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immer als „Medizinerhände“ bezeichnete, legten sich schwer auf Pattys Schultern. Sein einnehmender, vertrauenserweckender Charme stand im völligen Gegensatz zu der kalten Ausstrahlung seiner Frau und Außenstehende neigten gern dazu, das Ehepaar van Haren mit zwei sich abstoßenden Magneten zu vergleichen. Bei öffentlichen Anlässen – und auf solchen waren sie dank Rachels Modebewusstsein häufig vertreten – verhielt Matthew sich still und zurückhaltend und ließ seiner Frau den Vortritt. Er hatte sein Leben der Medizin und seinem Beruf als Chirurg verschrieben und für gewöhnlich blieb ihm wenig Zeit, sich tieferschürfend mit solchen Nebensächlichkeiten wie der neuesten Kreation eines Pariser Modeschöpfers zu beschäftigen. Außerdem fehlte ihm dafür jegliches Interesse und Verständnis. Für ihn sah seine Frau immer bezaubernd aus – ganz gleich, ob in einem Designerkleid oder in einer Tweedhose von der Stange aus dem Kaufhaus.

      „Paps!“ Flehend schlang Patty jetzt ihre Arme um seinen Oberkörper. „Wenn du mir meinen größten Wunsch erfüllst, brauchst du nie, nie wieder irgendetwas für mich tun! Dann bin ich bis ans Ende meines Lebens wunschlos glücklich! Bitte, lass mich hier, bitte, bitte!“ Sie presste sich fest an ihn. Diese Masche half meistens, wenn sie ihren Kopf durchsetzen wollte. „Du kennst mich, Paps! Du weißt, dass ich in Amerika todunglücklich sein werde!“

      Matthew musste sich sehr zusammennehmen, um Ruhe zu bewahren. Zu oft hatte sie ihm damit schon in den Ohren gelegen, seit Wochen, seit Monaten, seitdem sie wusste, dass es dieses Auslandsjahr geben würde.

      „Dazu ist es zu spät“, erklärte er bedacht und schob sie sanft von sich fort. „Außerdem bildest du dir das alles nur ein! Es wird dir bestimmt gefallen, glaub mir! Sogar deine Mutter freut sich auf die Staaten und du weißt, wie schwer sie mit etwas zufriedenzustellen ist!“

      Patty trat einen Schritt zurück und starrte ihn an. Tränen der Wut und des Trotzes brannten in ihren Augen. „Das ist ungerecht! Ihr seid meine Eltern und damit für mein Wohlbefinden verantwortlich, aber jetzt zwingt ihr mich, die schlimmsten zwölf Monate meines Lebens durchzustehen! Das verzeihe ich euch nie, niemals!“

      Seufzend schloss ihr Vater für eine Sekunde die Augen. „Schon gut. Darüber können wir während des Fluges noch ausgiebig diskutieren.“ Er warf einen Blick auf die alte, schwere Standuhr. „Es wird Zeit. Wir müssen uns beeilen. Gib deiner Mutter und deiner Schwester Bescheid, dass wir allmählich fahren sollten. Das Flugzeug wartet nicht, nur weil sie ewig trödeln!“

      Hastig drehte er sich auf dem Absatz herum und lief wieder hinaus, zum Taxi. Draußen blieb er stehen und atmete mehrere male tief durch. Wie sehr es doch seine Vorfreude trübte, seine jüngste Tochter so unglücklich sehen zu müssen, aber auf keinen Fall konnte er sie hier alleine zurücklassen, nicht einmal in Louisas Obhut. Patty gehörte zu ihnen, jedenfalls so lange, bis sie erwachsen sein und ihre eigenen Wege gehen würde. Er hatte ja auch gar nicht damit gerechnet, dass ihm, ausgerechnet ihm, auf einmal die Möglichkeit zuteil werden würde, ein ganzes Jahr im Ausland zu arbeiten. Die Entscheidung der amerikanischen Klinik war ganz plötzlich gefallen und er hatte nicht eine Sekunde gezögert, das Angebot anzunehmen. Sein Blick glitt über die Koffer hinweg, die sich im hinteren Teil des Taxis stapelten. Ein Jahr, ein ganzes langes Jahr fort von dieser lauten, stinkenden Stadt, fort von den ständigen Empfängen und Partys, endlich nur Arzt und Mensch sein, nichts weiter. Für ihn würde es das Jahr werden, in dem er sich daran erinnern konnte, welche Ziele und Träume ihn einst getrieben hatten – und was heute davon übriggeblieben war.

      Lange stand Patricia entmutigt und hilflos in der Eingangshalle der riesigen Villa, die ihr Großvater einst hatte erbauen lassen. Fahren, jetzt, sofort, ohne, dass sie sich von Mabel und all ihren anderen Freunden verabschiedet hatte; ohne, dass sie auch nur die Möglichkeit gehabt hätte, einfach fortzulaufen und erst, wenn der Rest ihrer Familie abgereist war, wieder aufzutauchen!

      Als hätte sie die Worte ihres Mannes gehört, trippelte in diesem Augenblick Rachel auf ihren hohen Absätzen die Treppe herab, gefolgt von ihrer älteren Tochter, die noch im Laufen in ihrer Handtasche wühlte.

      „Nun beeil dich doch endlich! Es ist immer dasselbe mit dir!“

      „Ich komme ja schon!“ Jean Frances van Haren eilte hinter ihrer Mutter her. Sie trug noch einen Ballerina in der Hand und einen Haargummi zwischen die Zähne geklemmt. Auf halber Höhe der Treppe hielt sie inne und schlüpfte schnell in den zweiten Schuh. Dann packte sie ihr schulterlanges, braunes Haar und band es zu einem Pferdeschwanz zusammen. „Ich muss nochmal schnell wohin!“

      Patty verdrehte die Augen und warf ihrer sechzehnjährigen Schwester einen ungeduldigen Blick zu, beherrschte sich jedoch soweit, jeglichen Kommentar zu unterlassen. Was konnte sie von so einer Schwester auch schon erwarten? Sicherlich nicht, dass die Reise weniger anstrengend und nervenaufreibend verlaufen würde. Eilig schlüpfte Rachel nun in ihren Mantel und wirbelte gleichzeitig herum.

      „Konnte dir das nicht früher einfallen?“, schimpfte sie ungehalten. „Nun mach’ doch endlich!“

      „Ja, ja!“ Jean raste die Treppe wieder hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend.

      „Und wieso trägst du dieses unmögliche, alte Kleid?“, schrie ihre Mutter ihr hinterher. „Kannst du dir nicht einmal ein Beispiel an deiner Schwester nehmen und ein bisschen auf dein Äußeres achten?“

      Eine Tür schlug im oberen Stock mit einem lauten Knall ins Schloss. Rachel seufzte ungehalten.

      „Kann sie nicht“, feixte Patty und ließ sich von Louisa in ihren neuerworbenen Trenchcoat helfen. „Sie hat eben nicht mein Modebewusstsein!“

      Und sie ist hässlich, im Gegensatz zu mir, fügte sie in Gedanken hinzu, wobei sie unbewusst schnippisch grinste.

      „Red keinen Unsinn, steig’ wenigstens du schon ein!“ Ihre Mutter packte sie am Arm und zerrte sie hinaus ins Freie. Ohne eigenen Willen fühlte Patty, wie sie, einer Puppe ähnlich, auf die Rücksitzbank des miefigen, engen Taxis geschoben wurde.

      Endlich kam ihre Schwester angerannt, ihre Jacke – natürlich – auf dem Arm. Sie umarmte noch die Haushälterin überschwänglich.

      „Auf Wiedersehen, Louisa! Passen Sie gut auf alles auf!“

      „Jean!“ Der Schrei ihrer Mutter gellte über die Hofeinfahrt.

      „Ja, ja! Bin schon da!“

      Das sechzehnjährige Mädchen ließ sich neben ihre Schwester auf die Rücksitzbank fallen und ächzte. Das brachte ihr einen herabwerfenden Seitenblick Pattys ein, den Jean geflissentlich ignorierte. Sie zupfte das marinefarbene Baumwollkleid bestmöglich zurecht, das ihr so gut gefiel, weil es schlicht geschnitten war und keine Blicke auf sich zog. Im Gegensatz zu ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester besaß Jean den Körper eines Kindes. Während bei Patty sämtliche weibliche Attribute bereits mehr als deutlich ausgeprägt waren, hatten sich bei ihr noch nicht mal ansatzweise Brüste entwickelt. Oft beneidete Jean ihre Schwester darum, denn sie sah einfach in allen Kreationen, die ihre Mutter nach Haus brachte, umwerfend aus. Andererseits legte Jean nicht denselben Stellenwert auf Kleidung wie ihre Schwester, sodass es ihr häufig gelang, über Pattys Eitelkeit hinwegzusehen.

      Im völligen Gegensatz zum Rest ihrer Familie schien Jean auf einen flüchtigen Blick hin nicht das, was als Schönheit hätte bezeichnet werden können. Zwar waren die Gesichtszüge ebenmäßig und fein, doch die grünen Augen wirkten zu klein und die Nase zu groß und lang geraten. Das Kinn stand zu weit vor und wirkte zu breit, während die Wangenknochen fast zu kantig ausgefallen waren.

      „Winkt doch Louisa nochmal!“, befahl Rachel vorwurfsvoll ihren Töchtern, während sie durch das heruntergekurbelte Fenster zu der Haushälterin zurückblickte, die heftig ein weißes Taschentuch schwenkend im Eingang stand. Ihr Satz blieb bei Patty ohne Reaktion. Während Jean fröhlich ihren Arm zum Fenster hinausstreckte, wagte Patty es nicht, ihren Blick noch einmal umzuwenden. Sie war davon überzeugt, dass sie – sollte sie dieses Jahr überhaupt überleben – nie wieder glücklich werden konnte. Bis dahin würde sie längst an Heimweh und Langeweile oder allem beiden gestorben sein.

      Der Motor heulte auf, als der Taxifahrer aufs Gaspedal trat und mit ihnen

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