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bist du nur für ein verfressenes Biest!“, schimpfte sie ihre Katze, die inzwischen munter an der Frühstücksbutter, zum Erwärmen auf den Küchentisch gestellt, schleckte. Ihr fielen die Scherben einer Butterdose ein, die sie am Tag der Beerdigung vor dem Kühlschrank entdeckt hatte. Nussbaum hatte folglich noch einmal nach ihr gesehen. Vermutlich, um sie weiter einzuschüchtern oder Schlimmeres zu tun. Phobie schauderte. In einer Ecke des Zimmers erblickte sie Erbrochenes. Es waren nur zerkaute Blumenblätter, welche Cecil hinterlassen hatte. Das natürliche, tierische Verhalten, um sich von Haarresten im Magen zu befreien, liess sie Frau jedoch an einen lange zurückliegenden Vorfall denken. So hatte sie als Kleinkind gegen Ende der sechziger Jahre vor dem Bett der Grossmutter die Reste eines grossen Kotzfleckes vorgefunden. Frieda, Marlenes Mutter, hatte ein Pflanzenschutzmittel geschluckt und war daran elendig krepiert. Wortlos soll sie nach einem Streit mit ihrem Ehemann, dem Schnapsfabrikanten, die Treppe zum gemeinsamen Schlafzimmer hochgestiegen sein, um dort eine Flasche E 605 zu entleeren. Sie war krepiert an einem Gift, welches auch Ratten tötet. Als erstes weibliches Wesen war die als feinsinnig und intelligent geltende Frau mit einem Automobil im Dorf unterwegs gewesen. Mittelos, jedoch blaublütig war die kühle Friesin mit dem kleinwüchsigen Bauernklotz in den zwanziger Jahren vermählt worden. Allein ein elegantes Klavier hatte Frieda mit in die Ehe bringen können. Die Enkelin hatte sie als gutgekleidete, aber unnahbare Frau im Gedächtnis behalten, welche Thea, das bereits pubertierende Pummelchen, mit allerhand Bonbons belohnte. Sie, den neugierigen und aufgeweckten Wirbelwind, dagegen minutenlang wegen einer Nichtigkeit in eine düstere Flurecke stellte, wo das junge Ding minutenlang reglos verharren musste. Kinder sind empfindsam, wenn es um die Gerechtigkeit geht, überlegte Phobie. Marlene sah nach diesem Vorfall in ihrem Vater den Schuldigen, der stundenlang schnapstrinkend und vorzugsweise Marschlieder singend in seinem Wohnzimmer verweilte. So war es nicht verwunderlich, dass die dreijährige Enkelin beim Spielen dann im grossbäuerlichen Kleiderschrank auf Stoffetzen mit seltsamen Schriftzeichen stiess. Auf Naziwimpel, welche der Alte partout nicht aus der Hand geben wollte. Phobie erinnerte sich an das verkrampfte, peinlich berührte Lachen der Erwachsenen, als sie mit ihrer „Beute“ auftauchte. Der Grossvater, welcher erst im hohen Alter verstorben war, war immerhin im Dritten Reich nicht weniger als der Bürgermeister seiner Gemeinde gewesen. Und damit verantwortlich für die amtliche Absegnung der Deportation der - wenn auch wenigen - Landjuden. Vielleicht war es kein Zufall gewesen, dass sich Marlene in den Wirren der Nachkriegszeit in einen ambitionierten Autonarren verlieben sollte, welcher wie Frieda die Bewegung und das damit verbundene Freiheitsgefühl so sehr liebte. Doch ausgerechnet die unglückliche Frieda hatte einst das frischgebackene Brautpaar vor ihrer Bindung gewarnt.

      Freundlich und warm schimmerte das Holzparkett im faden Morgenlicht dieses eisigen, frostkalten Novembertages. Mit kleinen Holzscheiden entfachte die Frau eine Feuerglut in dem becksteingrauen Kaminofen. chapter1Image3.jpeg

      In kurzer Zeit hatte sich in dem geräumigen Zimmer - eigentlich war es ein kleiner Saal mit zwei Meter grossen Fensterscheiben - eine angenehme Wärme breit gemacht, die wohltat. Warum nur hatte die Mutter diesen unausstehlichen, immerfort aus der Haut fahrenden Kerl als Neffen und Verwandten der Firma vorgestellt? War sie etwa einsam gewesen? Phobie misstraute den die Wahrheit verwischenden Angaben von Nussbaum. Marlene starb am ersten Tag der Herbstferien. Kein Schulbus fuhr. Ein idealer Zeitpunkt, um mit der alten Dame Missbrauch zu treiben und ihr einen tödlichen Insulincocktail in den Frühstückskaffee zu mischen. Es kam ihr in diesem Augenblick so vor, als habe sich der einst stolz schimmernde Glanz, den der Raum früher ausstrahlte, im Nichts ausgelöst. Stattdessen unbeantwortete Fragen: Wer hatte die wertvollen Seidentücher der Mutter entwendet? War es Thea gewesen? Das einhundertjährige, edelsteinbesetzte Geschirr hatte sie, ohne zu zaudern, in Kisten gepackt und mitgenommen. Zudem das handgeschnitzte, tunesische Schachbrett des Vaters. „Wir haben doch prima verkauft!“, jubelte die Ältere, während sie gemeinsam mit ihrem Ehemann die ansehnliche Holztruhe im Bulli verfrachtete. Später hatte sie die menschengrosse Schmuckkiste auf Theas Dachboden wiederentdeckt. Verschmutzt, acht- und nutzlos beiseite geschafft. Die Schwester war weifelsohne mit der Dollarnote in der Pupille auf Raubfang gewesen. Phobie lachte auf, denn die Nähmaschine und zentnerschwere Enzyklopädie hatte sie behalten dürfen. Sogar Michaels schneeweisser, eleganter Traumschlitten, ein Mercedes SL, war dem Käufer der Firma als Beigabe überreicht worden. Vor ihren Augen tauchte noch einmal das prächtige Blumenmeer auf, welches das Grab des Vaters bedeckte. In der Friedhofsallee hatten sich hunderte Menschen eingefunden, die von dem beliebten Mann Abschied nehmen wollten. Marlene hingegen war in einem ollen Holzkarren zum offenen Grab gekarrt worden. Kurz zuvor hatte es heftig geregnet. Die matschige Erde klebte an dem Schuhwerk der kleinen Trauergemeinde. Nussbaum war spurlos verschwunden. In einem atemberaubenden Tempo und beinahe überstürzt war Marlene begraben worden.

      „Na, Prinzessin - bist du glücklich?“, scherzte Phobie mit ihrer Katze. Die hockte im respektvollen Abstand vor dem heissen Ofen und genoss die wonnige Wärme. Im Vergleich zum kräftigen Körper waren Cecils Beine kurz geraten. Das Tier war in einen ansehnlichen, umbraschwarzrotweissen Pelz gehüllt und mit einem anhänglichen, zugleich verhuscht wirkenden Naturell ausgestattet. Zugelaufen, nannte die Halterin Cecil liebevoll „meine bunte Kugel“. Ihr Vorgänger, der pechschwarze Fritz aus der heruntergekommenen Silbersteinstrasse in Berlin-Neukölln, war dagegen ein Wunschkater gewesen. Fast sein ganzes Leben, welches immerhin fünfzehn Jahre währte, hatte er geduldig in der Stadtwohnung verbracht. Nur sein letztes Lebensjahr im Garten von Marlene verbringen dürfen. Nicht aus der Ruhe zu bringen, trug der geliebte Kater einen einzigen, edelweissen Fleck auf seiner Brust. Wacker bis zu seiner letzten Lebensminute, schien er selbst vom eigenen Tod überrascht worden zu sein. Alt und müde war das Tier nach einer kurzen Schnappatmung, von Phobie in den Armen gehalten, verstorben. „Katzen sind ehrliche Wegbegleiter, die nicht enttäuschen“, sagte sie sich. Vor dem Wohnzimmerfenster lag die Wesermarsch. Eine noch im Herbst tiefgrüne, fruchtbare Wiese, an der der ruhig dahingleitende Fluss seine Bahn zog. Sie erinnerte sich, dass sie bei Hochwasser als Achtjährige dort nach Treibgut gesucht hatte. Morsche Hölzer und vom Wasser blankgeputzte Steine als kostbares Schatzgut nach Hause getragen hatte. Auf dem in besonders kalten Tagen gefrorenen Eis mit den Schlittschuhen selbst beigebrachte Pirouetten gedreht hatte. Unter verschneiten Tannen aus Holzlatten schützende Verschläge gebaut hatte. Nester und Höhlen, die Geborgenheit gaben. Orte, wo sich Ritterbanden und Freunde erfinden liessen. Welche leichtsinnige Eingebung, fragte sich Phobie heute, hatte sie nur als junge Frau dazu gebracht, chapter1Image4.jpeg

      in das kalte Berlin zu ziehen und die anmutige Flusslandschaft für eine Weile zu vergessen.

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