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eine überraschende Erfahrung gemacht: Es gibt nicht nur „verschämte Arme“ sondern auch „verschämte Aufsteiger“. Ich habe mir bei sehr bekannten Aufsteigern viele Körbe geholt. Bei manchen Top-Entscheidern in Wirtschaft und Politik und bei manchen Spitzenwissenschaftlern sitzt die Furcht tief, als Außenseiter und Emporkömmling zu gelten, wenn ihre soziale Herkunft oder die Mühen ihres Aufstiegs bekannt werden. Einige Vorbilder haben ihre Zusagen zu einem Porträt nicht eingehalten, nachdem sie mein kleines Gesprächsdrehbuch mit den mir besonders wichtigen Fragen erhalten haben. Sie hat der Mut verlassen, ein Vorbild zu sein. Es stimmt nachdenklich, wenn Vorstandsvorsitzende von Weltunternehmen am liebsten verschweigen, dass sie aus einfachen Verhältnissen oder aus einer ehrbaren Handwerkerfamilie stammen. Und man fragt sich schon, was die Sonntagsreden einiger Spitzenpolitiker zum „Aufstieg durch Bildung“ wert sind, wenn sie im Gegensatz zu Gerhard Schröder ihren Werdegang für strikt privat erklären, obwohl sie selbst ein Paradebeispiel für Aufsteiger abgeben. Derartige Parvenue-Phobien passen nicht zur Propagierung des Aufstiegs durch Bildung und Leistung.

      Vielleicht denken manche Leser nach der Lektüre dieses Buches, dass die porträtierten Aufsteigerinnen und Aufsteiger Ausnahmen von der Regel einer „geschlossenen Gesellschaft“ sind. Dann jedoch ist die Frage umso spannender, was Menschen befähigt, die Türen aufzustoßen und aufzusteigen. Mich hat die Arbeit an diesem Buch davon überzeugt, dass die deutsche Gesellschaft bei weitem nicht so geschlossen ist, wie sie in manchen Medien und von einigen Wissenschaftlern abgebildet wird, sondern viele Chancen bietet. Eine Illusion? Dieser Frage geht das Schlusskapitel nach.

      Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt hat mir manche Tür geöffnet. Dafür danke ich ihm ebenso wie Hans-Olaf Henkel und den anderen Porträtierten, die mir gezeigt haben, dass man vieles erreichen kann, wenn man an sich glaubt. Bitte überzeugen Sie sich.

      Zwischen Absteigerrepublik

      und Aufsteigerrepublik

      Wohin steuert Deutschland?

      Als der Soziologieprofessor Michael Hartmann 2002 die Ergebnisse seiner Erforschung der Spitzenkarrieren in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft präsentierte und sie unter dem provozierenden Titel „Der Mythos von den Leistungseliten“ veröffentlichte, saß der Schock tief. Hartmann hatte die Lebensläufe promovierter Ingenieure, Juristen und Wirtschaftswissenschaftler der Promotionsjahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985 − insgesamt 6500 Personen – unter die Lupe genommen und den fast schon zur Gewissheit gewordenen Glaubenssatz erschüttert, der Weg bis in die Spitzen der Wirtschaft und der Gesellschaft führe allein über Bildung, Anstrengung und Leistung.

      Aufstieg durch Leistung statt durch Privilegien und Herkunft war nicht nur das Credo der aus Arbeiterbildungsvereinen hervorgegangenen Sozialdemokratie, sondern aller Parteien im Deutschen Bundestag gewesen. Die Aufstiegsperspektive war eines der Kernversprechen der Sozialen Marktwirtschaft. Sie galt als Beweis einer trotz aller sozialen Gegensätze gerechten Ordnung, denn damit konnte doch jeder seines eigenen Glückes Schmied werden.

      Hartmann hatte herausgefunden, dass das Sprichwort für die Topetagen der Wirtschaft nicht galt und für die Justiz nur mit Einschränkungen zutraf. Am häufigsten fanden sich noch „Glücksschmiede“ in der Wissenschaft und in der Politik. Er hatte den Glauben widerlegt, die Rekrutierung der Eliten erfolge vorrangig anhand der individuellen Leistung. Zugleich hatte der Forscher reichlich Wasser in den Wein der Bildungspolitiker gegossen. Sie hatten erwartet, die Bildungsexpansion würde nicht nur den Zugang zu höher qualifizierenden Bildungsgängen erleichtern, sondern auch den Aufstieg in Elitepositionen. Dies bestätigten Hartmanns Untersuchungen nicht.

      Der Darmstädter Professor fand außerdem heraus, dass neben der Leistung noch etwas anderes über eine Spitzenposition in Großkonzernen und an den Bundesgerichten entscheidet: die richtige Herkunft, die Herkunft aus dem gehobenen Bürgertum und dem Großbürgertum. In den 400 größten deutschen Unternehmen waren die Aussichten auf eine Position im Vorstand oder in der Geschäftsführung bei vollkommen gleicher Qualifikation (Studiendauer, Promotionsalter, Auslandssemester etc.) für Kinder aus dem Großbürgertum durchschnittlich dreimal so hoch wie für Promovierte aus der restlichen Bevölkerung. Für Kinder aus dem Bürgertum waren sie immerhin noch doppelt so gut. Wer von den Promovierten aus dem Haushalt eines leitenden Angestellten kam, hatte sogar eine zehnmal so große Chance, in die erste Führungsebene eines Großkonzerns zu gelangen wie sein fachlich gleich guter Kommilitone aus einer Arbeiterfamilie. Hatte ein Promovierter einen Geschäftsführer oder ein Vorstandsmitglied zum Vater, waren dessen Chan cen auf einen Topjob siebzehn mal besser.

      Hartmann behauptete nicht, die Wirtschaftselite sei keine Leistungselite. Die Nieten-in-Nadelstreifen-Polemik sei, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, sogar unsinnig. Aber Leistung allein öffne nicht den Weg in die Elite.

      Wer es in der Wirtschaft nach oben schaffen will, muss aus dem gehobenen Bürgertum oder dem Großbürgertum stammen, lautet Hartmanns Erfahrungssatz. Doch wie kommt es zur„Gnade der richtigen Geburt“ als wichtigstes Selektionskriterium für Top-Manager? Hartmann erläutert dies anhand der von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu7 herausgefundenen „feinen Unterschiede“, dem milieubedingten Habitus eines Kandidaten. Wer in die Vorstände und Geschäftsführungen großer Unternehmen will, muss sich ähnlich verhalten wie diejenigen, die dort schon sitzen. Er muss den gleichen „Stallgeruch“ haben, die Dress- und Benimmcodes beherrschen, über eine breite bildungsbürgerliche Allgemeinbildung verfügen, unternehmerisch denken, vor allem aber persönliche Souveränität ausstrahlen, keine mühsam antrainierte, sondern eine durch das Aufwachsen in einer großbürgerlichen Familie ganz nebenbei erworbene Souveränität. Nun kann man mit dem Kolumnisten und Hannoveraner Sozialwissenschaftler Holger Rust sagen, die Wirklichkeit tanze der Statistik mit ungezählten Einzelfällen auf der Nase herum. Trotz der Mutmaßung, dass Spitzenpositionen durch „soziale Adoption“ vergeben würden, seien letztlich alle Herkunftsmilieus vertreten. Aber solche Einwände fechten Hartmann nicht an. Klaus Kleinfeld, dessen Vater sich vom Arbeiter zum Betriebsingenieur hoch gearbeitet hat, und der selbst Heinrich von Pierer als Siemens-Chef folgte, zählt ebenso wie BMW-Chef Norbert Reithofer, der in einem Metzgerhaushalt groß wurde, für Hartmann zu den Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Nur zwischen 13 und 16 Prozent schaffen es nach seinen Forschungsergebnissen auch ohne den richtigen „Stallgeruch“ in das Topmanagement. Erlernen könne man vielleicht Dress- und Benimm-Codes, beim bildungsbürgerlichen Wissen werde es schwierig, der selbstverständliche Umgang mit diesem Wissen gelinge kaum. Schon das Gefühl, ein Manko zu haben, sorge für Unsicherheit.

      Die Regel sieht für Hartmann so aus: Die deutsche Wirtschaftselite rekrutiert sich seit Jahrzehnten zu über vier Fünfteln aus dem Bürger- und Großbürgertum. Ungefähr jeder zweite Spitzenmanager kommt aus dem Großbürgertum. Ein weiteres Drittel stammt aus dem Bürgertum und nur 15 Prozent kommen aus der Arbeiterschaft und den Mittelschichten, zu denen 96,5 Prozent der Bevölkerung zählen. Hartmanns Fazit: eine geschlossene Gesellschaft.

      Geschlossen auch hinsichtlich der Geschlechter. Frauen haben in dieser Elite immer noch den Status von Paradiesvögeln, denn die deutschen Eliten sind männlich. Allerdings hat sich der Anteil der Frauen in Elitepositionen zwischen 1981 und 1995 von drei auf dreizehn Prozent erhöht. Aber diesen Zuwachs führt Hartmann fast ausschließlich auf die Politik und von ihr stark beeinflusste Sektoren zurück.

      Eine umfangreiche Studie, die ein Team der Wirtschaftsuniversität Wien unter der Leitung von Professor Wolfgang Mayrhofer über die Karrierewege deutschsprachiger Manager8 anfertigte, kam zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie Hartmann.

      Trotz der Symbolkraft der Elite und den in ihr vertretenen Ausnahmen reichen diese nicht aus, um eine Gesellschaft insgesamt als durchlässig oder undurchlässig, als Abstiegs- oder Aufstiegsgesellschaft zu beurteilen. Hartmann zögert angesichts dürftiger Daten, der deutschen Nachkriegsgesellschaft insgesamt ein Etikett aufzukleben. In den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren nach seiner Auffassung soziale Aufstiege vor allem in Berufen leichter, für die, wie für den Journalismus, keine formalen Zugangsvoraussetzungen galten, weil der Krieg große Lücken gerissen hatte und Millionen Flüchtlinge einen neuen Start versuchen mussten. In der Politik habe es deutlich mehr soziale Aufstiege als heute

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