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Leben ist viel zu kurz, um es mit so viel Angst zu verbringen, wie Du das im Moment tust. Findest Du nicht?“

      Tante Paula warf ihr einen strengen Blick zu und ging nach draußen.

      Mara stand auf.

      Sie wollte sich nicht drängen lassen. Natürlich wusste sie selbst, dass es so nicht weiter gehen konnte, dass sie nicht ein Leben lang allem, was ihr Angst bereitete, ausweichen konnte.

      Sie ging hinüber ins Wohnzimmer. Die schweren, afghanischen Teppiche dämpften ihre Schritte. Die Wände hingen voller Kult- und Schmuckgegenstände. Sie betrachtete einen mit imposanten Adlerfedern geschmückten Traumfänger. Darunter hingen ein kleiner Lederbeutel und daneben eine Kalebasse aus getrocknetem Kürbis. Den Lederbeutel hätte sie gerne geöffnet. Nur um zu sehen, was darin war. Weiter drüben hing eine ganze Serie von Pfeifen in verschiedenen Größen. Waren es Friedenspfeifen? Vor dem schwarzen Bücherschrank mit den Glastüren, einem Erbstück der Familie, blieb Mara stehen. Hier hatte Tante Paula ihre Schmuckstücke ausgelegt: gebleichte Muscheln, lilafarbene Amethysten, grün schimmernde Jade, gläserne Bergkristalle und allerlei Fossilien. Wegen seiner hellen Farbe fiel Mara ein Bernstein in der Größe eines kleineren Hühnereis auf. Sie öffnete das Glastürchen und nahm ihn in ihre Hand. Überraschenderweise fühlte er sich fast warm an. Seine kuppelartige Oberfläche war glatt und glänzend. Die Unterseite war nur grob bearbeitet. Sie hielt den Stein gegen das Licht. Er leuchtete honigfarben. Deutlich erkannte sie eine Fliege, ihre dünnen Beinchen, die Flügel und den Kopf. Vor Jahrhunderten vom Harz eines Baumes überflutet, war das Insekt eingeschlossen und für immer begraben, eingehüllt und abgekapselt. So sah sich Mara selbst. Vom Strom des Lebens eingeschlossen und isoliert.

      Tante Paula, die nach dem langen Telefonat ins Wohnzimmer zurückkam, rieb sich das rechte Ohr. „Also Luise ist auch nicht einfach“ sagte sie und schüttelte den Kopf.

      „Hast Du den neu?“ fragte Mara und hielt Tante Paula den Stein hin.

      „Ich hab ihn vor ein paar Tagen bei einer Haushaltsauflösung hier in der Nachbarschaft gefunden. Gefällt er Dir?“

      „Ja, sehr.“

      „Weißt Du was, ich schenk ihn Dir.“

      „Nein.“

      „Doch. Nimm ihn mit“, sagte Tante Paula, „Du kannst ihn gebrauchen. Bernstein ist ein heilsamer Stein. Er bringt Licht ins Gemüt.“

      Mara fuhr mit den Balkonpflanzen auf dem Gepäckträger und dem Bernstein in ihrer Hosentasche heimwärts. Aber statt den direkten Weg nach Hause zu nehmen, fuhr sie zum Fluss, setzte sich auf eine Bank und rauchte eine Zigarette. Es war still. Nur das Rauschen des Wassers war zu hören. Niemand kam vorbei. Doch zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass jemand fehlte. Sie drückte die halb zu Ende gerauchte Zigarette aus und schob ihr Fahrrad nach Hause.

      Dort legte sie den Stein mit der eingeschlossenen Fliege neben ihr Bett zum Wecker. So konnte sie ihn immer sehen. Gleich morgens wenn sie aufwachte und abends, wenn sie das Licht löschte.

      In der Nacht lag Mara wach. Sie dachte an Felix und mit ihm an den siebten Geburtstag im Garten mit den Obstbäumen und der Wiese. Überall hingen bunte Girlanden und Luftballons. All ihre Freundinnen waren eingeladen und Papa war früher aus der Uni gekommen, was sehr selten vorkam. Wolfgang und Thomas wollten bei allen Spielen mitmachen. Dabei waren sie einfach noch zu klein. Beim Sackhüpfen waren sie viel zu langsam und beim Eierlaufen fiel Thomas gleich am Anfang das Ei vom Löffel und die ganze Mannschaft verlor. Dann gab es Apfelsaft und Schokoladenkuchen. Nach dem Kuchenessen verband ihre Mutter ihr die Augen. Alle waren ganz leise. Nur ein kurzes Lachen hörte sie von Sandra, ihrer besten Freundin. Jemand nahm ihre rechte Hand. Es war Papas Hand, die sie führte. Seine andere legte er auf ihre Schulter. Sie wurde um etwas herumgeführt. War es der Tisch? Dann ging es über den Rasen. Sie spürte die Unebenheiten unter ihren Füßen und die Grashalme, die sie kitzelten. Nach einigen Schritten verstärkte sich der Druck der Hand auf ihrer Schulter, anscheinend sollte sie anhalten. Ihr wurde das Tuch von den Augen genommen. Und da war er: In einem Stall mit einer Trinkflasche auf der einen Seite und einem Holztürchen auf der anderen Seite saß auf Stroh ein hellbrauner Hase. Mara kniete sich vor den Stall und griff in die kleinen Löcher im Draht. Er kam angehoppelt. Sanft berührte er mit seiner Nase ihre Fingerspitzen und schnupperte daran. Ihr Vater öffnete das Türchen und Mara nahm den Hasen auf den Arm. Ängstlich legte er seine Ohren an. Durch sein weiches Fell spürte sie sein Herz schnell schlagen. Ihre Mutter fotografierte sie. Vorsichtig setzte sie ihn in seinen Stall zurück. Am Abend, nachdem alle Kinder weg waren, brachte sie ihm Futter und eine Möhre. Sie blieb lange bei ihm und streichelte ihn und hätte am liebsten die ganze Nacht bei ihm verbracht.

      Sie hatte Felix sehr gern. Sie mochte sein weiches, flauschiges Fell, wenn sie ihn streichelte, wenn sie ihr Gesicht darin vergrub. Sie fütterte ihn morgens und abends und oft saß sie bis es dunkel wurde bei ihm vor dem Stall und erzählte ihm alles Mögliche, bis ihr Vater kam und sie ins Haus holte. Felix schien sie zu verstehen. Einmal nach einem solchen langen Abend bei Felix wollte sie ihn am nächsten Morgen gleich vor der Schule noch besuchen. Als sie zu ihm kam, lag er reglos im Stall. Er kam nicht zu ihr hingehoppelt. Sein Fell sah wirr und unordentlich aus. Seine Augen waren stumpf. Sein Mund war halb offen. Sie sah seine Zähne. Felix war tot.

      Mara weinte, schluchzte laut. Sie nahm den Bernstein in ihre Hand. Allmählich tröstete sie die Tatsache, dass sie in ihrer Wohnung, in ihrem Bett war und nicht mehr das verlassene Mädchen von damals.

      Mara schloss die Tür ihres Büros. Sie wollte sich unten im Café des Museums einen Cappuccino holen. Vergangene Nacht hatte sie schlecht geschlafen. Jetzt brauchte sie dringend einen Muntermacher. Sie ging den Flur entlang und dann die Treppe hinunter. Ihre Hand glitt über das schmiedeeiserne Geländer. Über ihr bildeten hohe Bögen aus Stein kleine Himmel. Auf den einzelnen Zwischenstufen waren mit weißem und rotem Marmor Sterne eingelegt. Mara mochte das alte Gebäude, in dem im neunzehnten Jahrhundert eine höhere Schule untergebracht war. Auf halber Höhe des Treppenhauses stand ein Fenster offen, durch das angenehm warme Luft hereinströmte. Sie lehnte sich hinaus. Gegenüber, in dem kleinen Schuhladen, wurde das Schaufenster neu gestaltet. Frau Melter, eine der Servicefrauen des Cafés, öffnete im Vorgarten die großen beigefarbenen Sonnenschirme und wischte mit einem Lappen den Tau von den Tischen und Stühlen. Mara ging weiter. Sie war froh, hier arbeiten zu dürfen. Die meisten der Kommilitoninnen, die mit ihr Kunstgeschichte studiert hatten, hatten keine feste Anstellung in einem Museum oder Ähnlichem, sondern mussten sich mit irgendwelchen Jobs, die nicht das Geringste mit dem Studium zu tun hatten, zufriedengeben. Mara hatte Glück gehabt, als sie sich vor eineinhalb Jahren um die Stelle beworben hatte.

      In der Eingangshalle standen Frau Taufrisch, eine der Sekretärinnen, und Susanna, Maras Praktikantin, zusammen vor dem schwarzen Brett. „Heute steht schon wieder was von der Ausstellung in der Badischen Zeitung!“ rief Frau Taufrisch Mara entgegen und heftete einen Zeitungsartikel an die schon mit Meldungen volle Pinnwand.

      Mara stellte sich zu den Beiden.

      Sie las die Überschrift: „Die Figurensammlung Il Legri verzaubert.“

      „Alles nur Lobeshymnen“ sagte Frau Taufrisch und lächelte Mara an.

      „Oder hier: Das Museum für Neue Kunst wird zu einem Sommerzauber."

      „Ein Spiel aus Farben erfreut den Besucher“ las Susanna und darunter: „Der Kuratorin ist ein Glücksgriff gelungen“.

      Gerade kam ihr Chef, Herr Martin, aus der Säulenhalle. Dort drängte sich eine Gruppe von Kunstinteressierten um die Skulpturen. Seit die Ausstellung eröffnet war, konnte sich das Museum kaum mehr vor Besuchern retten.

      Herr Martin trat zu ihnen und sagte: „Also unglaublich! Man hat ja das Gefühl, dass alle nur noch die Ausstellung sehen wollen.“ Er stand da und drehte an seiner Armbanduhr, so als würde sie nicht richtig sitzen. Mara fand ihren Chef attraktiv; schlank mit dunklem Haar, das er manchmal fast schulterlang trug und einem vornehm geschnittenen Gesicht. Oft schwarz gekleidet, wirkte er wie ein wohlerzogener Sohn aus einer spanischen Adelsfamilie.

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