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Allah und die Klavierspielerin. Till Angersbrecht
Читать онлайн.Название Allah und die Klavierspielerin
Год выпуска 0
isbn 9783738099287
Автор произведения Till Angersbrecht
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Till Angersbrecht
Allah und die Klavierspielerin
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Zwölf Uhr 18 und vierzig Sekunden
Die ganz gewöhnlichen Tage danach
Große und kleine Vögel
Dort, ein Silberreiher, der auf langen Stelzen am Ufer eines Sees promeniert! Nur für kurze Zeit scheint er Gast zu sein. Es genügt ein Rascheln im Schilf, die unvermutete Bewegung eines Vorbeikommenden, vielleicht auch nur der Stoß eines Windes, um ihn wie einen Federflaum vom Boden zu heben. Die natürliche Bestimmung eines Silberreihers ist das Fliegen.
Wer würde dasselbe beim Anblick eines Airbus behaupten, der mit schwerfällig-massigem Körper auf einer Rollbahn steht? Wer würde ahnen, dass Silberreiher und Airbus die gleiche Bestimmung haben? Der hell glänzende Leib des Flugzeugs drückt wie ein Bleigewicht auf den Boden. Er besitzt so gewaltige Proportionen, dass ein Steinzeitmensch, zum ersten Mal auf einen Flugplatz der neuen Zeit geführt, niemals vermuten würde, dass ein derart mächtiger Körper sich je vom Boden erheben, geschweige denn sich in die Lüfte aufschwingen könnte. Selbst wenn dieser Rumpf mit den zwei steifen Armen schon über die Bahn zu rollen begänne, würde der überraschte Gast bis zuletzt auf den Flügelschlag warten und dann, wenn das Unglaubliche trotzdem geschieht, verstört und erschüttert das Wunder bestaunen, dass ein so unförmiger Riesenvogel, wie von der Hand eines kundigen, aber unsichtbaren Geistes von oben am seinem Genick gepackt, mühelos, als hätte er alle Schwere plötzlich von sich gestreift, steil in die Höhe strebt.
Überwältigt von Ehrfurcht, würde der Steinzeitmensch den großen Unsichtbaren anbeten. Denn nur ein Gott bringt es fertig, einen Körper, groß wie ein Gebirge, das eben noch dreihundert Menschen in seinem Bauch verschlang, so leicht in die Luft zu entführen, so als hätte er bloß nach einem Kinderspielzeug gegriffen.
Voller Furcht und Zittern würde der Steinzeitmensch dann wohl auch eine Reihe seltsamer Gesten und Riten vollführen, damit das silberne Wesen, das sich seinen Blicken am Horizont allmählich entzieht, bis es schließlich ganz außer Sicht gerät, nicht plötzlich vom Himmel fällt.
Die Furcht und das Zittern sind durchaus verständlich. Ganz anders als wir Menschen der Technik, gewohnt die Natur nur noch in Zoos und Aquarien zu erleben, weiß ein Mensch, der vor zehntausend Jahren lebte, dass Vögel jeglicher Art immer in mindestens zwei Zuständen existieren. Er kennt den Reiher in seinem Silberkleid, bewundert ihn wie einen Tänzer, wenn er sich voller Lust und Leichtigkeit vom Boden zum Himmel schwingt. Aber ebenso kennt er den zerbissenen Vogel, dessen Flügel vom Schlamm verschmiert und dessen Federn über eine Wasserlache verstreut sind, in der sogar am folgenden Tag noch ein Schimmer von Blut zu entdecken