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Mord aus gutem Hause. Achim Kaul
Читать онлайн.Название Mord aus gutem Hause
Год выпуска 0
isbn 9783753182087
Автор произведения Achim Kaul
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Tolle Performance, Mann, echt fernsehreif!« Phil wirkte angespannt und warf ihm einen ernsten Blick zu.
»Es geht heute nicht um Unterhaltung.«
»Schon klar. Aber du weißt, wie man die Leute richtig packt«, sagte Melzick. Sie fragte sich jedoch, ob all die Teilnehmer wussten, wie man friedlich seine Wut zeigt. Sie wusste es jedenfalls nicht. Sie stand neben Jocelyn. Gemeinsam hielten sie ein weißes Transparent hoch, auf dem in grünen und blauen Buchstaben „VEGAN FOR THE PLANET“ stand, neben einer grün und blau gemalten Planetenkugel. Phil hustete kurz.
»Ich kann nur hoffen, dass mir alle zugehört haben und dass sich keine Faschos einschleichen. Ich hätte da noch ein deutlicheres Statement raushauen sollen.« Zacharias musste an die Gruppe mit den gelben Mützen denken.
»Was können so ein paar Knallköpfe schon groß anrichten?«, fragte er, doch Phil war schon dabei, sich an die Spitze der Demo durchzukämpfen, quer über den Königsplatz bis zum Anfang der Annastraße. Dort begann die zentrale Fußgängerzone Augsburgs. Zacharias tauschte einen Blick mit seiner Schwester. Melzick zuckte mit den Schultern.
»Ist wie im Flugzeug: die besten Plätze sind nicht vorn. Ich glaub, wir halten uns irgendwo in der Mitte auf.« Die Trommeln setzten mit Vehemenz wieder ein und legten einen scharfen Rhythmus vor. Die ersten Sprechchöre gellten über die Köpfe hinweg. Zacharias schaute sich suchend nach allen Seiten um. Die riesige Menschenmenge bewegte sich in kleinen Schritten auf die Annastraße zu, die wie ein Flaschenhals am nördlichen Ende des Königsplatzes wirkte. Viele traten unruhig auf der Stelle. Nach schier unendlichen Minuten erreichte die Vorwärtsbewegung auch Melzick, Jocelyn und Zacharias. Sie streckten ihr Transparent in die Höhe.
»Denkt dran, was Phil gesagt hat«, rief Melzick den anderen beiden zu.
»Ja, ja«, gab Zacharias zur Antwort, »lass dein Grinsen eine Waffe sein, oder so.« Jocelyn hielt sich zwischen den beiden und sah die meiste Zeit auf die Schuhe der vor ihnen Marschierenden. Ihr war alles andere als nach Lächeln zumute.
6. Kapitel
Carlo saß zur selben Zeit am anderen Ende der Annastraße auf seinem fliegenden Teppich und lehnte mit dem Rücken an der Mauer eines großen Geschäftshauses. Er hörte die Trommeln näherkommen. Sokrates lag vorne auf dem Teppich neben der Holzschatulle mit dem Kopf auf den Vorderpfoten und zuckte leicht mit den Ohren. Carlo hatte seine Flöte weggelegt und beobachtete die Passanten. Viele trugen eine Plastiktasche mit ihren neuesten Konsumschätzen in der einen und etwas Essbares in der anderen Hand. Manchmal stellte Carlo in Gedanken eine Statistik auf und zählte die Döner, Wraps, Pizzen, Pommes und Brezen, die an ihm vorbeigetragen wurden. Wenn er genug davon hatte, packte er sein Brot aus dem Rucksack und gab auch Sokrates seine Ration. An guten Tagen legte jemand einen Hundekuchen neben die Holzschatulle. Den durfte Sokrates dann immer sofort vernaschen. Heute allerdings schien es einer von den schlechteren Tagen zu werden. Carlo nahm es gleichmütig hin. Von links näherten sich drei auffallend gekleidete Damen mittleren Alters, die in ein reges Gespräch vertieft waren. Die Wortführerin hatte sich umgedreht und lief nun rückwärts auf Carlos Platz zu, während sie ihren beiden Begleiterinnen wild gestikulierend etwas Extraordinäres erzählte. Dieses Wort war das erste, das Carlo aufschnappte. Sie gebrauchte es mehrmals und achtete nicht auf etwaige Hindernisse, im unerschütterlichen Glauben, für sie gebe es keine Hindernisse. Carlo kannte die Sorte, aber er reagierte zu spät. Bevor er noch etwas rufen konnte, verfing sich ihr linker Stöckelschuh, von dessen Gegenwert Carlo einen Monat lang hätte leben können, in der etwas hochstehenden Ecke seines fliegenden Teppichs. Sie kam ins Stolpern, stieß einen Schrei aus und landete unsanft auf ihrem sündhaft teuren Hosenboden. Sokrates bellte genau zwei Mal. Sofort stürzten ihre beiden Begleiterinnen auf sie zu und halfen ihr mit vereinten Kräften hoch. Carlo war so schnell er konnte auf den Beinen. Er hob beide Hände zum Zeichen seiner Unschuld.
»Oh, oh, haben Sie sich wehgetan, sind Sie verletzt? Kann ich Ihnen helfen?«, stammelte er. Der bleistiftdünne Absatz lag leblos auf dem abgewetzten Teppich. Carlo griff danach und hielt ihn seiner Besitzerin vor die Nase.
»Mein Gott, Vera! Deine Hose!«, rief eine der Begleiterinnen. Vera hatte es für einige Momente die Sprache verschlagen. Sie starrte den Absatz in Carlos Fingern an. Sie starrte Carlo an. Sie starrte Sokrates an. Sie hatte sich nicht verletzt. Sie hatte keine Schmerzen. Aber sie hatte eine Mordswut. Ihr Zeigefinger, ein dunkelroter Fingernagel, wegen des Sturzes hässlich abgesplittert, schoss auf Carlos Brust zu. Sokrates knurrte leise ganz hinten in seiner Kehle. Er hatte sich auf die Hinterpfoten gesetzt und ließ die Frau, die sein Herrchen angriff, nicht aus den Augen.
»So was wie Sie«, fauchte sie, »hat hier in dieser Stadt nichts verloren! Das war heute Ihr letzter Tag! Dafür werde ich sorgen!« Ihre dunklen Augen blitzten. Aus ihrem Zeigefinger wurde eine Faust und sie riss Carlo den Absatz aus den Fingern. Er musterte sie wortlos. Solche Sätze waren nicht neu für ihn. Die Frau namens Vera humpelte, von ihren Freundinnen gestützt, ein paar Schritte, kam sich lächerlich vor, riss sich den defekten und den anderen Schuh von den Füßen und feuerte beide in Richtung Carlo. Den Absatz behielt sie aus nur ihr erfindlichen Gründen. Ein älterer Herr mit Stirnband und Pferdeschwanzfrisur beugte sich zu Carlo herab.
»Heute liegt irgendetwas Ungutes in der Luft.« Carlo nahm Sokrates den intakten Schuh ab, den dieser vorsichtig zwischen seinen Zähnen hielt. Fast wäre er von dem Wurf getroffen worden. Carlo wog das Teil prüfend in der Hand und zwinkerte dem älteren Herrn zu.
»Irrtum, heute fliegt was Teures durch die Luft.« Er wusste schon, wie er die Schuhe zu Geld machen konnte. Sein Blick ging hinüber zum „Weißen Hasen“. Ein Lichtreflex hatte ihn aufmerksam gemacht. Im ersten Stock stand ein Fenster leicht offen. Carlo sah genauer hin. Er würde sich später gut an das Gesicht erinnern. Überhaupt würde er diesen Tag sein Leben lang nicht vergessen.
Das Fenster hätte früher geöffnet werden müssen, als die Sonne noch nicht so hoch stand. Ein böser Fehler. Dieser verdammte Bettler auf der anderen Seite hatte sofort hergesehen. Das war sein böser Fehler. Die Sichtverhältnisse waren optimal und auf die kurze Entfernung von vielleicht zwanzig Metern würde kein Schuss fehlgehen. Die Waffen lagen gut und sicher in der Hand. Nur noch wenige Minuten.
Die Demo hatte begonnen. Wie ein unaufhaltsamer Lavafluss wälzte sie sich durch die Annastraße, vorbei an der Kreissparkasse, dem Martin-Luther-Platz, der Thalia-Buchhandlung. Ein paar Herrschaften, die sich an den Bistrotischen von Feinkost-Kahn einen kleinen edlen Imbiss gönnten, verschluckten sich an dem exquisiten Weißwein angesichts der empörten Menschenmasse, die sich auf breiter Front näherte. Ein rotgesichtiger Mittvierziger, die Sonnenbrille auf die Stirn hochgeschoben, schlug mit den Flügeln, plusterte sich auf und beschwerte sich lautstark über die Herde Asozialer, die eine Schande für Augsburg sei. Die Herde ignorierte ihn und seine tief ausgeschnittene Begleiterin tätschelte ihm beruhigend den Rücken. Links und rechts begleiteten Bereitschaftspolizisten mit Helm, Schlagstock und dem üblichen Werkzeuggürtel ausgerüstet den Marsch der Achttausend. (Der Polizeisprecher würde später von annähernd viertausend Personen reden). Melzick, Zacharias und Jocelyn liefen im vorderen Drittel mit. Direkt hinter ihnen peitschte eine von mehreren Trommlergruppen einen unwiderstehlichen Sambarhythmus in die Arme, Beine und Köpfe der Demonstrierenden. Zacharias ließ sich von der Stimmung anstecken, skandierte aus vollem Hals und achtete nicht weiter auf Jocelyn. Melzick trug mit ihr zusammen das blaugrüne Banner. Sie spürte, was mit Jocelyn los war. Der Lärm