdächtigen Verfolger in das schützende Dunkel der Ruinen zu springen.
Dämmerung legt sich über den Osten. Grau in Grau versinkt die Stadt. Emil überlegt, was er tun soll. Er muss zurück in den Westen zu seiner Mutter. „Aber ich habe es geschworen!“, sagt er zu sich selbst und drückt die Feldflasche an sich. In einigen Fenstern der zertrümmerten Häuser sieht er Petroleumlampen flackern. In der Ferne spielt ein Akkordeon. Zivilisten sind kaum auf der Straße. Emil kommt an einer Reihe Fenster vorbei, schwach beleuchtet sieht er im Innern Soldaten mit Frauen tanzen, Russenliebchen, wie die Leute sie nennen. Eng umschlungen kommt ein Pärchen aus dem Tanzlokal. Sie wiegen sich in den Hüften. Das Akkordeon wird schneller. Emil drückt die Nase an die Fensterscheibe und sieht zwei Russen, die aus der Hocke die Beine vor und zurückwerfen, dann geht der nächste in die Hocke. Wie geschickt sie tanzen! Schweiß tropft von der Stirn des Akkordeonspielers. Jemand packt Emil von hinten und schleppt ihn ins Lokal.
„Mal’chik! Mal’chik!“, brüllen alle und klatschten in die Hände.
Die Musik spielt. Emil grinst schief, einer nimmt ihm die Feldflasche ab, riecht am Muckefuck, probiert, reicht die Flasche weiter, spuckt aus, ein anderer geht in die Hocke und fordert Emil zum Tanz heraus.
Emil macht mit. Die Russen klatschen im Takt und feuern ihn an. Er kippt auf den Boden, lacht, wird hochgehoben und auf den Tisch gestellt. Seine Feldflasche macht weiter die Runde. Dann sieht er in der Ecke, wie drei oder vier von ihnen, sich über eines der Russenliebchen hermachen. Sie versucht, sich zu wehren. Keiner hilft ihr. Emil denkt an seine Mutter. Springt vom Tisch, reißt einem der Russen seine Feldflasche aus der Hand, als der gerade daraus trinken will und rennt hinaus. Rennt, rennt, rennt.
Außer Atem steht er irgendwo zwischen den Ruinen. Er schüttelt die Flasche. Fast leer. Wie viele waren es, die getrunken haben? Genug?
Er schüttet den Rest des Muckefucks auf den Boden. Eine Pfütze bildet sich. Emil wischt sich Tränen aus dem Gesicht, als ihn etwas Feuchtes anstupst. Es ist ein dürrer, klappriger, verlauster, hungriger Hund. Emil streichelt ihn, fühlt den warmen Körper. Gemeinsam schlafen sie in den Trümmern ein.
Drei Tage hat Emil den Paul nicht gesehen. Sie treffen sich wieder am Lietzensee.
„Und?“, fragt Paul. „Warste drüben? Haste ein paar Russen kaltjemacht?“
Emil zuckt mit den Schultern und legt sich in die Sonne.
„Erzähl doch mal, wie war´s im Ostsektor?“
„Da liegt der Hund begraben“, sagt Emil und denkt an den Streuner, der am Morgen tot in seinem Arm lag. Er hatte wohl die Reste aus der Pfütze aufgeschleckt.
„Hier. Lies mal.“ Paul reicht Emil die Abend-Zeitung.
„Die suchen nach ’m Mörder drüben, steht da. Der soll acht Russen mit Muckefuck vajiftet haben, nur eener hat überlebt. Da war wohl jemand schneller wie du. Sei nich traurig, dit nächste Mal schaffste dit ooch. Kommste mit zu mir? Ick hab echten Nescafé vom Ami. Schmeckt aber nich so jut wie dein Muckefuck.“
Heidi Ramlow arbeitete drei Jahrzehnte lang als Drehbuchautorin und Regisseurin für Erfolgsserien in ARD und ZDF (“Ehen vor Gericht”, “Verkehrsgericht“). 2015 gründete sie mit schwedischen und polnischen Autoren das Netzwerk »Grenzenlose Autoren«. 2019 wurde ihr Krimistück „Blutroter Waschgang“ im Berliner Kriminaltheater uraufgeführt.
Sie ist Mitglied im Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, bei den Mörderischen Schwestern, beim Syndikat und im LKB.
Aus der Laudatio von H. P. Röntgen, Juryvorsitzender, zum Gewinnertext von Heidi Ramlow
Die Erzählung ist ein Krimi, eine Jugendgeschichte, eine Nachkriegserzählung, wunderbar geschrieben, über einen Jungen, der in einer harten Zeit erwachsen werden will, über Rache und die Suche nach Gerechtigkeit.
Elisabeth Richter - Triff mich
Es gibt kein Foto von ihm, vielleicht ist dies der Grund, lange hinzuschauen und die mageren Auskünfte zu entschlüsseln, vielleicht ist es der Stallgeruch, den ich zu erkennen glaube. Er spricht Englisch und Französisch, er wird aus dem Westen sein, was zunächst nichts in mir auslöst, und doch bringen seine Sprachkenntnisse etwas in mir zum Klingen, und mir fallen die vielen falsch gesetzten Akzente in unserer Zeitung ein, die mich ärgern, und die Aufschrift auf dem Schirm einer Crêpes-Bude in der Stadt: „Crepés“ steht da zu lesen, und ich denke jedes Mal an das Wort „krepiert“ und verzweifle.
Der Mann bezeichnet sich sehr allgemein als selbstständig, verschweigt Beruf und Kinderzahl, gibt aber seine Religionszugehörigkeit preis, evangelisch, und sein Sternzeichen, Zwillinge. Immerhin ist zu erfahren, dass er 50 Jahre alt ist und groß, über 180 Zentimeter, und dass er braune Augen hat, wie schön, und dunkle Haare. Ich mag Haare, ich bin abhängig von Haaren auf Männerköpfen, damit sich in mir der Wunsch regen kann, hineinzufassen und weiter zu tasten, Stirn und Lippen und Hals.
Mich in dieser Partnerbörse anzumelden, war ein Impuls, der nach monatelangem Alleinsein wie eine Luftblase an die Wasseroberfläche trieb und zerplatzte. Ich füllte voller Eifer alle Fragen aus, als würde diese Gewissenhaftigkeit belohnt – gehen Sie gern ins Kino, welches sind Ihre Lieblingsbücher, welche drei Dinge würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen – und stellte ein Porträtfoto von mir ein, ein Foto, das mein letzter Freund vor einem Jahr von mir gemacht hatte, am Ufer der Elbe, ich stehe barfuß im Sand, aber das sieht man auf dem Foto nicht, man sieht auch nicht, dass ich mich mit dem Freund langweile, man sieht nur, dass ich gegen die Sonne blinzle und lache. Mein Gesicht auf diesem Foto ähnelt sehr wenig der Vorstellung, die ich von mir selbst habe, und darum finde ich es erträglich.
Nun stehe