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Petra ebenso. Ich bekam von alledem leider nichts mit, weil ich gerade Muttis Koffer und ihre anderen Utensilien im Auto verstaute. Jedenfalls trauerte Gerda diesem Pflegeheim keine Minute nach, und umgekehrt war es wohl genauso.

      Auch zuhause Albtraum ohne Ende

      Der zweite Klinikaufenthalt und die nachfolgende Kurzzeitpflege markierten einen deutlichen Wendepunkt in Gerdas neuer Karriere als Pflegeperson. Schon als sie noch in dem von der Klinik ausgewählten Pflegeheim war, wurde uns klar, dass die von der Krankenkasse geförderten Maßnahmen der Pflegestufe 1 nicht ausreichend waren. Und dass der allgemeinmedizinische Teil des MDK-Gutachtens nicht den Tatsachen entsprach. Petra und mir war wichtig, dass Mutti deutlich mehr trank, richtig aß und sich in ihrer Wohnung mehr bewegte, damit sich ihre Magenprobleme besserten. Wir waren uns einig, Medikamente allein würden dabei nicht helfen.

      Glücklicherweise unterschrieb Gerda noch im Heim eine Generalvollmacht auf meinen Namen mit Petra als Zeugin. Wir waren erschrocken, als wir sahen, dass Mutti schon so zittrig und schwach war, dass sie kaum noch ihre Unterschrift auf das Papier brachte. Nur zwei Monate zuvor hatte sie noch ohne Mühe ganze DIN-A4-Seiten mit lesbarer Handschrift vollgeschrieben, meistens Briefe an meine Schwester Eva. Das Erlebnis im Pflegeheim berührte mich so sehr, dass ich noch am gleichen Tag einen ausführlichen Widerspruch gegen das Gutachten der Medizinischen Dienste formulierte und per Einschreiben an die Krankenkasse sandte. Dabei widersprach ich auch den Aussagen des MDK-Gutachters über die tägliche Trinkmenge („ca. 1500 ml selbstständig“) und Muttis Stuhlgang („regelmäßig und täglich“). Unter anderem schrieb ich:

      „Diese Aussagen sind einfach unwahr. Dies ist belegt durch einen kurz nach der Untersuchung stattgefundenen Notarzteinsatz (Protokoll=Anlage 1) und einen nachfolgenden stationären Klinik-Aufenthalt, bei dem meine Mutter als dehydriert diagnostiziert wurde, mit vollständig nicht funktionierenden Verdauungsorganen.

      Der Gesundheitszustand meiner Mutter hat sich seit der Untersuchung durch den MDK nicht verbessert, sondern weiter verschlechtert: Sie ist antriebsschwach, depressiv mit Tendenz zur Suizidgefährung und hat – zusätzlich zur Neigung zur Dehydrierung - Harninkontinenz in einem Ausmaß, dass ihr Einlagen nur noch bedingt weiterhelfen.

      Wenige Tage danach, Gerda war inzwischen wieder in ihrer Wohnung, war ich gezwungen, erneut über ihren Gesundheitszustand zu berichten. In einer E-Mail an den ambulanten Pflegedienst schrieb ich: „Sehr geehrte Frau..., leider hat meine Mutter gestern Abend einen gesundheitlichen Rückfall erlitten, der sich durch erneutes Übergeben mit Magenschmerzen geäußert hat…

      Zu allem Unglück fing Gerda an, außerdem noch über starke Schmerzen beim Wasserlassen zu klagen: Blasenentzündung, vermutlich ein Souvenir aus der Kurzzeitpflege im Katastrophenheim! Jetzt musste der neue Hausarzt ran, um schnell zu helfen, doch der konnte nicht kommen, weil im Erholungsurlaub. Der Vertretungsarzt kannte meine Mutter nicht und wollte sie ohne Untersuchung nicht mit Medikamenten versorgen. Ihre erste Urinprobe ging dann auf dem Transport durch den Pflegedienst auch noch verschütt (buchstäblich!), also musste Gerda noch einen weiteren Tag länger auf Abhilfe warten. Unsere liebe Nachbarin Yvonne machte mir die Hölle heiß: „Mit einer Blasenentzündung ist nicht zu spaßen. Die Bakterien wandern den Körper hoch zur Niere, und dann ist Feierabend! Ich habe dasselbe bei meiner Mutter erlebt und mache mir noch heute Vorwürfe, dass ich damals nicht schnell genug gehandelt habe. Du musst sofort was tun, Rainer!“ Gut gesagt, aber was sollte ich, was konnte ich tun?

      Endlich war das Rezept des Vertretungsarztes da und der Fahrdienst der Apotheke auf dem Weg, um das dringend benötigte Antibiotikum zuzustellen. Am gleichen Abend beschwerte sich meine Mutter bei mir: „Die Schwester hat heute Nachmittag Sturm geklingelt, ich fand‘ das einfach unerhört, mich so zu stören!“ „Warum bist du denn nicht an die Tür gegangen?“ „Warum sollte ich, sie hat doch einen Schlüssel zu meiner Wohnung!?“ Ich glaube, in diesem Moment zweifelte ich das erste Mal am klaren Verstand meiner Mutter. Natürlich war es nicht die Pflegekraft, die Sturm geklingelt hatte – denn die hatte ja einen Schlüssel, wie meine Mutter wohl wusste –, sondern der Fahrdienst der Apotheke, der verzweifelt versucht hatte, seine dringend erwartete Lieferung an den Mann zu bringen. Währenddessen lag Gerda im Bett, wartete mit Ungeduld auf ihre Medikamente und rückte und rührte sich nicht. Am Ende holte ich die Pillen tags darauf selbst in der Apotheke ab und sorgte dafür, dass meine Mutter sie der Vorschrift nach einnahm. Allerdings war seit den ersten Schmerzen schon eine ganze Woche verstrichen, eine Zeit, die die Bakterien sehr wahrscheinlich genutzt hatten, um sich – ausgehend von Gerdas Blase – in ihrem Körper auszubreiten.

      Bekanntlich scheißt der liebe Gott immer auf den größten Haufen, und der Teufel macht es anscheinend ebenso. Gerade dachten wir, die Situation hätte sich etwas beruhigt und man könne jetzt mit geringeren Sorgen als zuvor den noch ausstehenden Termin der urologischen Untersuchung in der Klinik abwarten, da ging Gerdas einzige einigermaßen funktionstüchtige Brille zu Bruch. Wie, das war nachträglich nicht mehr in Erfahrung zu bringen. Nur dass umgehend Ersatz beschafft werden musste, daran gab es keinen Zweifel, denn ohne Brille war Gerda praktisch blind. Sie war stark weitsichtig und konnte ohne ihre Sehhilfe weder lesen noch fernsehen noch Kreuzworträtsel lösen (bis dahin ihr liebstes Hobby). Gut, dass es nicht weit von ihrer Wohnung einen Optiker gab, der sofort einen Termin frei hatte, bei dem man mit dem Auto bis vor die Tür fahren konnte und der auch gleich nach der Augenuntersuchung eine provisorische Brille fertig stellen konnte. „Siehst du gut damit?“, fragte ich Gerda. „Selbstverständlich!“, war ihre leicht pikierte Antwort und schon war sie dabei, den Brillenladen wieder zu verlassen. Dumm nur, dass ich zuhause gleich feststellen musste, dass sie mit der neuen, provisorisch erstellten Brille überhaupt nicht gut gucken konnte: Sie konnte mit dem Provisorium weder lesen, noch fernsehen, noch sich mit ihren heiß geliebten Kreuzworträtsel beschäftigen.

      Das Messen ihrer Augenstärken war so gründlich daneben gegangen, dass meine Mutter von dem Tag an mehr als zwei Wochen lang praktisch sehuntüchtig und zu keiner ihrer sonst üblichen Freizeitbeschäftigungen fähig war. Ihrer schon vorher zunehmend depressiven und apathischen Stimmungslage war diese Tatsache überhaupt nicht zuträglich. Falls sie vorher dazu überhaupt noch in der Lage gewesen war, nach dieser Brillenpleite war sie überhaupt nicht mehr in der Lage, sich selbst zu beschäftigen. Für zwei endlos lange Wochen bestand ihr ganzer Tagesablauf darin, morgens gewaschen und angezogen zu werden, eine Schnitte Brot zu frühstücken, dann auf ihrem Wohnzimmerstuhl sitzend und ins Leere schauend auf das Mittagessen zu warten.

      Das Mittagessen stand dann den ganzen Nachmittag fast unberührt vor ihr, bis ich am Abend kam, um sie von dieser Last zu entledigen. Ich versuchte, ihr mit einem kleinen, aus meiner Sicht super-einfach zu bedienenden Radio etwas Abwechslung zu verschaffen, doch sie kam selbst mit dessen supereinfachen Einknopf-Bedienung nicht zurecht. Die totale Ödnis, tagelang untätig in einer für sie vollkommen inhaltsleeren Wohnung gefangen zu sein, wäre schon für einen vollkommen gesunden Menschen die Hölle gewesen. Aber meiner Mutter ging es zu allem Unglück gesundheitlich weiterhin nicht besonders gut: Appetit und Verdauung hatten sich nicht wirklich gebessert und die Blase verweigerte auch nach dem Abklingen der Entzündung ihre Funktion.

      Was tun?

      Irgendwann in dieser verzweifelten Lage verfiel ich auf die grandiose Schnapsidee, meine Schwester Eva um Hilfe zu bitten. Wir Kinder waren Gerdas einzige noch lebende enge Blutsverwandten. Eva hatte in den späten Sechzigern nach Schweden geheiratet, war früh geschieden worden, aber nie zurück nach Deutschland gezogen. Selbst schon 72 Jahre und damit elf Jahre älter als ich, war es inzwischen schon zwei Jahrzehnte her, dass Eva Gerda besucht hatte. Bis zum damaligen Tag hatten beide allerdings im engsten Schriftverkehr miteinander gestanden.

      Ich stellte mir vor, wie sehr sich Mutti über ein Wiedersehen freuen würde und wie sehr es ihr in ihrer jetzigen Situation helfen würde. Also machte ich mich daran, einen Brief an Eva zu schreiben. Ich schilderte zuerst Gerdas Situation und schrieb dann:

      „Unsere Frage (Muttis und meine) ist deshalb: Hättest Du die Möglichkeit, kurzfristig für 1-2 Wochen zu uns nach Göttingen

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