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1996 ist die katholische Schwangerenberatung ein Streitfall zwischen Kirche und Politik, weil die "Vorläufigen Bischöflichen Richtlinien" für die Beratungsstellen zum Teil weit über das Gesetz hinausgehen. So darf die Caritas keine Bescheinigung ausstellen, "wenn sich die ratsuchende Frau nicht auf eine Beratung im oben genannten Sinne (der katholischen Kirche, deren Dogma Abtreibung verbietet/d. A.) eingelassen hat". Zum zweiten kann sie abgewiesen werden, wenn die Beratung "wegen eines bestehenden Zeitdrucks nicht möglich ist", die Schwangere also erst kurz vor Ablauf der Abtreibungsfrist zur Caritas kommt.

      Das Ergebnis ist bekannt. Aus dem obersten Glaubenswächter, Kardinal Joseph Ratzinger wurde inzwischen Papst Benedikt XVI., der am 28. Februar 2013 von seinem Amt zurücktrat, und der droht allem Abtreibungsbereiten mit dem Fegefeuer in der Hölle. Im Mittelalter verbrannte die Kirche Hexen und heute? Ja, es war immer schon ein Kreuz mit der Abtreibung und der Anwendung des § 218. Den Höhepunkt erreichte der Streit aber in der Bundesrepublik mit den sogenannten Memminger Prozess.

      Prozess von Memmingen

      Der Memminger Prozess fand von September 1988 bis Mai 1989 vor dem Landgericht Memmingen gegen den Arzt Horst Theißen wegen Schwangerschaftsabbruch statt. ...

      Der Monster-Prozess von Memmingen, wo die Strafjustiz einen Frauenarzt und 156 Patientinnen wegen angeblicher Verstöße gegen den Paragraphen 218 verfolgt, erinnert Sozialdemokraten, Grüne und Liberale an die Zeiten von Hexenverfolgung und Inquisition. Mit abschreckenden Justizaktionen wollte die Münchner CSU-Regierung in Bayern eine Art Gebärzwang für Schwangere durchsetzen und die soziale Indikation mit Hilfe willfähriger Richter aushebeln.

      Draußen tanzte eine buntscheckige Schar von Frauen aus der ganzen Bundesrepublik durch die mittelalterliche Stadt, von fremdartigen Rhythmen begleitet, mit Ketten um den Leib, mit ausgestopften Bäuchen, Christuskreuze hinter sich herschleifend. Alles Hexen?

      Jedenfalls protestierten die rund 1700 Frauen, aufgerufen unter anderem von der SPD und den Grünen, gegen die "Hexenverfolgung von Memmingen" und gegen die in der Schwabenstadt praktizierte "moderne Inquisition", wie Bayerns damaliger SPD-Vorsitzender Rudolf Schöfberger befand.

      Der Protest richtete sich gegen die Verfolgung Hunderter von Frauen, die in den letzten Jahren abgetrieben hatten, und gegen den damaligen Abtreibungsprozess gegen den Memminger Gynäkologen Horst Theissen.

      Mehr als 150 verurteilte Frauen - diese Memminger Zwischenbilanz kam, angesichts der bayrischen Statistik, die für 1986 nur drei Verurteilungen von Frauen wegen Vergehen gegen den Paragraphen 218 ausweist, selbst dem Sprecher des bayrischen Justizministeriums merkwürdig vor. Das wirke, sagte Hans-Peter Huber, "schon etwas aufgebläht".

      Die protestierenden Frauen sehen in den Memminger Massenverurteilungen ein "Exempel" und ein "Pilotprojekt", wie die Grünen-Landtagsabgeordnete Margarete Bause bei der Demonstration urteilte. Ursula Pausch-Gruber, Vorsitzende der bayrischen SPD-Frauen, hält den Prozess für die "Begleitmusik zu den gesetzgeberischen Vorhaben" der Bayern in Bonn, die FDP-Bundestagsabgeordnete Hildegard Hamm-Brücher spricht von "politisch motivierten Prozessen".

      Durch die Prozesse und die Proteste ist Memmingen zum zentralen Austragungsort für eine neu entflammte Abtreibungsdiskussion geworden. Die Atmosphäre in dem Allgäu-Städtchen - 39 000 Einwohner, zwei Drittel Katholiken - erinnert Kritiker bereits an dunkle Stellen in der Stadtgeschichte, als noch die stramme und für viele Delinquenten tödliche "karolingische Halsgerichtsordnung" galt. Für leichtere Fälle stand im Rathaus ein hölzerner Pranger bereit, der vom Standgericht häufig und gerne gebraucht wurde.

      Auch etliche Hexen und Hexer wurden in Memmingen verbrannt, wenn auch laut Heimatpfleger Uli Braun "nicht so epidemiehaft wie in Nördlingen oder Würzburg". Nach einer alten Chronik wurde am 25. April 1656 die letzte Hexe von Memmingen öffentlich mit dem Schwert gerichtet und den Flammen übergeben, weil sie "Menschen und Vieh Schaden zugefügt" hatte.

      Das heutige Memmingen erscheint zumindest der Grünen-Stadträtin Jutta Kühlmuss als "sexualfeindliche Stadt". Die Frau hat Erfahrung: Es gab schrille Tumulte im Rathaus, als die Grüne während einer Marathonsitzung des Stadtrats im April 1985 ihrem Baby Moritz öffentlich die Brust gab. Das katholische Diözesanblatt zürnte ob der "frechen Schamverletzung", die sogleich der "wilden und provozierenden Nacktbaderei" zugeordnet wurde.(Am 10. September. )

      Eine Möglichkeit zu legalem Schwangerschaftsabbruch gibt es in der Stadt nicht, ebenso wenig wie irgendwo sonst im Allgäu. Die Kliniken in Memmingen und Kempten, Füssen und Illertissen lehnen Eingriffe bei Notlagen-Indikation grundsätzlich ab. Die Frauen müssen in weit entfernte Krankenhäuser reisen, nach Augsburg oder nach München.

      Wie aber soll, fragen sich viele in Bayern, eine Frau ihrer frommen Sippschaft oder ihrem Arbeitgeber erklären, dass sie mal eben für drei bis fünf Tage ins Krankenhaus muss? So hat es auch der jetzt angeklagte Frauenarzt Theissen gesehen: "Dann weiß in der ländlichen Umgebung jeder, was los ist. Davor hatten sie eine wahnsinnige Angst."

      Häufig hatte Theissen es mit Frauen zu tun, deren Notlage bedrückend war – zum Beispiel mit einer 40jährigen türkischen Arbeiterin, die ihren Fall so schilderte: " Mein Mann hat noch keine Arbeitserlaubnis, weil er noch nicht so lange hier ist. Wir haben drei Töchter und leben von dem Geld, das ich verdiene. Ich arbeite Schicht in der Fabrik. Wenn ich nicht zu Hause bin, kümmert sich mein Mann nicht um die Kinder. Er hat sehr großes Heimweh und trinkt sehr viel. Manchmal telefoniert er für über hundert Mark in die Türkei, dann haben wir bis zum Monatsende kein Geld mehr. Als ich wieder schwanger wurde, bin ich zu Dr. Theissen gegangen. Ich habe nicht gedacht, dass das verboten ist, denn bei uns in der Türkei darf man offiziell bis zum dritten Monat abtreiben. Nach dem Koran ist es zwar Sünde, aber ich bin nicht so gläubig. Ich hätte dieses Kind auf keinen Fall kriegen können, denn dann hätte ich meine Arbeit aufgeben müssen. Wenn ich dann vom Sozialamt gelebt hätte, wäre ich sicher bald ausgewiesen worden. Wir wohnen in einer sehr kleinen Wohnung. Ich muss aber beim Ausländeramt nachweisen, dass die Wohnung für uns groß genug ist, sonst bekomme ich keine Aufenthaltsgenehmigung. Wenn ich jetzt noch ein Kind mehr hätte, müsste ich acht Quadratmeter mehr Wohnraum nachweisen. Das heißt, ich bräuchte eine neue Wohnung. Mit vier Kindern und einem Mann, der nicht arbeitet, ist es hier aber so gut wie unmöglich, eine Wohnung zu finden. "

      Sicher ist, dass Theissen, was selbst seine Ankläger einräumen, in jedem einzelnen Fall medizinisch einwandfrei handelte. Er besaß uneingeschränktes Vertrauen und den Ruf absoluter Diskretion. "Der Arzt", so eine Kemptenerin, "war ein Verbündeter der Frauen, der sich auch nicht bereichert hat." Solcher Ärzte wird es in Bayern künftig womöglich noch häufiger bedürfen. In keinem anderen Bundesland wird der legale Schwangerschaftsabbruch so massiv erschwert wie im CSU-Freistaat. In keinem anderen Bundesland zielen Politiker so fanatisch auf eine völlige Abschaffung der Abtreibung wie im erzkonservativen Bayern.

      Stimmung gegen den Paragraphen 218 machte etwa Edmund Stoiber, Straußens damaliger Staatskanzlei-Minister und späterer Ministerpräsident, der die "Morde an ungeborenen Kindern" und den "offensichtlichen Missbrauch der sozialen Indikation" anprangert. Stoiber pflichtete auch dem Fuldaer Bischof Johannes Dyba bei, der von einem "Kinder-Holocaust" gesprochen hatte.

      In Bayern war, wie sonst nur noch in den damaligen CDU-regierten Baden-Württemberg, der legale Eingriff ausschließlich Kliniken vorbehalten - und auch dort nur bei stationärer Behandlung mit einer Verweildauer von mindestens vier Tagen möglich. Viele kommunale wie staatliche Krankenhäuser im Freistaat jedoch lehnen Schwangerschaftsabbrüche selbst bei medizinischer Indikation grundsätzlich ab. "Schon jetzt", stellte "Pro Familia" im Süden der Bundesrepublik fest, "gibt es in Bayern ganze Regionen, in denen ein legaler Schwangerschaftsabbruch nicht mehr möglich ist" - Voraussetzungen für einen allseits beklagten "Abtreibungstourismus" in liberalere Bundesländer, für den heimlichen Gang zu einem Dr. Theissen oder, wenn''s den nicht gibt, für den Weg zu einem Kurpfuscher, vulgo "Engelmacher".

      "Eigentlich müsste", sagt "Pro Familia"-Landes-geschäftsführer Joachim von Baross, "die bayrische Landesregierung auf die Anklagebank": "Sie drängt hilfesuchende Frauen nicht nur in die Illegalität, sie sorgt auch dafür, dass sie wie Verbrecher vor Gericht gezerrt werden."

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