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Inmitten der Heide. Werner Hetzschold
Читать онлайн.Название Inmitten der Heide
Год выпуска 0
isbn 9783742770363
Автор произведения Werner Hetzschold
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Nach dem Ersten Weltkrieg kaufen sie ein Handtuchfeld im Oberdorf von Stupozke. Südlich grenzt ihr Besitz an die Tschischerascher Berge, eingerahmt vom Hochwald, vor dem der Zollweg von Schlesien im Osten kommend sich nach Westen in Richtung Lubuš hinzieht. In Richtung Norden führt der Weg ins Unterdorf, ins Hauptdorf von Stupozke. Dort befinden sich die Bauernhöfe, die Kirche, die Gaststätte mit Tanzsaal, der Schmied. Auf diesem Handtuchfeld im Oberdorf gleich neben der Straße nach Plesow, einem breiten, zerfurchten Sandweg, errichten Otto und Liese ihr Haus. Alle im Dorf ansässigen Gewerke beteiligen sich am Hausbau. Zunächst wird die Baugrube, der künftige Keller ausgehoben. Als Werkzeug dienen Spaten, Schaufeln, Eimer und Winden. Über den mit Steinplatten abgedeckten Keller wird das Gebäude in Ziegelbauweise Stein um Stein hochgezogen. Der im Herbst 1927 abgeschlossene Rohbau bleibt über die Wintermonate bis zum nächsten Frühling Frost, Schnee, Kälte überlassen.
Im Sommer des folgenden Jahres beziehen Liese und Otto ihr Haus im Oberdorf unmittelbar vor dem Zollweg und dem Hochwald. Der Erwerb des Grundstückes und der Bau des Hauses hat alle Ersparnisse aufgebraucht. Kredite bei Banken nehmen sie nicht auf. Sie misstrauen diesen Institutionen. Die eigene Familie ist verlässlicher.
Als Hausfrau konzentriert Liese ihre volle Aufmerksamkeit auf Haus, Grundstück und ihre Kinder; Fritz heißt der Erstgeborene, Heinz der Fünfjahre jüngere zweite Sohn. Im Dreischichtsystem ist Otto als Lokomotivführer der Grubenbahn im Einsatz.
Nach dem Umzug von Liese und Otto nach Stupozke verbleibt Fritz bei den Großeltern in Jordan. Dort beendet er die Schule, um anschließend eine Ausbildung als Kaufmann in der Stadt aufzunehmen, in der einst seine Mutter als Dienstmädchen sich ihren Lebensunterhalt erwarb. Nie wieder wird Fritz zurückkehren. Seine Mutter ist stolz auf ihren Großen. Ein kluger Kopf ist er. Luise erwartet, dass ein guter Geschäftsmann aus ihm wird. Hätte sie die finanziellen Mittel, könnte sie ihm den Weg zu einer Höheren Schule ebnen, ihn studieren lassen. Wie der Herr Postdirektor und der Herr Pfarrer könnte ihr Großer ein feiner Herr werden. Das Zeug dazu hat er. Dessen ist sich Luise sicher. Nur ungerecht ist die Welt. Sie kann das Schulgeld nicht aufbringen. Alles Vermögen hat das Haus verschlungen. Der jüngere, zweite Sohn besucht die Schule in Stupozke.
Unmittelbar hinter dem Haus befindet sich der Auslauf für das Geflügel, für Hühner und Enten. Auf diesem Gelände errichtet Otto auch die Holzfeime, fein säuberlich und akkurat gestapelt. Otto sagt immer: „Wenn die Holzfeime ordentlich aufgeschichtet sind, kann auf ihnen getanzt werden.“ Hinter dem Geflügelauslauf legt sich Liese einen kleinen Blumengarten an und einen großen Gemüsegarten.
Alle Grundstücke im Oberdorf verfügen über keine Kanalisation. Der Abfluss ist sehr störanfällig, für Abwaschwasser ungeeignet. Schnell ist er verstopft. Deshalb wird alles Wasser in Eimern in den Garten getragen. Unmittelbar am Zaun zu den Feldern wird das Schmutz-Wasser ausgeschüttet, versickert schnell in der Erde.
Liese und Otto sind mit dem Tagebau aufgewachsen, haben das Entstehen der Gruben, die Rodung der Wälder, die Vernichtung der Heidelandschaft, die Abraumhalden, das Verschwinden des Grundwassers, die Verpestung der Luft, die Verschmutzung einer ganzen Region, die Zuwanderung vieler Menschen bewusst erlebt. Aber sie wissen auch, dass der Bergbau den Menschen Wohlstand, ein gesichertes Einkommen bringt.
Liese sitzt auf ihrem Küchenstuhl, starrt aus dem Küchenfenster, weint. Vor ihr auf dem Tisch liegt ein Brief, daneben ein Briefumschlag, äußerlich erkennbar als amtliches Schreiben. Immer wieder greift sie nach dem Brief, liest, schüttelt den Kopf, schreit in die Stille der Küche: „Das kann nicht wahr sein! Das darf nicht wahr sein! Ich will meinen Fritz zurück!“ Sie will sich die bittere Wahrheit nicht eingestehen. „Ich will meinen Fritz zurück!“, schluchzt sie. Liese hält die Hand vor den Mund, um die Klage, den tiefen Schmerz, die Trauer zu unterdrücken. Sie will ihre Gefühle vor den Nachbarn verbergen. Sie spricht mit sich selbst: „Mein Junge ist tot. Mein intelligenter, kluger, strebsamer Junge ist nicht mehr! Meine Hoffnungen, meine Sehnsüchte werden sich nicht erfüllen. Mein Fritz sah blendend aus, war vornehm, ehrgeizig, hatte eine Zukunft als Kaufmann vor sich. Er war anders als Otto und Heinz. Die beiden sind Handwerker, verstehen etwas von ihrem Fach, können eine Familie ernähren, aber mein Fritz war gelernter Kaufmann, hatte es schon weit gebracht in Erfurt. Ob seine Frau benachrichtigt worden ist? Ich muss Kontakt mit Erfurt aufnehmen!
Vor dem Gartentor sitzt Opa Otto, der Ehemann von Liese, auf seiner Bank und dengelt die Sense, raucht dabei genüsslich seinen Stumpen, als Lieses Stimme ihn aus seinen Gedanken reißt.
„Die Russen kommen!“ Es ist kein Gerücht. Die Russen kommen tatsächlich. Selbst die, die bisher nicht nachgedacht haben, werden nachdenklich. Vermutlich glauben sie auch nicht mehr an den Endsieg, der ihnen versprochen wurde. Selbst die Überzeugten scheinen zu zweifeln. Sie sind leiser geworden. Liese misstraut den offiziellen Nachrichten, die gedruckt vor ihr liegen als Zeitung oder im Rundfunk verkündet werden. Seit dem Tod ihres Sohnes Fritz hat Liese den Glauben verloren. An keine Botschaft, ganz gleich wer sie verkündet, glaubt sie. Die Nachbarn erzählen sich unter vorgehaltener Hand, dass in den Feldern in unmittelbarer Nähe des Dorfes Tote gefunden worden seien. Keiner weiß, wer die Toten sind, zumindest sind sie nicht aus dem Dorf oder aus den Nachbardörfern. Wahrscheinlich sind es Flüchtlinge.
„Die Russen kommen!“ Es ist die Wahrheit. Liese ist klar, es hat keinen Sinn, es hat keinen Zweck, das Tor zu verriegeln. Ein verschlossenes Tor hält die nicht zurück, zieht sie eher an. Da Liese um den Zustand des Tores fürchtet, wenn sie es schließt, lässt sie es weit offen stehen.
„Wir haben nichts zu verbergen“, sagt sie zur Nachbarin. „Umso offener, umso sicherer“, fährt Liese in ihrer Rede fort. „Umso gastfreundlicher sie empfangen werden, umso freundlicher werden sie zu uns sein. Ich kann mich auch irren. Ich lasse mich von dem Gedanken leiten, dass der Besiegte dem Sieger ausgeliefert ist. Das ist ein Naturgesetz, möchte ich sagen. Und dagegen kann ich mich nicht auflehnen. Ich kann nur versuchen, das Beste aus der Situation zu machen.“
Die Nachbarin flüstert. Die Angst zittert in ihrer Stimme. „Sie kommen!“, kreischt sie, flieht von der Straße, sucht Zuflucht im Haus.
Liese zieht sich auch zurück. Hinter der Gardine lauernd, verfolgt sie das Geschehen auf der Straße.
„Sie kommen auch zu uns“, meldet sie. Otto muss sich setzen.
„Bis jetzt haben wir alles überlebt.“ Liese versteht ihn kaum.
„Auch diesen Besuch werden wir überleben“, sagt Liese. „Sie sehen wie Menschen aus. Du bleibst hier, Otto!“, befiehlt sie mit fester Stimme. „Ich gehe ihnen entgegen.“
Vor der geöffneten Haustür erwartet sie die Besucher. Sekunden werden zur Ewigkeit. Sie vernimmt Schritte. Ihr Herz pocht. Deutlich hört sie ihren Herzschlag. Nur kurz zuckt sie zusammen, als vier Männer um die Ecke biegen. Sie reißt sich zusammen, zaubert ein frisches, freundliches Lächeln auf ihr müdes Gesicht.
„Sie bekommen Einquartierung!“, sagt ein blonder Hüne in gutem Deutsch.
Wie ein Untermensch sieht der nicht aus, denkt Liese, eher wie die Edelgermanen, die die Braunen züchten wollten. So muss Armin der Cherusker ausgesehen haben. Nur dass der Armin einen langen Bart und wehende blonde Locken gehabt hatte! Zumindest auf den vielen Bildern! Liese erinnert sich an die Abbildungen, an die Geschichten aus ihrer Jugendzeit.
„Folgen Sie mir bitte ins Haus!“ Liese fallen die vielen Höflichkeitsfloskeln ein, die sie sich bei den Herrschaften angeeignet hatte, um würdig im Haushalt des Pfarrers und des Postdirektors repräsentieren zu können. Repräsentieren – das war auch so ein Wort, das sie damals in ihren Wortschatz aufnahm. Später in ihrer Ehe war dieser Ausdruck in Vergessenheit geraten. „Otto, wir haben Besuch!“
Beim