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gar wagte zu kritisieren, zum Beispiel, dass die Waschküche nicht sauber hinterlassen wurde. Da konnte sie ganz anders werden. Dann schämte Kathi sich. „Gucken Sie nicht so! Was gibt es da zu tuscheln?“ Lautstark schleuderte die Mutter die Worte wie Giftpfeile den Nachbarn zu. Kathi wäre am liebsten im Erdboden versunken.

      Die Nachbarn, Radlowskis direkt über ihnen im ersten Stock, wohnten noch nicht lange dort und hatten sich beschwert über zu lautes Lachen der Mutter. Kathi ahnte nichts Gutes… Ach, was würde sie darum geben, bei einer ihrer alten Damen zu sein, Frau Voigt oder Frau Schlichting. Oder die gemütliche füllige Frau Star. Einfach still dasitzen und einen Keks essen. Kathi versuchte sich dorthin zu träumen.

      Sie war gerade eingeschlafen, das stand die Mutter plötzlich mitten in der Nacht vor ihrem Bett und weckte sie lautstark: „Kommt Kinder, Ihr dürft laut sein, macht Krach!“

      Voller Rachegefühl und Wut, sang sie laut: „Lalalalala“ und klopfte mit dem Besenstiel an die Zimmerdecke.

      Britta wollte in ihr Bett zurück, aber da kam sogleich: „Sei nicht mimosenhaft, schau deine kleine Schwester an, die macht toll mit!“

      Und so war es. Kathi fand es super! Einmal wach, kann man ja mal so richtig Remmidemmi machen. Sie sang lauthals mit und kreischte wie die Mutter. Aber es klang anders. Sie kreischte die Scham, ihre Verzweiflung und ihre Trauer laut hinaus. Das tat einfach gut.

      Am nächsten Tag ging sie, zum ersten Mal ohne ersichtlichen Grund zu Frau Voigt. Diese war erstaunt. Sagte aber nichts und ließ sie einfach hinein. „Möchtest du einen Kakao?“

      Oh, was tat das gut! Diese stille und vornehme Frau war nun die zuvor erträumte Wohltat für sie. Ganz still saß Kathi am Tisch, trank ihren Kakao und biss in den runden De Beukelaer mit Schokolade zwischen den zwei Kekshälften. So oft wünschte Kathi sich, dass die Mutter wie Frau Voigt sei, damit sie immer stolz sein konnte. Dabei lästerte die Mutter gemein über Frau Voigt, wenn sie sie zum Geburtstag eingeladen hatte, wie steif und vornehm sie doch sei. Kathi verstand es nicht, dass die Mama mal so schön und verführerisch sein konnte, dass alle sie anhimmelten. Dann bekam sie alles, was sie wollte. Und plötzlich, warum auch immer, war sie hysterisch, warf Teller gegen den Papa, knallte Türen oder den Telefonhörer auf, schrie herum und zeigte sich komplett überfordern. Es war schwer, sich darauf einzustellen, es zu begreifen.

      „Kinder, ich habe zur Versöhnung unsere Nachbarin Frau Radlowski und ihre Söhne zum Kaffee eingeladen. Macht Euch schön!“

      Die Schwestern mussten ihre Sonntagskleider anziehen und die Frau, die die Mutter wegen der Kritik so abgrundtief hasste, die sie in der Nacht zuvor terrorisiert und die Kinder mit eingebunden hatte, sollte nun mit ihnen Kaffee trinken. Das fühlte sich für Kathi nicht richtig an. Dieses oft paradoxe Verhalten der Mutter.

      Es klingelte und der erwachsene Sohn Jens stand vor der Tür. „Meine Mutter kommt gleich nach, mein Bruder kommt nicht.“, sagte er nur ziemlich kühl. Kathi bat ihn in das Wohnzimmer, die Mutter brühte den Kaffee in der Küche auf. Nun saß sie da mit ihm allein in ihrem hübschen weißen Kleidchen mit grünen Stachelbeeren darauf. „Du bist ja süß.“, schmunzelte er. Sie hatte ihn vorher noch nie gesehen, vielleicht einmal von Weitem. „Komm doch mal auf meinen Schoß!“

      Kathi tat es. Sehr schnell hatte Jens seine Hand in ihrem Höschen und fummelte an ihr herum.

      „Was soll das? Ich will das nicht“, ging durch ihren Kopf. Herzklopfen vor Angst, dass Mama gleich reinkommen würde. Sie wusste nicht einmal, ob sie darüber froh sein sollte oder Angst haben musste. Nun, Kathi wusste vom Vater, wenn er bei ihr im Bett an ihr herumspielte, wie er das nannte, dass es niemals ein Mensch wissen durfte, auch nicht die Mama. So hatte sie jetzt einfach nur Angst. Die Mama kam mit der Kaffeekanne herein und blitzschnell zog Jens die Hand aus Kathis Hose.

      „Warum sitzt meine Tochter auf Ihrem Schoß? Wo ist Ihre Mutter?“ Er setzte Kathi runter und sagte, dass die Mutter gleich kommen werde. Ein verkrampftes Kaffeetrinken, was die Wogen einfach nicht glätten wollte, folgte. Die Mutter ritt immer wieder auf ihrem Recht herum, laut sein zu können, wann sie wollte, und Frau Radlowski drang mit ihrem Wunsch nach dem Einhalten von Ruhezeiten nicht durch. Als sie gegangen waren, erzählte Kathi der Mutter, dass Jens in Ihre Hose gefasst hätte. Daraufhin trieb eine Zornesröte in das Gesicht der Mutter. Sie lief sofort die Treppen hinauf und klingelte Sturm. Kathi und Britta standen an der offenen Wohnungstür und lauschten in das Treppenhaus.

      „Ihr Sohn ist ein Schwein! Nie wieder setzen Sie oder auch nur einer ihrer Söhne einen Fuß in unsere Tür! Wenn er sich noch einmal an meiner Tochter vergreift, dann sorge ich dafür, dass sie hier rausfliegen!“, schrie die Mutter lauthals, so dass das ganze Haus es mitbekam.

      Britta flüsterte: „Das ist unsere Löwenmami.“

      Kathi verstand nicht, was sie damit sagen wollte, aber sie fühlte sich stark und für den Moment geschützt. Im Herzen klang es nach: „Mama glaubt mir und scheint mich doch lieb zu haben.“

      Ein besonderer Tag. Papa kam mit einem Kollegen und brachte eine Musiktruhe nach Hause. Mit Radio und dem magischen Auge. In der Truhe selbst konnte man mehrere Single Schallplatten hintereinander stapeln, die von ganz allein spielten!

      Stundenlang saß Kathi davor und besah sich die Technik. Jede Platte, die anspielte, berührte sie in der Seele. Kathi hatte viel vom Papa bei den abendlichen Sperrmüllgängen gelernt, indem er mit ihr Radios, Fernseher und alles Mögliche nach Hause in seinen Bastelkeller schleppte, reparierte, probierte und schaute. Kathi war normalerweise ein hibbeliges Kind, aber in den Momenten konnte sie stundenlang ganz still etwas betrachten. Der Papa erklärte, wie es einmal funktioniert hat und wie es wieder funktionieren könnte, man muss nur lange genug schauen. Und als kleine Vierjährige fing sie bereits an, durch Zuschauen alles zu lernen, was für sie wichtig erschien. Hier entwickelte Kathi eine Engelsgeduld.

      Die Mutter kannte sich mit keiner Technik aus und Kathi hatte diese Plattenkiste flugs durchschaut, deshalb durfte sie die Platten auflegen und das Gerät bedienen. Die Musik, die sie wirklich berührte, sang sie nach. In Verbindung mit der Musik, lernte Kathi blitzschnell die Texte. Eigentlich berührte sie alles, ob es Margot Eskens, Katharina Valente, Peter Kraus oder Nana Mouskouri waren. Sie sang und tanzte dazu, fühlte sich in einer anderen Welt, in der die Seele, die sich immer so hart anfühlte, ganz weich wurde, weich und leicht, wie eine Feder. Zum ersten Mal beglückte sie etwas wirklich und durchdringend: „Musik“.

      Musik mit all ihren unterschiedlichen Schwingungen und Botschaften. Die Musik schaffte unsichtbare Mauern um sie herum, die sie schützten. Eine Welt mit dem Gefühl von Sicherheit, Wärme und Freude.

      Kathi ging schon länger zum Ballett, war fast täglich im Turnverein, denn der Papa war ehrenamtlicher Aushilfstrainer. Hier mussten Britta und Kathi die Vorzeigemädchen spielen. Flickflack vom Kasten, Geräteturnen, Bodenturnen. Kathi fiel auf, dass der Papa die anderen Mädchen häufig mit diesem komischen Blick anschaute und wenn er Hilfestellung beim Überschlag oder vom Kasten gab, versuchte er sie zwischen den Beinen zu berühren. Das war ihr sehr unangenehm und sie konnte es gar nicht deuten. Warum machte er das? Selbst bei den Cousinen beobachtete sie seine gierigen und lüsternen Blicke. Die Angst, dass er ertappt würde, schien für sie unerträglich zu sein.

      Auch beim Training trug Kathi einen Turnanzug mit Ärmeln bis zum Ellenbogen, damit wirklich niemand die durch die Mutter hinzugefügten Blessuren sehen konnte. Niemand! Der Schutz der Familie war ihr extrem wichtig und das einzige, was zählte. Sie wollte doch, dass alle glücklich sind!

      Durch ihre Turnbegabung und dass die Eltern durch die Musiktruhe entdeckt hatten, wie schön ihre Tochter singen konnte, wurde Kathi dann ein wenig zum Vorzeigeäffchen. So fühlte sie sich zumindest. Egal ob Kollegen vom Papa, Freunde der Eltern oder Verwandtschaft, nun hieß es immer: „Kathi mach mal Handstand! Kathi sing doch nochmal etwas von Nana Mouskouri!“

      Und sie tat es. Fühlte sich unter Druck, aber der Applaus und die Komplimente taten ihr gut. Und wenn sie sang, war sie woanders. Sie war einfach da. Ganz im Lied, getragen von der Melodie, gab sie ihre glockenklare Stimme zum Besten. Es war ein Sein und Fühlen im Hier und Jetzt, keine Schläge, keine Schreie, keine Ertränkungsgefühle,

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