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Der Deckel der Mappe bestand aus grauer Pappe und machte einen abgenutzten Eindruck. Bodishia legte die Mappe auf den Tisch und entfernte das Gummiband, das den Deckel hielt. Die Mappe enthielt Zeitungsausschnitte, die chronologisch eingeheftet waren. Neugierig blätterte sie zurück. Der älteste Ausschnitt war fast einhundert Jahre alt und trug das Datum vom einundzwanzigsten Februar 2006. Es war ein Ausschnitt aus der längst verblichenen Tageszeitung The Guardian und trug den Titel: Wenn man keine Tyrannei mehr braucht, um uns die Freiheit zu nehmen. Der Untertitel lautete: Die schleichende Ausdehnung der Implantationstechnik kann dazu führen, dass alle Schranken zwischen dem Bürger und dem Staat niedergerissen werden. Von George Monbiot.

      Bodishia begann zu lesen: „Die Nachricht, die ich letzte Woche las, war vielen Zeitungen nur wenige Zeilen wert, aber für mich öffnete sie einen düsteren Blick in unsere Zukunft. Eine amerikanische Firma in Ohio hat zwei Mitarbeitern Radiosender in die Arme implantiert. Diese Implantate stellen sicher, dass nur die Mitarbeiter, die sie tragen, eine Sicherheitszone des Unternehmens betreten können. Vermutlich handelt es sich um den ersten Fall, in dem Arbeiter elektronisch markiert wurden, um sie zu identifizieren. Die Sender sind winzig (sie haben etwa die Größe eines Reiskorns), billig (zur Zeit kosten sie fünfundachtzig Pfund, aber der Preis sinkt schnell), sicher und zuverlässig. Ohne Wartung halten sie mehrere Jahre. Sie benötigen keine Energie und keine Batterien, da sie nur durch den Abtastvorgang aktiviert werden. Es gibt keine technischen Hindernisse für einen vielfältigen Einsatz.

      Das Unternehmen, das diese Markierungssender herstellt, behauptet, dass sie wirksame Zugangskontrollen mit dem Aufspüren und dem Schutz von Personen kombinieren. Die Chips könnten nämlich auch Krankenhauspatienten, vor allem Kindern und geistig gestörten Menschen implantiert werden. Wenn ihre Ärzte wissen wollen, wo sich diese Patienten befinden oder welche Krankengeschichte vorliegt, brauchen sie nur den Scan-Vorgang einzuleiten. Dieser Auffindungseffekt sei zweifellos faszinierend und eine kalifornische Schule habe sogar eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt, alle Schüler mit Sendern zu markieren.

      Die bisher implantierten Markierungssender verfügen nur über eine Reichweite von wenigen Metern. Aber andere Modelle können Signale aussenden, die es gestatten, dass der Träger von einem Satelliten aufgespürt werden kann. Die Patentanmeldungsunterlagen behaupten, mit diesem Sender könnte man gekidnappte Personen aufspüren oder auch Wanderer, die sich in einem Gebirge oder einer Wildnis verirrt hätten. Mit anderen Worten: Für den Markierungssender sind zahlreiche Einsatzmöglichkeiten vorstellbar. Und genau das ist es, was mich stört …“

      Als Bodishia zu dieser Stelle gekommen war, regte sich die Katze, erhob sich und streckte sich. Anschließend machte sie unvermittelt einen Sprung von ihrem Sessel auf die Bank. Es folgten einige Schritte, dann lag der Kopf der Katze auf Bodishias Oberschenkel, und die Aufforderung, gekrault zu werden, war eindeutig. Bodishia erfüllte ihre Pflicht, kraulte und schmuste mit der Katze, bis Marmalade genug hatte und in der Küche verschwand.

      Bodishia kehrte zu dem Artikel zurück: „ … und genau das ist es, was mich stört. Eine Technologie, deren umfassender Einsatz heute auf breite Ablehnung stieße, wird sich unmerklich ausbreiten. Zunächst werden diese Sender natürlich nur Personen mit besonderen Sicherheitsaufgaben implantiert. Niemand wird gezwungen, sich markieren zu lassen, aber ohne die Implantierung wird man diese Jobs nicht mehr bekommen. Also wird man zustimmen. Dann werden die Krankenhäuser beginnen, besondere Patientengruppen mit den Sendern auszustatten. Eines Tages werden Versicherungen bei bestimmten Risikogruppen die Implantierung verlangen oder die Versicherungsprämien drastisch erhöhen oder den Versicherungsschutz vollständig verweigern. Die Streitkräfte werden entdecken, dass die Markierungssender viel nützlicher als die alten Hundemarken sind, um verwundete, verlorengegangene oder vom Feind gefangene Soldaten aufzuspüren. Gefängnisse werden rasch auf den Zug aufspringen. Ausbeuterische Betriebe in Ländern der dritten Welt werden auch rasch den Vorteil dieser Sender erkennen und sie einsetzen. Natürlich wird kein Arbeiter offiziell gezwungen, den Chip zu tragen … aber ohne Chip kein Job wird die Regel werden.

      Die Ausbreitung der Chips wird sich leider als schleichender und fast unsichtbarer Prozess abspielen. Wir werden nicht eines Morgens aus unseren Häusern treten und plötzlich entdecken, dass die Regierung, die Polizei, unsere Bosse und die Versicherungen alles über uns wissen. Aber unter dem Vorwand der Verbesserung des allgemeinen Schutzes werden wir allmählich dem Verlangen der Maschinen nachgeben und uns unterwerfen. Keine Tyrannei und kein Diktator werden gebraucht, um uns die Freiheit zu rauben. Schritt für Schritt werden wir sie eines Tages freiwillig aufgegeben haben …“

      Als McShane den Tee brachte, legte Bodishia das Blatt zur Seite und wandte sich ihrem Gastgeber mit den Worten zu: „Eine bemerkenswerte Sammlung haben Sie da angelegt.“

      „Ist er nicht erschreckend, dieser Artikel aus dem Guardian?“

      „Angesichts der Wirklichkeit? Immerhin sind fast einhundert Jahre vergangen, und der Großteil der britischen Bevölkerung trägt immer noch keine implantierten Chips.“

      „Vergessen Sie nicht, dass nach dem zweiten Jom-Kippur-Krieg ein ähnliches Gesetz in der Mache war. Nur wegen anstehender Neuwahlen wurde es gekippt.“

      „Damals war ich noch zu jung, um mich heute daran erinnern zu können. Aber ist es nicht positiv zu beurteilen, dass das Gesetz nicht durchkam? Sehen Sie sich in Europa die skandinavischen Länder an, dort geht es viel schlimmer zu. Die alte Großzügigkeit und die Offenheit Fremden gegenüber sind einem fast manischen Argwohn gewichen.“

      „Was die verrückten Wikinger auf ihren Steinhaufen machen, interessiert mich nicht. Wir sind hier in England und haben eine lange Tradition demokratischer Freiheiten.“

      „Noch hat der Premierminister sich nicht durchgesetzt.“

      „Er wird es, er wird alle Tricks probieren. Aber …“, inzwischen hatte McShane kleine Teekuchen, Toast, Butter, Brombeermarmelade sowie Milch auf den Tisch gestellt und den Tee in zwei Tassen gegossen, „… wir sollten uns den Morgentee nicht durch Teimur Huxley verderben lassen.“

      Bodishia nickte und griff zum Milchkännchen. Während sie die Milch eingoss, fragte er: „Leben Sie in Fulham?“

      „Nicht direkt. Auf dieser Seite der Themse, in Putney.“

      „Wie kommt es, dass wir uns nicht früher begegnet sind?“

      „Oh, das ist einfach zu erklären: Weil ich hier erst kürzlich eine Wohnung gefunden habe.“

      Er nahm sich eine Toastscheibe und begann, sie mit Butter zu bestreichen.

      „Darf ich Sie fragen, was Sie in diesen Stadtteil verschlagen hat? Die Liebe oder der Beruf?“

      „Der Beruf. Ich habe einen Auftrag auszuführen und glaube nicht, dass ich hier länger als ein Jahr bleiben werde.“

      Damit endete die Unterhaltung. Schweigend nahmen sie den Tee zu sich, und Bodishia verabschiedete sich kurz danach. Als sie gegangen war, stellte McShane seiner Katze die Frage, ob sie glaube, dass die Engländerin mit dem verdächtigen Namen ein Polizeispitzel sei, den Huxley auf ihn angesetzt habe.

      Marmalade zuckte mit dem Schwanz und maunzte. Da McShane die Katzensprache nie gelernt hatte, blieb ihm ihre Antwort unverständlich und er ermahnte sich, keine Wahnvorstellungen zu entwickeln. Hätte sich ein Polizeispitzel nicht einen unauffälligen Allerweltsnamen zugelegt, oder war die Namenswahl Teil einer raffinierten Ablenkungsstrategie?

      Kapitel 19: Myrrha

       La Repubblica, Rom, 7. Jan. 2101: Der aus Argentinien stammende Kurienkardinal Domenico Cataldo ist gestern vom Amt des Präfekten der Glaubenskongregation, der höchsten Instanz in Fragen der Interpretation und Verteidigung der katholischen Lehre, zurückgetreten. Wie ein Sprecher des Vatikans erklärte, hat Cataldo eingeräumt, als Mädchen geboren worden zu sein und sich im Alter von neunzehn Jahren einer Geschlechtsumwandlung unterzogen zu haben.

      Nachdem Solveig, Ronit und Bodishia beschlossen hatten, für die ATA zu arbeiten, einerseits um Medeas Schiff nicht zu gefährden, andererseits

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