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akzeptierte ich sie dankbar, ohne mir allzu sehr den Kopf darüber zu zerbrechen. Immerhin waren wir eine Künstlerfamilie, und da war für jemanden wie Vairrynn allemal der richtige Platz. Das glaubte ich.

      An jenem Sturmzeitabend las ich also von den Irrungen und der Glorie der Chyndrai, als die Türglocke durchdringend durch das Haus hallte. Wir alle zuckten zusammen wie ertappte Missetäter. Selten kam jemand unangemeldet zu dem Holzsteinschnitzer Neoly, und schon gar nicht zu so später Stunde, es sei denn, dieser Jemand war mein Großvater. Und die Besuche des alten Patriarchen bei seinem Erstgeborenen waren selten friedvoll.

      »Würdest du wohl in nächster Zeit an die Tür gehen?«, fragte mein Vater nach einem Moment und beugte sich wieder über seine Figurine. Die Frage war an mich gerichtet; da Dlindgy, unser Mädchen für alles, heute ihren freien Abend hatte, war es meine Aufgabe, die Tür zu öffnen. Seufzend legte ich mein Buch aus der Hand und machte mich auf den Weg. Ich meine das, wie ich es sage, denn um vom Familienzimmer, das auf den Garten hinauszeigte, zur Vordertür zu gelangen, musste ich fast durch das ganze Haus, und es war ein großes Haus.

      Als sein Ältester es sich in den Kopf gesetzt hatte, nach seiner Heirat nicht im Stammsitz der Familie wohnen zu bleiben, hatte der alte Neoly getobt, zumindest den stetig wiederholten Berichten meiner zahlreichen Großtanten zufolge; aber er hatte sich nicht lumpen lassen wollen und seinem Sprössling eines seiner spatiösen Küstenhäuser als Hochzeitsgeschenk verpasst. Schließlich sollte der Erste Sohn einer Großen Alten Familie wenigstens standesgerecht leben, wenn er es schon nicht unter dem Dach seiner Vorväter tat. Und so hallte die Glocke noch mehrmals durch die weiten Räume, ehe ich, leise vor mich hin schimpfend, die Tür erreicht hatte und endlich unserem späten Besuch öffnen konnte. Der Besuch war nicht mein Großvater.

      Vor unserer Tür stand eine kleine, rundliche Frau in einem reichbestickten, dunkelblauen Kleid und einem grauen Kapuzenumhang. Mir, dem neunjährigen Kind, kam sie uralt vor. So viele Runzeln und Falten durchzogen das breite Gesicht, dass keine Charaktereigenschaft es besonders gezeichnet zu haben schien. Ihr Haar, zu einer komplizierten Hochfrisur aus unzähligen Zöpfen aufgesteckt, war schneeweiß. In ihrer knochigen Hand hielt die Alte einen knorrigen Stab. Er war aus Holz, noch dazu aus dunklem Lkholz. Nichts auf Singis ist heiliger. In dem breiten Knauf, auf den die Fremde fast liebevoll ihre Hand gelegt hatte, war das Antlitz einer Frau eingeschnitzt, die eine Ährenkrone im geflochtenen Haar trug.

      Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre vor der Alten auf die Knie gefallen. Ich wusste sehr wohl, wer und was sie war; zu oft hatte ich sie auf der Holographischen Wand gesehen und mir von meinem großen Bruder ihre Position erklären lassen müssen. Aber ich verstand beim besten Willen nicht, was sie hier vor unserer Haustür tat.

      Ich wäre wohl bis ans Ende der Zeit dagestanden, hätte die Alte nicht ihre dunklen Augen zusammengekniffen und mit krächziger Stimme gefragt: »Hast du nun genug gesehen, Mynrichwy Neoly? Darf ich eintreten?«

      Mein Name aus dem Mund der Alten holte mich aus meiner Erstarrung. Eilig murmelte ich eine Begrüßung, wobei mir siedendheiß einfiel, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich sie anzureden hatte; wahrscheinlich blamierte ich meine Familie gerade bis auf die Knochen. Doch die Alte lachte nur gackernd und rauschte an mir vorbei. Restlos verwirrt eilte ich ihr hinterher, um wieder zu ihr aufzuschließen und sie in die Empfangshalle zu führen. Dann huschte ich, so schnell ich konnte, zurück ins Familienzimmer.

      »Nun, wer ist es?«, fragte mein Vater, als ich den Kopf zur Tür hineinstreckte. Ich schluckte, weil ich plötzlich befürchtete, er würde mir nicht glauben.

      »Die … die Erste Dienerin der Lchnadra, Vater.«

      Meinem kleinen Bruder fiel die Kinnlade herunter, aber sonst wirkte niemand auch nur im Entferntesten befremdet, dass das Oberhaupt des Ordens der Großen Göttin unserer kleinen Familie einen abendlichen Besuch abstattete. Vater legte bedächtig sein Werkzeug aus der Hand und tauschte einen Blick mit Mutter, der Bände sprach, auch wenn die in einer Sprache geschrieben waren, die ich nicht verstand. Vairrynn lächelte, und ein seltsames Glänzen war in seinen hellen Augen. Raubtieraugen haben wir Singisen laut den Terranern, und wann immer sich dieser Ausdruck in das Gesicht meines Bruders stahl, verstand ich ein wenig, warum sie das behaupteten.

      »Dann wollen wir die Ehrwürdige nicht warten lassen«, meinte mein Vater mit schwerer Ironie in der Stimme, die ich heraushörte, aber nicht deuten konnte. Ich sehnte mich danach, mit Vairrynn zu reden, damit er mir erklären konnte, was das alles sollte, aber er folgte Vater und Mutter wie ein Schatten, und Mudmal und ich zuckelten hinterher, in nagender Neugier vereint.

      Es dauerte eine Weile, bis wir die Erste Dienerin in dem Wald von Statuen fanden, die unsere Empfangshalle bevölkerten. Der weite Saal mit der hohen Decke, den filigran gravierten Säulen und geschliffenen Fenstern war eines Patriarchensohns durchaus würdig, ließ aber gleichzeitig keinen Zweifel an Eftnek Neolys Künstlertum. Die Erste Dienerin der Lchnadra stand vor einer Statue, die die Frau eines von Vaters Freunden darstellte, die kurze Zeit zuvor an dem Biss einer Kachta gestorben war. Ich hielt sie für eine von Vaters wehmütigsten Schöpfungen, eine durchscheinend zierliche Frau, die zusammengekauert auf einem bizarr geformten Felsen saß, das lange, aufgelöste Haar wie ein Schleier über dem Gesicht, mit bloßen Füßen und gekrümmten Zehen. Die Erste Dienerin betrachtete die Statue mit wiegendem Kopf.

      »Wirklich, Eftnek«, sagte sie und schnalzte mit der Zunge. »Du wirst immer besser.«

      Mein Vater verschränkte die Arme vor der Brust. »Was willst du?«

      Die Alte kniff ein Auge zusammen und schielte zu ihm hinauf. Dann hob sie blitzschnell den Stab mit dem eingravierten Göttinnengesicht und rammte ihn meinem Vater auf den Fuß.

      »Eftnek Neoly!«, krächzte sie. »Freu’ dich gefälligst, dass ich da bin!«

      Ich weiß nicht, was mich mehr schockierte: der Umgang der Alten mit einer der kostbarsten Reliquien des Reiches oder mit meinem Vater. Frauen, die so mit einem Mann umsprangen, existierten in meinem Weltbild nicht.

      »Also, was ist jetzt?«, fragte die Alte. »Wollen wir hier weiter rumstehen oder bietet ihr mir endlich eure Gastfreundschaft an? Wenigstens von dir hätte ich bessere Manieren erwartet, Lys. Du könntest mir zumindest meinen Mantel abnehmen, während dein Gatte hier dabei ist, seinen Fuß zu bedauern. Der soll froh sein, dass er den Stab nicht ganz woanders hingekriegt hat. So was von einer Unhöflichkeit! Hast du vergessen, wer ich bin, Junge?«

      Und so kam Jorngiss, die Erste Dienerin der Lchnadra, über uns wie eine Naturgewalt. Nachdem mein Vater sich zähneknirschend entschuldigt, Mutter die Alte in aller Form in unserem Haus willkommen geheißen und wir Kinder eine ausgiebige Inspektion aus den kleinen, dunklen Augen über uns hatten ergehen lassen, wurde das Ordensoberhaupt ins Familienzimmer geführt, und der Abend nahm seinen Verlauf, als wäre nur eine meiner Großtanten zu Besuch gekommen. Mutter zauberte aus dem Nirgendwo ein paar Delikatessen, und die Alte ließ sich abwechselnd darüber aus, wie wunderbar wir Kinder geraten seien und wie stolz sie auf Vater sei, der mit seiner Kunstfertigkeit, wie sie bestimmt behauptete, völlig aus der Neoly-Art geschlagen sei.

      Irgendwann schaffte ich es schließlich, meinen großen Bruder an den Kamin zu zerren, und zischte flüsternd: »Also, Vai, raus mit der Sprache! Warum besucht uns bitte schön die Erste Dienerin der Lchnadra und benimmt sich wie eine alte Tante?«

      Die grauen Augen sahen mich erstaunt an. »Na, weil sie genau das ist, Myn. Jorngiss ist Großvaters Schwester. Sag bloß, das wusstest du nicht!«

      Nein, das hatte ich tatsächlich nicht gewusst. Mit offenem Mund starrte ich ihn an. Das Oberhaupt des Lchnadra-Ordens, die einzige Frau in der Runde der Berufenen, war eine Neoly?

      »Warum habe ich sie dann nie zuvor in der Familie gesehen?«, fragte ich, als wollte ich ihn einer Lüge überführen. Es wäre nicht typisch für ihn, aber vielleicht machte er sich ja lustig über mich.

      »Nun ja, weil die Dienerinnen der Lchnadra im Grunde, wenn sie in den Orden eintreten, sämtliche Familienbande lösen und von da an ganz der Göttin angehören. Aber anscheinend nimmt sich ihr Oberhaupt einige Freiheiten heraus.«

      »Warum weißt du solche Sachen

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