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Pitaval des Kaiserreichs, 1. Band. Hugo Friedländer
Читать онлайн.Название Pitaval des Kaiserreichs, 1. Band
Год выпуска 0
isbn 9783754957905
Автор произведения Hugo Friedländer
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Das Urteil, das Sie von mir verlangen, wird ein subjektives bleiben müssen. Hier erscheint die Feststellung der Ähnlichkeit um so schwieriger, als der kleine Pracza entstellt ist durch schwere Rachitis. Immerhin finde ich, daß die Rachitis nicht imstande war, die Ähnlichkeit zwischen dem kleinen Pracza und seiner Mutter zu verwischen. Daraus ziehe ich den Schluß, daß, wenn eine Ähnlichkeit vorhanden gewesen wäre, sie auch jetzt noch zu erkennen sein müßte zwischen dem kleinen Pracza und dem kleinen Grafen. Der Typus der beiden Kinder ist für mich, vom künstlerischen Standpunkt aus betrachtet, ein ganz verschiedener. Der kleine Graf hat ein gradliniges Profil, das des kleinen Pracza ähnelt dem seiner Mutter und Tante. Zwischen dem kleinen Grafen und der Frau Gräfin finde ich eine gewisse Ähnlichkeit. Die ovale Gesichtsform der Frau Gräfin hat etwas Viereckiges, das ist auch bei dem kleinen Joseph Stanislaus der Fall. Auf die Ohren soll ja nach der Versicherung der Herren Ärzte die Rachitis keine Einwirkung ausüben. Ich habe die Ohren der beiden Knaben mit einigen Strichen gezeichnet, und da finde ich als Künstler, daß das Ohr des kleinen Pracza ein ziemlich gewöhnliches ist, während das des kleinen Grafen ein recht charakteristisches, rassiges Aussehen hat und in bezug auf die Bildung eines kleinen Knöllchens hinter dem Ohre eine Übereinstimmung mit dem Ohr der Frau Gräfin zeigt. Ich komme also zu dem Schluß, daß eine unverkennbare Ähnlichkeit zwischen dem kleinen Pracza und seiner Mutter besteht, daß aber andererseits auch eine Ähnlichkeit zwischen dem kleinen Grafen und der Frau Gräfin sowie seiner Schwester Komtesse Marie nicht zu leugnen ist.
Kriminalinspektor Klatt spricht sich auch dahin aus, daß das abzugebende Urteil unter den vorliegenden Verhältnissen nur ein subjektives sein könne. Gerade bei Ähnlichkeitsfragen kämen die größten Irrtümer vor. Als der Raubmörder Wetzel das schwere Verbrechen in Spandau begangen hatte und verfolgt wurde, ließ eine Frau einen Mann arretieren, in dem sie mit aller Bestimmtheit den Mörder, den sie unmittelbar nach der Tat gesehen, wiedererkennen wollte. Gleich ihr ging es noch vielen anderen Leuten, bis es sich herausstellte, daß der Verhaftete das Opfer einer auffallenden Ähnlichkeit mit dem Täter geworden war. Einer der berühmtesten Kriminalbeamten, die es je gegeben, sei der verstorbene Kriminalkommissar Wolschina gewesen. Dieser habe einmal auf dem Hinterperron eines Pferdebahnwagens gestanden, als er einen lange gesuchten schweren Verbrecher vor einem Schaufenster stehen sah. Er sprang hinunter und packte den Gesuchten mit den Worten: »Nun habe ich dich endlich!« Der Ergriffene habe ruhig gefragt: »Was wollen Sie von mir, Herr Kommissar?«
»Das werde ich dir auf dem Molkenmarkt sagen.«
Auf dem Molkenmarkt habe sich herausgestellt, daß Wolschina einen Kriminalschutzmann arretiert hatte. (Heiterkeit.) Dergleichen Ähnlichkeitstäuschungen hätten der Polizei schon viele Schwierigkeiten gemacht. Der Sachverständige ließ sich dann über das Bertillonsche System aus und knüpfte hieran seine Betrachtungen über die Ohrenfrage. Bekanntlich gäbe es nicht zwei Personen auf der Welt, die vollständig gleiche Ohren hätten. Ebensowenig wie zwei vollständig gleiche Hände. Das Ohr des kleinen Grafen habe an einer Stelle eine ähnliche Abflachung, wie das der angeklagten Gräfin, es beständen aber außerdem so viele Unterschiede, daß darauf unmöglich ein abschließendes Urteil sich aufbauen ließe.
Am 19. Verhandlungstage begannen die Plädoyers.
Staatsanwalt Dr. Müller führte aus: Wenn Ihnen vor Jahr und Tag jemand mit den geradezu verblüffenden Einzelheiten des polnischen Dramas gekommen wäre, so würden Sie diese für das Produkt einer überhitzten Romanphantasie oder für die Ausgrabung aus mittelalterlichen Chroniken gehalten haben. Und in der Tat, eine ganze Reihe von Momenten sind hier in Erscheinung getreten, die einer weiten Vergangenheit anzugehören scheinen. Kein Roman, kein Theaterstück kann, wie sich hier wieder zeigt, an das wirkliche Leben mit seinen kaleidoskopartigen Mannigfaltigkeiten heranreichen. Das wirkliche Leben schlägt in dieser Beziehung jede Konkurrenz. Der Staatsanwalt beleuchtete alsdann in eingehender Weise die Zeugenaussagen und schloß mit etwa folgenden Worten:
Gegenüber diesen unwiderleglich feststehenden Tatsachen lassen Sie sich, meine Herren Geschworenen, nicht durch allerlei Nebendinge von der Hauptsache ablenken. Wenn Sie dieser meiner Ansicht folgen und das verdächtige Verhalten der Gräfin vor und nach der angeblichen Entbindung, das durch nichts zu beschönigen ist, wenn Sie ferner die ehelichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und den mysteriösen Aufenthalt der Gräfin in Paris berücksichtigen, so können Sie sich der zwingenden Beweiskraft solcher Tatsachen unmöglich entziehen. Die Beweise sind so zwingend und überzeugend, daß man sich eigentlich an den Kopf fassen und sich fragen muß, warum es erst noch der Entrollung eines so kolossalen Beweismaterials bedurfte. Wer logisch denken kann, der muß sich zu der Überzeugung bekennen, daß die Gräfin das Verbrechen begangen hat. Wenn Sie noch mehr Beweise verlangen sollten, dann würden Sie dem viel angefeindeten Schwurgerichtsverfahren direkt das Todesurteil sprechen. (Unruhe auf der Geschworenenbank.)
Die Gräfin ist schuldig, und zwar schuldig der Kindesunterschiebung, um dadurch Vermögensvorteile zu erlangen. Um nichts und wieder nichts wird diese Gräfin sicher nicht ein fremdes Bankert annehmen und ihr eigenes Nest beschmutzen. Es handelt sich keineswegs in erster Linie um einen »Kampf ums Majorat«. Diese Zivilstreitigkeiten müssen hier völlig im Hintergrunde bleiben; sie gehören vor das Zivilgericht, hier aber handelt es sich um ein Delikt gegen die allgemeine Rechts- und Staatsordnung, das geeignet ist, den öffentlichen Glauben zu erschüttern, wie denn auch das frühere Zivilurteil durch Lug und Trug zustande gekommen ist.
Meine Herren Geschworenen! Ich bin am Schluß, und ich lege das Urteil vertrauensvoll in Ihre Hände. Ob hoch oder niedrig, ob Gräfin oder armes Dienstmädchen, das dürfen Sie nicht in Betracht ziehen. Sie haben allein dem Recht zum Siege zu verhelfen. Aber um eins bitte ich Sie noch: Halten Sie sich nur an die Tatsachen, und lassen Sie sich von diesen nicht durch das Beiwerk abbringen. Halten Sie sich auch frei von allen Sentimentalitäts- und Gefühlsanwandlungen. Nicht Sie, sondern das Zivilgericht hat über das Majorat die Entscheidung zu fällen. Aber das eine sage ich Ihnen frei und offen: nach Lage der Akten und nach der Beweisaufnahme wird kein preußisches Zivilgericht – darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel – auch nur einen Augenblick zweifeln, die Identität des Kindes auszusprechen. Zeigen Sie durch Ihren Spruch, daß der alte Satz noch immer Wahrheit hat: »Es gibt noch Richter in Berlin!« Ja, zeigen Sie, daß es noch Richter in Berlin gibt, die sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen von finsteren Scheinmächten und von Leuten, die vermeinen, Meineid auf Meineid schwören zu können, und die nachher zu ihrem Geistlichen beichten gehen. Legen Sie die Axt an die Wurzel des Übels, das schon Opfer genug gehabt hat und noch mehr nach sich ziehen wird. Der Zweck einer Strafe ist, zu bessern und zu sühnen. Wenn Sie ein Schuldig sprechen werden, dann wird das reinigend und sühnend wirken und den Leuten in Wroblewo wird dann vielleicht ein Licht aufgehen, daß es etwas gibt, was höher steht, als knechtische, sklavische – falschverstandene Hingebung; und das ist die Majestät des Gesetzes.
Erster Staatsanwalt Steinbrecht beantragte ebenfalls in längerer Rede gegen alle Angeklagte das Schuldig. Gegen den Grafen Hektor Kwilecki, so bemerkte der Erste Staatsanwalt, sei das ganze Polentum in Bewegung gesetzt worden. Das Polentum sei erbittert, weil auf seine Anregung hier manch häßliches Bild aus dem polnischen Adelsleben enthüllt worden sei. Deshalb stehe das ganze Polentum, hoch und niedrig, gegen den Grafen Hektor, deshalb sei man bestrebt, die fünf polnischen Angeklagten den deutschen Richtern zu entreißen. Er glaube, an der Hand untrüglicher Tatsachen nachgewiesen zu haben, daß die Gräfin das Kind untergeschoben habe, daß dies aus gewinnsüchtiger Absicht geschehen, sei ganz zweifellos.
Verteidiger Justizrat Wronker führte aus: Die öffentliche Meinung, wie sie ja auch in der Presse zum Ausdruck kommt, stellt sich auf den Standpunkt, es sei hier ein Kampf ums Majorat. Diese Auffassung entspricht nicht der Auffassung der Gräfin Wensierska-Kwilecka. Sie kämpft um ihr Kind und die Familie, die sich um sie geschart hat, sie kämpft um ihre Ehre, und wir, die wir der Gräfin beistehen, kämpfen für das Recht. Herr Staatsanwalt Dr. Müller hat gestern mit Emphase betont, daß es den Kampf ums Recht gelte. Aber die königliche Anklagebehörde hat nicht allein das Vorrecht, das Recht zu finden, gepachtet, auch wir