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hingegen hatte ihn sogar eingeladen und war dabei, dieselbe Torheit zu wiederholen. Es schien ihm ernst zu sein.

      Das Atmen fiel ihm unter der Maske mit einem Mal schwer, daher drehte Erik Christoph den Rücken zu. Sarkasmus blieb seine letzte Waffe: »Wenn es dir nichts ausmacht, hätte ich gern etwas Raum für mich allein.«

      Einen Ort zum Schlafen würde er schon finden, und wenn es auf die Friedhofskapelle hinauslief. Ohne Christophs Antwort abzuwarten, brach er auf.

      Ziellos streifte er durch die nächtlichen Straßen von Perros. Gegen Mitternacht beschloss Erik, den Friedhof aufzusuchen. Der Platz erschien ihm passend für jemanden wie ihn, der aussah wie der Tod selbst.

      Christophs Bitte abzuschlagen, war ihm schwergefallen. Ihm ein Lehrer sein, dieses Instrument zu formen, wünschte er sich mehr als alles andere. Doch so sehr Erik sich danach sehnte, Christoph singen zu hören, so wusste er, dass er dazu kein Recht hatte. Solange Christoph an ihn als einen geheimnisvollen, leicht exzentrischen Mann denken konnte, war alles in Ordnung.

      In die Kapelle einzudringen, war ein Leichtes für Erik, den Meister der Falltüren. Der Ort war so verlassen wie die Straßen zuvor, die Dunkelheit noch zäher. Er schloss das Portal hinter sich und lief den Gang hinunter. Mit jedem Schritt zerrte die Kälte stärker an ihm, doch er versuchte sich einzureden, für ein paar Stunden Schlaf sei es ausreichend angenehm. Das Schlottern seines Körpers ignorierend, legte er sich auf eine der Bänke in der ersten Reihe und schloss die Augen. Er hatte schon an widrigeren Orten geschlafen.

      Als er mit zehn Jahren von zu Hause geflohen war, hatte er die meiste Zeit in Wäldern zugebracht. Bei Tag schlief er und wanderte durch die Nacht. Fremde, die ihn aufspürten, hielten ihn für eine außergewöhnliche Kreatur, mehr Tier als Mensch, da seine Entstellung ihn wenig menschlich erscheinen ließ. Schnell lernte Erik, dass er Respekt vor allem mit Furcht erkaufte. Also lehrte er sie das Fürchten mithilfe kleiner Zaubertricks, die er sich selbst beigebracht hatte. Seine größte Waffe indes blieb seine Stimme; eine Gabe, die all sein finsteres Erscheinen aufgewogen haben mochte, wären die Menschen weniger abergläubisch gewesen. »Das ist die Stimme des Teufels!«, »Haltet euch fern!« - alles kleinere Feindseligkeiten verglichen mit dem Ausmaß an Misshandlung, das ihm während seiner Reisen durch den mittleren Osten widerfahren war.

      Er schauderte, als diese lang verschlossen gehaltene Erinnerung plötzlich in ihm aufstieg. Die Kälte ließ ihn zittern, als etwas seinen Körper bedeckte, sich um seine Schultern legte und ihm ein wenig Trost spendete. Erik wagte nicht die Augen zu öffnen, aus Angst, ihr goldener Schimmer verriet ihn. Daher tat er so, als schliefe er.

      Schritte entfernten sich, ihr Echo hallte über den Boden. Als er sicher war, wieder allein zu sein, zupfte Erik seine Decke zurecht. Eine angenehme Wärme kroch seinen Rücken hinauf und zum ersten Mal fühlte er sich wohl. Bald hatte der Schlaf ihn überwältigt.

       ***

      Als Christoph den Hof des Gasthauses erreichte, fiel ihm ein Licht hinter einem der Fenster auf. Das Zimmer grenzte direkt an sein eigenes. Er fragte sich, wer der späte Gast sein mochte, erinnerte sich jedoch nicht, jemandem auf seinem Weg zur Küste begegnet zu sein. Was, wenn der andere Erik gesehen hatte? War das vielleicht der Grund gewesen, weshalb der dem Gasthof so schnell den Rücken gekehrt hatte?

      Christoph schloss so leise wie möglich die Tür auf und kehrte ohne Umschweife auf sein Zimmer zurück. Der Kamin war gefegt, doch noch immer füllte ein Rest von Wärme den Raum. Kaum hatte Christoph seine Kleider abgelegt, fiel er auf sein Bett und in einen tiefen Schlaf.

      Ein Klopfen weckte ihn auf. Christoph blinzelte ein paar Mal, ehe er sich aufsetzte. Das Klopfen hielt an, bis er ein wenig verständliches »Herein« murmelte, während er gedanklich um wenigstens eine weitere Minute bat, um sich anzuziehen. Zu spät bemerkte er seinen Fehler.

      »Noch immer im Bett? Mein Freund, es ist fast neun!«

      Christoph traute Augen und Ohren nicht. »Raoul?« Mit einem Satz war er auf den Beinen, blieb jedoch wie festgefroren stehen.

      »Gut beobachtet! Sicher fragst du dich, was ich hier mache.« Seine Stimme floss über vor Enthusiasmus, während er zum Fenster ging und die Gatter öffnete. Dann wandte er sich zu Christoph um: »Möchtest du mir nicht zum Frühstück Gesellschaft leisten?«

      Noch immer perplex, blinzelte Christoph ihn an. Allmählich dämmerte ihm, dass dies kein Traum war. »Ja, sicher. Erlaubst du mir … mich vorher anzukleiden?«

      »Selbstverständlich. Bitte verzeih. Ich erwarte dich unten.« Damit verließ Raoul eilig den Raum, schloss die Tür hinter sich und ließ Christoph einmal mehr sprachlos zurück.

      Nachdem Christoph sich wieder gefasst hatte, trat er an das Fenster und atmete tief durch. Die Luft war kühl und klar und trug den Geruch des Meeres zu ihm. Der Wind fuhr ihm durchs Haar, kühlte ihm Gesicht und Arme. Christoph betrachtete die Eiche, deren Äste sich wie knochige Arme nach ihm ausstreckten. Von weitem hörte er Leute emsig ihrer Arbeit nachgehen, Stimmen redeten durcheinander, Karren fuhren über das Pflaster, Pferde wieherten. Er fragte sich, ob Erik unter ihnen war und was er machte. Mittlerweile hatte er sicher den Umhang entdeckt, den Christoph ihm überlassen hatte. Ihn in der Kapelle aufzuspüren, war ein leichtes gewesen. Kein Gasthaus hätte zu dieser Zeit seine Türen geöffnet, selbst wenn Erik den Weg dorthin auf sich genommen hätte.

      Was jedoch hatte Raoul nach Perros verschlagen? Weshalb war er mitten in der Nacht in die Stadt gekommen? Keinesfalls konnte Christoph ihm von Erik erzählen. Daher blieben seine Antworten auf die Frage, wo er letzte Nacht gewesen sei, recht vage.

      »Ich habe einen Spaziergang zur Küste gemacht und mich ein wenig in Erinnerungen verloren.«

      »Ich verstehe. Aber weshalb hast du niemandem von deiner Reise erzählt?«, drängte Raoul zu wissen.

      »Immerhin habe ich Mademoiselle Daphne davon erzählt. Es sollte nur ein kurzer Ausflug werden, daher hielt ich lange Erklärungen nicht für notwendig.« Seine Worte klangen unerwartet hart.

      »Das leuchtet mir ein. Ich war, denke ich, ein wenig enttäuscht von deiner plötzlichen Abreise.«

      Christoph setzte seine Teetasse ab. »Weshalb das denn? Was ich hier mache, ist nicht deine Angelegenheit.« Er wusste, er war zu weit gegangen, als er in Raouls Gesicht sah.

      »Es tut mir leid«, sagten beide gleichzeitig.

      »Schau her«, fuhr Raoul daraufhin fort, »Ich möchte nicht mit dir streiten. Ich kam her, um mich von dir zu verabschieden, nicht um über dich zu urteilen.«

      Christophs Blick wurde weicher und er seufzte.

      »Ich weiß. Vielleicht hätte ich einen Tag länger bleiben sollen. Aber … es gibt etwas, das ich zu erledigen habe, und ich muss das allein tun. Wenn du mich also entschuldigst.« Ohne sein Frühstück zu beenden stand er von seinem Stuhl auf. Raoul so zurückzulassen war sicher unhöflich, doch Christoph wurde mit einem Mal eines klar: Ihre Freundschaft aus Kindertagen bildete keine Grundlage für ihre gegenwärtige Beziehung. Etwas war unwiederbringlich verloren gegangen.

      »Warte bitte«, rief Raoul ihm nach, »Wohin gehst du?«

      »Zur Kirche.«

      Christoph bat die Wirtin, ihm eine Kutsche kommen zu lassen, ehe er sich auf sein Zimmer begab und sich für die Kirche ankleidete. Noch immer stand das Fenster weit geöffnet und ließ einen kühlen Wind herein. Als Christoph sich daran machte, es zu schließen, fiel ihm ein Kleidungsstück auf, das zusammengefaltet über der Sessellehne lag. Er ging hinüber, breitete es aus und erkannte den Umhang, den er Erik gegeben hatte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

      Nachdem er den Umhang beiseite gelegt hatte, trat er erneut ans Fenster und warf einen letzten Blick hinaus.

      »Dummer Junge, geh hinein oder du erkältest dich«, mahnte ihn eine Stimme in seinem Kopf. Seltsamerweise war es Eriks Stimme. Doch das war unmöglich; Erik war nirgends zu sehen. Als Kreatur der Nacht mied er mit Sicherheit das Tageslicht. Und doch lag dort sein Mantel; ein Zaubertrick, wie er einem Phantom der Oper würdig war.

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