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Tod im ewigen Eis. Hans Säurle
Читать онлайн.Название Tod im ewigen Eis
Год выпуска 0
isbn 9783753128030
Автор произведения Hans Säurle
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Bei einem Schusswechsel am Tag zuvor war die Entfernung zu groß gewesen. Sie hatten ihn nicht getroffen, aber auch seine Pfeile hatten ihre Ziele verfehlt. Diese Pfeile fehlen ihm, er muss sie dringend ersetzen. Glücklicherweise wächst in Reichweite ein schöner weißer Strauch mit kerzengeraden Trieben. Mit seinem Steindolch schneidet Öcetim gleich ein Dutzend davon ab, entrindet und kerbt sie ein, später würde er die Klingen einsetzen und die Schäfte glätten. Dazu ist jetzt keine Zeit, er muss weiter, den Pass noch heute bezwingen, die Verfolger abschütteln. Er darf sich nicht aufhalten lassen, er hat eine Aufgabe zu erfüllen.
Die kurze Rast und das Essen haben ihm gutgetan. Öcetim macht sich auf, verlässt die schützende Senke, steigt höher, erreicht das Gebiet des Gletschers. Immer wieder blickt er zurück, auf der weißen Fläche kann er schemenhaft nur ein paar Gämsen erblicken.
Die Verfolger haben sich getrennt, einer ist schon vorausgeeilt. Schneller und kräftiger als die beiden Anderen will er unbedingt der Erste sein, die Sache alleine zu Ende führen. Die zwei anderen Verfolger quälen sich im Schneesturm keuchend weiter den Berg hinauf, sich nur selten eine Rast gönnend, auch sie wollen Rache nehmen.
Auf dem Gletscher kommt Öcetim nur langsam voran, vorsichtig setzt er seine Schritte. Immer wieder muss er innehalten. Gerade als er nach einer kurzen Pause seinen Aufstieg fortsetzen will, spürt er einen heftigen Schmerz in der linken Schulter. Ein Pfeil hat ihn getroffen. Öcetim fällt, sein Kopf knallt gegen einen Felsbrocken. Der Schmerz ist brennend, stark, Öcetim fühlt das warme Blut auf seinem Rücken und auf seinem Gesicht, seine Sinne schwinden. Er ahnt, dass er sterben wird, sieht Bilder von seiner Familie, sein ganzes Leben zieht an ihm vorbei. Er hat viel gesehen, viel erlebt und viel erfahren. Doch wie es weiter gehen wird mit ihm, nach seinem Tod, das weiß er nicht. Er riecht Blumen und Wind, bedauert, dass er den Aufgang der Sonne und den ewig sich wandelnden Mond nicht mehr sehen kann.
Sein Mörder geht auf ihn zu. Er ist alleine, steht noch eine Weile neben dem Sterbenden, genießt seinen Triumph und hat gleichzeitig das Gefühl, dass jetzt etwas Unerwartetes geschehen müsste. Doch nichts geschieht, nur der Wind heult. Dann macht er sich an Öcetims sterbendem Körper zu schaffen, durchsucht seine Gewänder. Endlich fühlt er in Öcetims Lendenschurz, wonach er gesucht hatte. Mit klammen Fingern reißt er das feine Leder auf, greift nach den kleinen Steinen, betrachtet und befühlt sie. Vorsichtig steckt er sie ein, als ob sie Schaden nehmen könnten. Mehr interessiert ihn nicht.
So plötzlich wie der Sturm gekommen war, so schnell hat er sich auch wieder gelegt. Schon kreisen die ersten Geier in der Luft. Als die beiden Männer schon ganz nahe an der Felsrinne sind, erkennen sie nur einen dunklen Fleck in einer Mulde. Langsam kommen sie näher, ihre Herzen klopfen schnell, nicht nur wegen der Höhe, es ist die Anspannung, die Angst, dass der Alte plötzlich aufstehen und sie angreifen könnte.
Es kostet sie Überwindung, Öcetim zu berühren. Ein seltsamer Schauer durchläuft die beiden vermummten Gestalten, trotz ihrer dicken Fellmäntel rinnt ihnen kalter Schweiß über den Rücken. Der ältere der beiden dreht den Leichnam auf den Bauch und zieht vorsichtig an dem Pfeil, der in Öcetims Rücken steckt. Niemand soll anhand des Pfeils auf den Mörder schließen können. Doch weil sich das Geschoss in der Schulter des Alten verhakt hat, versucht er es nochmals mit einem kräftigeren Ruck. Der Pfeil bricht ab, die Spitze aus Feuerstein bleibt in der Schulter stecken.
Inzwischen schneit es wieder stärker. Wie ein Leichentuch legt sich der Schnee über den Toten. Nach und nach lässt der Schnee ihn ganz verschwinden, füllt die ganze Felsrinne, keiner wird den gottlosen Alten jemals finden. Doch nicht für immer bleibt die Leiche in Eis und Schnee gefangen…
Nach mehr als fünftausend Jahren kommt die Leiche wieder zum Vorschein…
I
Die Angst schnürte ihm die Kehle zu, sein Hemd war trotz der Kühle schweißnass. Tote Männer und Frauen lagen neben oder auf ihm, ihn hatte man offenbar übersehen oder auch für tot gehalten. ʼOb es das Ende ist?ʼ fragte er sich.
Nach dem ohrenbetäubenden Lärm war es nun still geworden, nur die Schläge seines Herzens dröhnten laut wie Kriegstrommeln in seinen Ohren, übertönten jedes andere Geräusch. Sein Herz pochte so fest, dass er meinte, es müsse seine Brust zersprengen und überall zu hören sein.
Von allen Seiten waren fremde Krieger gekommen. Mit Speeren und Lanzen hatten sie auf seine Leute eingestochen, die Kinder und Alten mit Keulen erschlagen, die Fliehenden wurden von ihren Pfeilen niedergestreckt. Nur kurze Zeit dauerte dieser gemeine Überfall. Jetzt war fast die ganze Dorfgemeinschaft tot, ein paar junge Frauen waren von den fremden Kriegern verschleppt worden, drei kleine Kinder hatten sie aus den Armen ihrer Mütter gerissen und ihre Köpfe an Felsen zerschmettert, anschließend hatten sie den Müttern die Köpfe eingeschlagen.
Langsam öffnete Öcetim die Augen, schaute sich um. Nicht lange konnte er die furchtbaren Bilder aushalten, schnell schloss er wieder die Augen. Er nahm den Gestank von versengtem Haar, verbranntem Fleisch und brennenden Hütten wahr, den Gerüchen konnte er sich nicht entziehen. Eine innere Stimme flüsterte ihm ein, dass nicht er es war, der dieses Grauen erlebte, sondern dass all das einem Anderen zustieß. Öcetim wollte Gewissheit. Unter großer Anstrengung öffnete er erneut seine Augen und musste in ohnmächtiger Klarheit erkennen: Sein Dorf, seine Familie, seine Freunde, sie sind nicht mehr, alle waren tot oder verschleppt.
Endlich wagte es Öcetim, sich zu erheben. Seine Knie schlotterten, die Beine wollten ihm nicht gehorchen, ihm wurde schwindelig und übel; er musste sich an einen Baum anlehnen. Angewidert vom Gestank suchte er unter den Leichen nach seinen Angehörigen, fand seine Mutter, die im Tod noch sein kleines Schwesterchen an ihre Brust drückte, entdeckte seinen Vater, dessen Kopf zerschmettert war und dem der rechte Arm fehlte. Dann stieß er auf seinen älteren Bruder, auch sein Onkel, seine Tanten und seine Freunde lagen erschlagen im blutdurchtränkten Gras. Seine Schwester fand er nicht.
Angeekelt von diesem Gemetzel und unfähig, auch nur eine Träne zu vergießen, schleppte er sich in den Wald. Trotz seiner Angst vor den unheimlichen Geräuschen, dem Rascheln und Ächzen und Knarzen, hielt er sich dort versteckt. Er hörte das Wispern der Blätter und die Stimmen der Toten, wilde Schatten kletterten von den Bäumen herunter. Gesichter seiner Nachbarn und seiner Familie tauchten auf, kurz nur, um gleich wieder zu verschwinden. Mit klappernden Zähnen wachte er auf und wartete auf die aufgehende Sonne. Endlich konnte er weinen.
Nach drei langen Tagen und Nächten waren ihm die Tränen ausgegangen, er wagte sich seinem Dorf Tocolom zu nähern. Noch immer war der Gestank kaum auszuhalten. Die Toten sollten beerdigt werden, dachte er. Aber er konnte das nicht, es waren so viele, und er war nur ein kleiner Junge. Auch seine Schwester war noch immer nicht da, laut rief er ihren Namen, suchte sie. Doch vergeblich, sie blieb verschwunden. Er hatte niemanden mehr. Öcetim wimmerte leise und wusste, dass er jetzt ganz auf sich gestellt, dass er mutterseelenallein war.
Die Sonne brachte nur einen fahlen Schein zustande, es roch verbrannt, selbst der Wind schmeckte süßlich und widerlich. Öcetim wollte sterben, wollte bei seinen Leuten sein, die jetzt in einer anderen Welt lebten. Es wäre so leicht, einfach nur loslassen, fortfliegen, träumte er vor sich hin. Er legte sich zum Sterben auf den Boden und wartete auf den Tod. Er wollte an einen Ort, wo die Geister wohnen, wo es schön sein soll und es immer ausreichend zu essen und zu trinken gibt; so wurde es von den Alten gesagt. Auch soll es dort keinen Streit geben und keinen Krieg. Seltsame Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, suchten nach Gründen für das fürchterliche Geschehen. Hatten denn seine Familie und die ganze Sippe den Göttern nicht immer ausreichend geopfert? Oder hatten sie vielleicht zu wenige oder die falschen Opfer gebracht?
Doch Öcetim starb nicht, die Todesgötter verschmähten ihn. Jetzt fiel ihm wieder ein, dass er noch für die toten Dorfbewohner sorgen sollte, damit sie nicht unbeweint ins Reich der Finsternis geworfen wurden. Ihr Schmuck und ihre Waffen waren von den fremden Kriegern einfach mitgenommen worden. Dabei hätten die Toten in der anderen Welt diese wertvollen Dinge doch gebraucht. Er kannte natürlich das Begräbnisfeld auf der von Birken umstandenen kleinen Anhöhe, erinnerte sich an große Feuer und dass die Wände der Gräber