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anderen sich stauten, mit Nachnamen Bauer, Müller oder Michl geheißen, so wäre sein Spitzname wahrscheinlich SS-Müller und so weiter geworden. Aber Silvio-Sven hieß mit Nachnamen Aé und daraus konnte man nun wirklich gar nichts machen. Als Leroy es endlich geschafft hatte, seine Rundungen aus der Umklammerung des Stuhles zu lösen, drängten die Schüler aus dem Raum, wie Sprudel aus einer geschüttelten Flasche. Lena machte weiter Plätze auf Ian gut, der an der Tür mit einer generösen Geste Vivien den Vortritt ließ. Das junge Mädchen machte einen Schritt aus der Tür und drehte sich dann im Flur auf, so dass sie neben Ian laufen würde. Im Gang war es schon sehr laut. Eigentlich war die Einteilung so, dass die Klassen sich abwechselnd die Bücher holen sollten. Doch den Geräuschen nach, waren wohl alle Schüler auf den Beinen. Bei einem Probefeueralarm gelang das selten.

      „Es ist wohl Ärger im Paradies?“, fragte Vivien. Sie mussten an einer der Feuerschutztüren warten. Logischerweise hatten diese Türen einen Holzrahmen. Doch der Umstand, dass sie nur mit dem Kraftaufwand von fünf Siebtklässlern geöffnet werden konnten und deshalb spätestens ab dem zweiten Schultag immer sperrangelweit offenstanden, indem sie mit dem Metallhaken in der Öse befestigt wurden, machte sie noch obsoleter.

      „Nein, alles paletti“, antwortete Ian ausweichend.

      Auch wenn er Vivien mochte, wusste er, dass es keine gute Idee wäre, mit ihr über solche Sachen zu reden.

      Lena hatte mit Vivien geredet. Sie hatte sich bei ihr beschwert, dass Ian ihr einfach nicht schrieb. Es kotzte sie schon an, dass er ihre Bilder auf SchülerCC nicht kommentierte. Ian hatte immer eine fadenscheinige Ausrede parat, von wegen; kein Handy, keinen Computer und so einen Mist. Ihrer Meinung nach sollte er dann einfach mal den Mut haben, seine Eltern zu fragen. Konnte ja nicht so schwer sein. Unter strengster Geheimhaltungsvereinbarung hatte Lena Vivien das alles erzählt.

      Lena war schnell mal eingeschnappt, wenn sie nicht die Aufmerksamkeit bekam, die sie ihrer Meinung nach verdiente. Und sie hatte mit viel mehr Aufmerksamkeit seitens Ian gerechnet, gerade nach dem Kuss.

      Etwa eine Viertelstunde von der U-Bahnstation „Paulmander Nord“ entfernt, nah des Bokettoberges, gab es einen See, an dem die Schüler traditionell den Nachmittag ihres letzten Schultages verbrachten. Letztes Jahr waren Ian und Lena dafür noch zu klein gewesen, deshalb stromerten sie stattdessen in den schmalen Gassen am Bokettoberg herum und setzten sich irgendwann an das Ufer des Tuhlm. In dem kleinen Park gab es mehrere Bänke, meist waren sie von Rentner besetzt. Die hatten immer Zeit. Doch an diesem Tag schienen Ian und Lena Glück gehabt zu haben.

      Lena hatte für sich und Ian jeweils einen griechischen Joghurt gekauft. Der Vater ihrer Mitschülerin Maria führte ein Restaurant. Es befand sich in dem Keller des älteren Einkaufcenters. Früher sah dieses Gebäude fremd zwischen den Altbauhäusern des Außenbezirkes aus. Doch nun hatten Häuser dieser Art die Vorherrschaft in Paulmander errungen.

      Den Joghurt aßen sie mit einem kleinen Löffel, den Freya verächtlich weggeschmissen hätte.

      Etwa bei der Hälfte, ein Kanu zischte gerade an ihnen vorbei, fragte Lena Ian, ob er sie küssen wollte. Es war so unromatisch, aber auch so kindlich einfach gewesen. Ian hatte zwar gar keine Ahnung, doch nutzte die sich ihm bietende Chance. Er nahm Lenas schmale Hand, an der sie ein Armband trug, das zu ihrem Halsschmuck passte. Dann zog er an der Hand und ihre Schulter fiel nach vorn. Schnell beugte sich Ian zu ihr und küsste sie auf die kalten Lippen, die nach Apfel schmeckten.

      Lena kicherte.

      „Das musst du anders machen“, so hatte sie es zumindest in Zeitschriften gelesen, die ihre Mutter und ihre große Schwester lasen. Sie nahm sich Ian und streckte etwas zu früh ihre Zunge heraus. Der Belag war vom Essen weiß. Im Mund von Ian wusste sie dann aber auch nicht, was sie machen sollte und so fühlten sich die wenigen Sekunden ziemlich lang an. Es war nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatten, aber irgendwie doch ganz schön. Irgendwie doch ganz okay. Lena fragte sich, ob sie jetzt erwachsen wäre.

      Den letzten Teil hatte sie Vivien nicht erzählt, den ganzen Rest hingegen schon. Und Vivien hatte es Tania erzählt und das erklärte, weshalb Tania und Lena die Köpfe zusammensteckten, als sie die Treppen hinunter gingen.

      Vor dem Bücherraum stand eine Schlange, die noch aus etwa sechs Schülern bestand. Frau Giebenrath teilte die Bücher aus. Die Schüler mussten den Empfang, so wie absurderweise den einwandfreien Zustand der Bücher bestätigen. Die Schimmelflecken, die herausgerissenen Seiten und die aufgemalten Hitlerbärtchen existierten dann für ein Jahr nicht mehr. Erst bei der Bücherrückgabe tauchten sie wieder auf. Ian bekam seinen Stapel und sah, dass der Haufen größer war als letztes Jahr. Während er Vivien die dicksten Bücher abnahm, fragte er sich, wie Lena die ganzen Bücher nachhause tragen wollte. Würden sie überhaupt in ihre Tasche passen?

      Frau Lärmer-Nilmarch schickte die letzte Reihe zum Bücherholen. Danach erklärte sie, dass die Bücher eingeschlagen werden sollten. Ian blätterte die erste Seite seines Deutschbuches auf. Dabei fragte er sich, ob einer seiner fünfzehn Vorgänger das Buch eingeschlagen hatte. Der Unterricht war fast vorbei, als endlich alle wieder oben waren. Ahmet schaute auf seine Vorgängerliste und haute seinem Kumpel Deniz mit einem Neandertalergrunzen auf den Rücken.

      „Höhö, isch hab´ Riccardas.“

      Deniz zog an Ahmets Mathebuch. Er wollte nachschauen. Riccarda war aus der Neunten und deshalb ein Thema, weil sie Melonen hatte, die größer waren als Leroys Bauch.

      „Pfff“, schnaubte Lena verächtlich, „die mit ihrem ekligen Atombusen. Wie kann man so was nur geil finden.“

      „Ja stimmt“ und „Mhmmhm“, nickten Schlagmann und Franz eilig. Das waren zwei Ja-Sager vor dem Herrn. Schlagmann, weil er sich einschleimen wollte und Angst hatte, nicht mehr bei den Coolen sein zu dürfen und Franz, weil er mit seinen überlangen, überdünnen Gliedmaßen nicht nur wie eine Marionette aussah, sondern sich auch wie eine verhielt. Franz schien keine Meinung zu irgendwas zu haben. Lena schaute Ian an und wartete, ob er ihr zustimmte. Schlagmann und Franz schauten ihn genauso an, da er es eigentlich war, der die Befehle gab und die beiden nun unsicher waren, auf wenn sie hören sollten. Frau Lärmer-Nilmarch, die hier eigentlich die Chefin sein sollte, beendet einen Tick vor dem Gong die Stunde. Mit einem Mal rückten alle Stühle über den Linoleumboden, der von der Kippelei Dellen und von den schwarzen Gumminoppen Striemen hatte.

      Sie hatten fünf Minuten, um vom Raum 401 zum Raum 213 zu gelangen. Auf den vollen, schmalen Gängen dauerte das ewig. Für Toilettenbesuche war keine Zeit. Bei Frau Szchemanek, der Englischlehrerin, wollte wirklich niemand zu spät kommen, denn sie konnte ein Drache werden. Allerdings wollte man bei ihr auch nicht auf die Toilette müssen. Ian fand es schon demütigend genug, andere um die Erlaubnis fürs Pissen zu fragen, aber bei Frau Szchemanek konnte man sich das gleich sparen. Nie im Leben würde sie ein Verlassen des Unterrichtsraumes für so einen irrelevanten Grund erlauben. Naja, wenigstens war sie konsequent, denn Trinken durfte man bei ihr auch nicht. Ahmet Ezzedine hatte es einmal versucht. Sie hatte ihn nach vorn zur Tafel geholt, auf Englisch ermahnt und gleich mal mündlich drangenommen. Ahmet war in Englisch eine Niete, nicht einmal die Fragen hatte er verstanden. Die Note Fünf hatte Frau Szchemanek auf Deutsch ausgesprochen. Klar, deutlich und deutsch. Dabei hätte Ahmet dieses Zahlwort ausnahmsweise gekannt, da er den Großteil seiner Schulzeit damit verbrachte, mit seinem Sitznachbarn Deniz „High Fives“ einzustudieren.

      Auch der Raum 213 ordnete die Tische in einer U-Form an. Allerdings waren hier die Abstände zur Wand größer. So konnte Ian ein paar Zentimeter zurückrutschen und Lena den Blick auf die Tafel gewähren. Als Frau Szchemanek fünf Minuten nach dem Klingeln, bei ihr war das kein Thema, in den Raum kam, war die Tafel noch leer. Da war es auch kein Problem, dass Lena wenig sehen konnte. Doch Frau Szchemanek schaffte es stets in einer atemberaubenden Geschwindigkeit die Tafel mit ihrer großen, aber schiefen Schrift vollzuschreiben. Dabei redete sie unentwegt und ausschließlich auf Englisch, während die Metallhalterungen, in denen sie die Kreide steckte, damit sie keine schmutzigen Hände bekam, wie in einem Comic über die grüne Tafel flogen. Dann bekam Lena meist ein Problem, denn für so etwas war eine U-förmige Sitzordnung Mist, egal wie sehr Ian rutschen würde. Die Wandreihe und die Fensterreihe beugten sich, aufgereiht wie Orgelpfeifen,

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