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China – ein Lehrstück. Renate Dr. Dillmann
Читать онлайн.Название China – ein Lehrstück
Год выпуска 0
isbn 9783748520610
Автор произведения Renate Dr. Dillmann
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Neben der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft existiert eine lebhafte Handelstätigkeit. Gehandelt werden Salz und Tee, Reis aus den südlichen, Baumwolle aus den angrenzenden nördlichen Provinzen sowie viele regionale Spezial- und Handwerksprodukte; Porzellan, Baumwollstoffe und Tee werden teilweise in großen Manufakturen hergestellt. »Allein in Nanjing standen mehr als 30.000 Webstühle.« (Schmidt-Glintzer 2007: 125) Die Waren werden über große Wasserstraßen oder per Küstenschifffahrt transportiert. Ein englischer Beobachter notiert, dass der Umschlag in Shanghai um 1840 größer ist als der des Londoner Hafens, der damals als Zentrum des Welthandels gilt.
Politökonomisch ist das China des beginnenden 19. Jahrhunderts damit eine Gesellschaft, in der Produkte über den unmittelbaren Bedarf hinaus verbreitet als Waren hergestellt werden. Das System der Naturalsteuern ist bereits seit dem 13. Jahrhundert durch Umstellung auf Geldsteuern abgelöst, Geldverkehr auch auf dem Lande allgemein üblich – alle Dörfer ordnen sich Marktflecken zu, in denen die staatliche Verwaltung ihre Steuern erhebt. Kaufleute bereichern sich durch landesweit organisierten Verkauf ihrer Waren, es gibt Ansätze kapitalistischer Warenproduktion in Manufakturen und – neben der bäuerlichen Schuldenwirtschaft – erste Formen eines auf Handel und Produktion bezogenen Kredits (Banken ersetzen den für Verlust und Raub anfälligen Transport von Silber durch Schecks). Im Unterschied zu Westeuropa, wo aus einer ähnlichen Ausgangslage die kapitalistische Produktionsweise entsteht, bleiben diese Phänomene in China allerdings Randerscheinungen. Trotz des Vorhandenseins »eines technisch reifen Handwerks« und »industriekapitalistischer Betriebe von z.T. beträchtlichem Umfange« findet der Übergang von einer auf Geld basierenden Warenwirtschaft zu einem kapitalistischen Akkumulationsprozess nicht statt – die industriekapitalistischen Unternehmen bleiben »Oasen in einem Meere, dessen Grundströmung nach einer durchaus anderen Richtung drängte« (Wittfogel 1931: 607). Anders gesagt: Im Unterschied zu Europa schaffen es die chinesischen Besitzer von bereits kapitalistisch produzierten Geldvermögen nicht, ihre Art der Reichtumsproduktion zu verallgemeinern und zum letztlich herrschenden Produktionsverhältnis zu machen. Gründe dafür liegen in Besonderheiten der »ostasiatischen Produktionsweise« (Marx 1857/58: 377) und des chinesischen Staatswesens.
Geografische und klimatische Besonderheiten machen in Asien fast die gesamte Agrikultur abhängig vom Wasserbau – und zwar in doppelter Hinsicht: Flüsse müssen eingedämmt werden, da sich in bestimmten Jahreszeiten (Gletscherschmelze und Monsunregen treffen zusammen) verheerende Hochwasser über die fruchtbaren Landesteile ergießen; andererseits ist Regenfeldbau nur sehr beschränkt möglich. Was als Kulturfläche genutzt werden soll, muss künstlich bewässert werden. Beides erfordert die Zusammenfassung materieller Mittel und Arbeitskräfte und bildet seinerseits die Basis zur Ausbildung von Staatlichkeit. Seit etwa 200 v.Chr. existiert in China ein solches herrschaftliches Kommando über ein ausgedehntes Territorium.1 Das frühneuzeitliche Europa bewundert als chinesische »Hochkultur«, was darüber an Größe und staatlicher Potenz zustande kommt ebenso wie an wissenschaftlichen und technischen Leistungen. Auch heute beginnen viele Abhandlungen, die sich mit China befassen, gerne mit Reminiszenzen an diese »große« Vergangenheit des Landes. Eben dieses chinesische Staatswesen wirkt andererseits als Schranke.
Die chinesischen Herrscher entwickeln kein besonderes Interesse an einer Förderung der ökonomischen Unterteilung ihrer Gesellschaft, die mit Handel und Gewerbe zu tun hat. Beides wird sogar mit hohen Steuern belegt.2 Während die europäischen Regenten in den ökonomischen Potenzen der Handels- und Geldkapitalisten ein interessantes Mittel für sich und ihre politischen Expansionsabsichten entdecken und sich im Merkantilsystem zu dem Standpunkt vorarbeiten, dass die systematische Förderung abstrakter Reichtumsproduktion und die Bereicherung durch Außenhandel für ihre Staatskassen vorteilhaft ist, sehen die chinesischen Kaiser ihre Lage anders. Sie verfügen bereits über ein ausgedehntes Territorium, das ihnen genügend Ressourcen zur Machtentfaltung nach innen abwirft, dazu eine Hauptstadt und einen Hof, die über Jahrhunderte hinweg weltweit ohne Pendant sind. Ihr ökonomisches Mittel besitzen sie in der Besteuerung einer (wachsenden) bäuerlichen Bevölkerung, die sie mit ihrer Beamtenschaft organisieren. Nach außen versuchen sie, ihre Herrschaft mit dem Bau gigantischer Schutzmauern gegen die aus dem Norden anstürmenden Reitervölker zu sichern; die meisten Anrainer (Vietnam, Korea, Japan etc.) erkennen die Oberherrschaft des riesigen Reichs an und leisten Tributzahlungen sowie ihren Kotau vor dem chinesischen »Sohn des Himmels«.Die Sicherung dieses Reiches soll durch weitere Expansionen – einen Standpunkt, den die chinesischen Herrscher selbstverständlich auch kennen und in der Vergangenheit erfolgreich praktiziert haben – nicht gefährdet werden. So befiehlt der zweite Kaiser der Ming-Dynastie, das durchaus erfolgreich verlaufende Projekt einer chinesischen Exploration der Welt abzubrechen und mit der Demontage der gesamten, unter Aufbringung riesiger gesellschaftlicher Mittel gebauten Flotte wieder zu beenden.3
Als entscheidendes Mittel dieser Herrschaft funktionieren die kaiserlichen Beamten. Sie erheben Steuern und Zölle und sorgen für die Umsetzung der herrschaftlichen Anweisungen (z.B. Deich- und Kanalbau, Anlage von Getreidevorräten usw.). An den kaiserlichen Hof müssen sie festgesetzte Summen abführen; der Rest steht ihnen zu ihrer eigenen Verfügung. Diese mit dem Amt installierte Lizenz zur persönlichen Bereicherung sichert dem »Sohn des Himmels« die Treue seiner Mandarine; für die moralisch nicht ganz integren Figuren unter ihnen wirkt sie als Antrieb, die ihnen anvertrauten Provinzen auszuplündern und Widerstand entsprechend hart niederzuschlagen. Die Ämter werden durch ein über Jahrhunderte hin ausgeklügeltes Prüfungssystem vergeben, sind also nicht erblich. Diese Regelung und die Verschickung der ausgewählten Beamten in heimatferne Provinzen sollen einerseits Nepotismus, vor allem aber dem Aufbau konkurrierender Machtzentren vorbeugen. So sorgt der Umstand, dass in diesem System Reichtumserwerb an politische Macht gekoppelt ist und letztlich von der Lizenz des kaiserlichen Hofs abhängt, dafür, dass keine gesellschaftlich relevante freie, weil über eigene ökonomische Mittel verfügende Klasse entsteht.Das, was sie aus ihren Ämtern an privatem Reichtum zusammenschachern, verwenden die Beamten in den allermeisten Fällen, um in Grundbesitz zu investieren, der ihren Familien zuverlässig als Reichtumsquelle dienen soll – so bleiben Hof, Beamtenschaft und grundbesitzende Klasse personal- wie interessenidentisch. (Vgl. de Beauvoir 1960: 264)
Zur damit erzeugten politischen Stabilität (negativ konnotiert: Stagnation) trägt im kulturell-religiösen Überbau der chinesischen Gesellschaft auch bei, dass die chinesischen Herrscher die Vergabe der Ämter so organisieren, dass damit gleichzeitig eine landesweit einheitliche, dem Inhalt nach konservative Kultur und Moral durchgesetzt wird. Wichtigste Prinzipien der konfuzianischen Ethik sind die Gebote, das Althergebrachte zu ehren und der (väterlichen) Autorität in Familie und Staat bedingungslos zu gehorchen. Sämtliche Anwärter auf kaiserliche Beamtenstellen müssen in einer Reihe von Prüfungen, die örtlich (von den Dörfern über die Provinzhauptstädte bis zu den letzten Prüfungen in Beijing) und nach Schwierigkeitsgraden gestaffelt sind, Kenntnisse der Schriftzeichen, der chinesischen Literatur und der konfuzianischen Philosophie in ihrer jeweils gültigen, d.h. den aktuellen Herrschaftsbedürfnissen angepassten Deutung, nachweisen.4In ihrem Alltag ergänzen fast alle Chinesen die konfuzianische Morallehre durch althergebrachte abergläubische Vorstellungen und buddhistische Ideen, die seit dem 1. Jahrhundert nach China einsickern, ohne jemals den Rang eines offiziellen Staatskults zu erlangen – ebenso wenig wie das Christentum, das trotz gewaltiger Missionsbemühungen der christlichen Kirchen im 17. und 18. Jahrhundert marginal bleibt.
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