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Nicht alle sehen gleich aus. Monica Maier
Читать онлайн.Название Nicht alle sehen gleich aus
Год выпуска 0
isbn 9783753191881
Автор произведения Monica Maier
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Издательство Bookwire
Der Mann mit der Zeitung drehte sich um und sah die beiden komisch an, ohne ein Wort zu sagen.
„Wir? Es gibt eindeutig ein Problem mit dem Steuersystem in Deutschland, okay, viel Geld wird auch verschwendet, dafür haben wir einen Sozialstaat“, antwortete Annika leise und registrierte aus dem Augenwinkel, dass der Mann vor ihnen seine Zeitung zusammenfaltete, als hätten sie jetzt hoffentlich endlich genug darüber gequatscht. „Ist das meine Schuld?“ Auf einmal wurde sie sauer. Karim vergriff sich gerne im Ton und projizierte auf sie als Deutsche Dinge, für die sie gar nichts konnte. Er kannte dieses Verhalten schon von sich und lächelte sie entschuldigend an. „Selbst in Europa oder Deutschland ging es manchmal auch nicht gerade unkorrupt zu“, fuhr sie fort, „allerdings passiert es da eher im schicken Anzug und geht um andere Beträge als die sieben oder neun Euro, die euer Polizist letztens bei unserer Kontrolle eingeheimst hat, weil du keinen Führerschein dabeihattest. Erinnerst du dich noch? Ist ja fast sympathisch, möchte man sagen, ist es aber natürlich nicht. Alles ist relativ. Wenn die Polizei mein Geld will, wie bei euch, damit ich ohne Führerschein oder Lizenz zum Touristenrumkutschieren bei einer Kontrolle weiterfahren darf, dann ist für mich da schon eine Grenze überschritten. Das heißt, mit Geld keine Strafe im Straßenverkehr und eine rasche Behandlung und ein Krankenbett. Da müsste eure Politik was machen. An was es bei euch generell fehlt, ist ein gutes Gesundheitssystem mit Krankenversicherung, vor allem für Menschen ohne Geld. Die Leute sterben, weil sie kein Geld haben und nicht einmal genug oder keins verdienen können, weil die Arbeit so schlecht bezahlt ist!“
Karim meinte: „Stimmt, bei uns leben viele von Tag zu Tag und von der Hand in den Mund. Aber offene EU-Grenzen, Schlepper und Menschenhandel und so? Eure Asylpolitik ist doch seit Jahrzehnten nicht zu Ende gedacht. Endlich fällt es mal so richtig auf. Wir hatten nochmal Glück mit dem Boot, was aus denen wohl geworden ist?“
Die Diskussion endete mit seinem Gähnen, während er schon die Augen schloss. Sie tat es ihm nach. Seine relaxte Art war meist klüger und gesünder als ihr logisches Gehirn, das, typisch deutsch, zu viel grübelte und sich damit selbst in Frage stellte. Probleme gab es genug auf der Welt.
Die Stadt Berlin war vier Stunden später im Anflug und der Flughafen Tegel im Norden saugte das Ehepaar in sich ein. Zurück zu Hause zu sein fühlte sich am ersten Tag gut an. Endlich wieder europäische Toiletten, wohin man nur blickte, sorglos trinkbares Leitungswasser, Leute vom Zoll und Polizei am Flughafen, bei denen man zu 100 Prozent damit rechnen konnte, dass sie kein Bakschisch erwarteten, damit man schneller an der Grenze vorbeikam. Sie nahmen den Bus zur S-Bahn Beusselstraße und stiegen dort um.
Leider gab es wieder eine der vielen Baustellen und die Heimfahrt dauerte länger als erwartet. Die Sonne ging schon langsam unter, als sie die Treppen ihres Mietshauses hinaufstiegen. Ihre Nachbarin Susanne hatte die Post auf die Kommode im Flur gelegt. Es waren wie immer ein paar Rechnungen darunter und noch immer ein Brief zum Thema Fluglärm vom Berliner Senat. „BER“ als Kurzbezeichnung für den neuen Flughafen im Süden Berlins kam sicher nicht vom Volk der Berber, sondern war seit 2012 nach der Nichteröffnung der Flughafencode für alle Berliner Flughäfen geworden, aber besonders eben für diesen unfertigen Flughafen Berlin Brandenburg, der nach einem deutschen SPD-Politiker benannt wurde. Aber auch eine Postkarte aus Tarifa, die sie sofort zu lesen begann. Sie war nicht, wie zunächst vermutet, von Simone.
„Bonjour Madame, bonjour Monsieur,
Je vous remercie beaucoup pour votre aide. Je suis arrivé à Tarifa et j’ai contacté votre amie. Elle m’a donné un logement pour quelques jours. Ça va bien. Inch’Allah! Merci! Votre ami, Mamadou”
„Von wem ist die denn?“, fragte Karim.
„Von Mamadou aus Mali, er ist jetzt tatsächlich in Tarifa“, antwortete Annika ungläubig und reichte ihm die Karte. Als er sie selbst las, kombinierte er, dass seine Frau ihm von Simones Hostel erzählt und ihm Geld zugesteckt haben musste. Denn der Malier wohnte für ein paar Tage bei ihr. Karim wollte wissen, wie viel sie ihm denn gegeben habe.
„Nur 50 Euro, die habe ich ihm zugesteckt, als er in Tanger vor mir aus dem Boot gestiegen ist und mir noch geholfen hat auf den Steg zu steigen!“, lautete ihre Antwort.
Er unterdrückte ein Kopfschütteln: „Wenn ich das gesehen hätte! Ihr Deutschen seid zu nett! Aber mach, was du denkst, mir hast du ja auch helfen können mit deiner christlichen und sozialen Ader!“
„Genau!“, erwiderte sie.
„Gib das Geld beim nächsten Mal lieber meinen Nichten, die haben nicht mal genügend warme Kleidung im Winter“, meinte er etwas schroff. Sie führten diese Diskussion darüber oft, weil Annika schon lange als Lehrkraft für Deutsch als Fremdsprache beschäftigt war und so viel Energie in die neuen ausländischen Zugewanderten pumpte, ohne zu wissen, ob es sich am Ende überhaupt für ihre Schülerinnen und Schüler lohnte. Es hing davon ab, ob und wie lange sie bleiben durften, ob sie denn überhaupt eine lohnenswerte Arbeit fanden und auch länger oder für immer in Deutschland leben wollten. Manchmal schien Karim ihre Gedanken zu lesen, für sie das Zeichen einer guten Ehe. Er hatte ihrer Meinung nach aber leicht reden, weil er zumindest beruflich nichts mit den zugewanderten Menschen zu tun hatte und er selbst nur Schüler in einem Integrationskurs gewesen war, während sie täglich ganze Klassen und Schicksale vor sich vereint sah. Sie sollte wirklich nicht die ganze Welt retten, schienen seine wachen Augen also zu sagen, sie kannte ihn und sie kannte sich selbst. Aber für ein paar lohnte sich der Einsatz immer, das war auch genau das, was ihr an diesem Beruf gefiel, erwiderte sie mit ihrem Blick, ohne die gemeinten Worte auszusprechen.
Am nächsten sonnigen Montag Ende September hieß es dann auch wieder arbeiten. Annika blickte noch nicht ganz ausgeschlafen aus dem Küchenfenster. Sie griff an diesem frühen Morgen zur Kaffeetasse vor sich auf dem Tisch und zählte: „Zwei!“ Dabei ging es um eine Maschine der Emirate Airways. Während sie in den knackigen Toast biss, wurde ihr Essgeräusch vom Schall des Flugzeuges mal wieder haushoch überboten. Der blaue Himmel über ihr in der Nähe des 1974 eröffneten Tegeler Flughafens lag in der Einflugschneise. Der Bezirk Pankow, der von dem kleineren Fließgewässer der Panke seinen Namen hatte, war ein früherer Stadtteil Ostberlins, in dem zu DDR-Zeiten viele SED-Genossen und Künstler lebten und immer noch leben. Die Nachsilbe „ow“, wie ein „o“ ausgesprochen, stammte aus dem Slawischen, weil das 1244 gegründete Berlin historisch betrachtet eine slawische Siedlung war. Eine etymologische Vermutung, den Namen betreffend, ging dahin, dass Berlin „Siedlung bei einem Sumpf und Morast“ bedeutete. Ganz sicher wusste eine Germanistin wie sie das nicht, vielleicht hieß es auch Floßstelle, das hatte sie zumindest mal gelesen.
Gewiss war, dass es sie immer noch gab: die Einteilung in Ost- und Westdeutschland nach dem Kalten Krieg und der Mauer. Dank der europäischen Osterweiterung hatten sich zwei gesamtdeutsche Parallelgesellschaften herausgebildet, was durch den Mentalitätsunterschied und die „Kolonialisierung“ durch die USA im Westen und Russland im Osten bedingt war. Manchmal startete eine Maschine im Sommer alle fünf bis zehn Minuten, und dann kam es auf den Wind an, wie laut es über den Köpfen der echten und hinzugezogenen Pankower wurde. Der Sound in der Straße war heute noch deutlicher als sonst zu hören. Eine große, wie laute Maschine flog den Militärflugplatz in Tegel an, auf dem schon Obama gelandet war, bevor er den militärischen Einsatz gegen Syriens Präsidenten unterließ. Nicht nur in Marokko, sondern natürlich auch in Deutschland waren die Medien von Kriegsnachrichten in dem Land überflutet. Annika schaltete das Küchenradio lieber aus, sie konnte es nicht mehr hören, weil es sie traurig machte und schlecht auf den heutigen Unterricht einstimmte.
„Ich glaube es nicht. Nummer Drei!“, rief sie Karim aus der Küche in den Flur zu, der dem Schlurfen der Schritte nach aufgestanden war und kurz darauf mit einem verschlafenen „Morgen Schatz!“ den Raum betrat.
„Eins, zwei, drei“, rappte er gut gelaunt, während er in die Zuckerdose griff, um seinen Kaffee mit drei Löffeln