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Sie fragen sich natürlich, welche Wirklichkeit mich heute erwartet hat. Ich sage es Ihnen: die unvorstellbarste, die Unwirklichkeit. Dabei wollte ich nur den Frühling genießen. Einfach so. Den Frühling in seiner natürlichen Bescheidenheit. Doch irgendwie passte nichts zusammen. Es war eben ... unwirklich. Wie ich Ihnen schon sagte: Mein Geist ist manipuliert, verseucht von den Dämonen der Weltenzentrale, der Steuerung meiner Existenz. Sie erinnern sich.

       Jetzt sind Sie klar der Meinung, dass ich geisteskrank bin. Paranoid ... oder so. Ich verstehe das. Aber ich kann Sie beruhigen: Ich bin es nicht. Es ist alles eine Frage der Interpretation und der Welt, in der Sie leben.

       Alex kommt oft hierher. Der kleine Wald ist ihm vertraut. Es ist, als umarmten ihn die Äste der Bäume, als legten sie einen Mantel der Geborgenheit um ihn. Der Ort ist Therapie. Hier findet die Hoffnungslosigkeit ihren Widerspruch. Hier geschieht, was die Verzweiflung nicht zulässt: Leben. Reines Leben. Vogelgezwitscher, Blätterrascheln, Wasserplätschern, Hundegebell, Kinderschreie.

       Er wäre nicht in aller Frühe zu seiner Lieblingsbank unweit des Flussufers geeilt, wenn er nicht einen inneren Drang verspürt hätte, dem erwachenden Tag ein Gesicht zu geben. Die sanfte Brise des ersten Frühlingstags auf seiner Haut zu spüren. Dem Fliessen des Wassers zu lauschen. Sich von den Kräften der Strömung tragen zu lassen und an die Anfänge zurückzukehren, als die Katastrophe noch nicht geschehen war, er die Tragödie noch hätte verhindern können.

       Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen den Weg durch Äste und Büsche finden, spürt er es kommen. Es nähert sich lautlos und treibt ihm den Schweiß aus den Poren: das Grauen des Unvorstellbaren. Ein schmerzhaftes Pochen beginnt in seinem Kopf zu hämmern. Blitze zucken in den Augen. Eine Migräne schleicht sich durch die Hirnhäute. Sie zerrt an seinem Verstand und bemächtigt sich seiner Gedanken.

       Ist es Einbildung oder fließt der Fluss heute langsamer als sonst? Alex reibt sich die Augen. Die Gewissheit nimmt zu. Es ist, als bewegte sich das Wasser im Rhythmus seiner inneren Stimmung, eben langsam. Das Gurgeln der Wasserwirbel klingt wie depressive Musik, wie ein Konzert tiefer Melancholie.

       Es gibt Tage, die ihn zutiefst verunsichern, die ihn spüren lassen, dass seine Wahrnehmungen eigenen Gesetzen gehorchen. Dass sie seiner Kontrolle entgleiten. Heute ist ein solcher Tag. Alex fragt sich, warum der Fluss langsamer fließt. Ob eine tiefere Bedeutung darin liegt. Und vor allem fragt er sich, ob seine Beobachtung stimmt.

       Professor Wiesel sagt, er leide an Ikonomanie. Sein Leben sei ein Abdruck der Bilder in seinem Atelier. Sie verzerrten seine Wahrnehmung. Und sie führten ihn in eine Scheinwelt. Na und? Weiß sein Freund und Psychiater, welche Welt für ihn, Alex, die beste ist, Schein hin oder her?

       Sein Leben hat sich seit Natalies Tragödie grundlegend verändert. Er hat sich in seinem Ikonenatelier eingeigelt, hat mehr gemalt und restauriert als je zuvor. Die Arbeit lenkt ihn ab. Das ist gut. Aber die vielen Aufträge haben ihn erschöpft. Zwar lindert die Auszehrung des Körpers den Schmerz, aber die Wut seiner Schuld bringt ihn beinahe um den Verstand.

       Das Atelier ist völlig überfüllt. Auftragsbilder und selbstgemalte Ikonen türmen sich bis über Fensterhöhe. Weil es nicht genug Wände gibt, hängen einige Werke frei von der Decke herunter. Die vielen Heiligen auf den hölzernen Platten sind zu seiner Familie geworden. Nicht, dass er mit dem Glauben etwas am Hut hätte, aber die mystischen Gestalten halten zu ihm. Sie hinterfragen nichts, sind einfach da. Für ihn.

       Manchmal sieht er sich als altrussischen Pilger durch die Wälder streifen. Als Suchender auf dem Weg zu den weisen Starzen in ihren Hütten und Höhlen der alten Rus. Dann sprechen die allwissenden Asketen zu ihm, geben ihm Ratschläge. Sie versuchen, ihn auf den richtigen Weg zu bringen.

       Den Gottesmüttern auf seinen Ikonen fühlt er sich besonders nahe. Er verehrt sie. Und sie berühren ihn. Es kommt vor, dass seine Tränen auf den Firniss tropfen. Dann öffnet sich die Türe zu Natalie, seiner Frau, und die Schuldgefühle überwältigen ihn. Er hat die Tragödie nicht nur zugelassen. Er hat sie regelrecht herbeigeführt.

       Der Professor spricht von erzwungenem Suizid.

       Haben Sie das schon mal gehört? Wissen Sie, was das ist? Gut, ich erkläre es Ihnen: Wenn man jemanden zum Beispiel durch andauernde Demütigung in den Freitod treibt, dann nennt man das einen erzwungenen Suizid. Ich, Pilger, Gottesmutterverehrer und Ikonomane, habe den perfekten Mord inszeniert. Es gibt keinen Täter. Und doch ..., jemand hat den Tod orchestriert. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen. Die Scham ist zu groß.

       Ein Rascheln in den Büschen. Der Hauch eines Windes. Schluchzen. Die Bank knirscht. Alex dreht sich zur Seite. Eine junge Frau hat sich neben ihn gesetzt. Blondgefärbte Haare hängen in schweissigen Strähnen über ihre Schultern. Die Wimperntusche fliesst hemmungslos über die Wangen. Die Augen sind gerötet. Die Hände rastlos. Die Frau greift nach dem Taschentuch, das sie unter der Bluse am Träger ihres BHs befestigt hat. Es fällt zu Boden. Alex hebt es auf und reicht es der Frau. Ihre Blicke kreuzen sich flüchtig. In ihren Augen liegt panische Angst.

       «Fehlt Ihnen etwas? Kann ich helfen? Ich meine, haben Sie Probleme?»

       «Ich ..., nein, es geht schon. Nur eine kleine Schwäche.»

       «Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber Sie wirken auf mich, als hätten Sie Todesangst. Werden Sie bedroht?»

       «Bitte, lassen Sie mich in Ruhe. Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Probleme.»

       «Ja, Sie haben Recht. Nur ..., es scheint, als hätten Sie Hilfe nötiger als ich ..., ich meine ... gerade jetzt.»

       «Nur der Allmächtige kann mir noch helfen, glauben Sie mir.»

       Alex wippt auf der Bank hin und her. Er ist unschlüssig.

       Sie ist Russin! Ich erkenne den Akzent. Was macht sie hier?

       Plötzlich wendet sich die Frau erneut zu Alex. Sie sieht ihn eindringlich an, atmet schwer. Erst jetzt bemerkt er, dass sich ihre rechte Hand krampfhaft an eine Tasche klammert. Es ist eine Art Einkaufstüte.

       «Also, wenn Sie mir helfen wollen ..., bitte, nehmen Sie das».

       Die Frau legt die Tasche auf seinen Schoss. Alex sieht sie verdutzt an.

       «Was ich Ihnen anvertraue, ist unbezahlbar. Es darf nicht verlorengehen. Wenn es in falsche Hände gerät ...»

       «Aber ...»

       «Sie müssen die Tasche nehmen. Tun Sie es für mich und für Russland.»

       Es ist ein Befehl. Alex kann sich ihm nicht entziehen. Konsterniert sieht er, wie die Frau aufsteht und ohne sich umzudrehen zum Uferweg eilt. Er hört das Knacken von Zweigen und die Schritte auf dem steinigen Boden. Ein Hund bellt, dann wird es still. Nur das Plätschern der Wellen dringt an sein Ohr.

       Alex bleibt regungslos sitzen. Er begreift nicht, was sich hier abspielt. Die Tasche auf seinem Schoss wiegt schwer. Seine Beine beginnen zu zittern. Er möchte die Tasche loswerden. Und das so rasch wie möglich. Es ist nur eine Vorahnung, aber sie lässt seinen Herzschlag in die Höhe schnellen.

       Schließlich legt er die Tasche neben sich auf die Bank. Aber sein Blick bleibt an ihr hängen. Bohrt sich hinein. Seine Hände beginnen unwillentlich an der Tasche herum zu nesteln. Sie machen sich am Verschluss zu schaffen, als wären sie fremdgesteuert.

       Jetzt hält Alex inne. Er zögert.

       Dann steckt er seine Hand in die Tasche und zieht das ihm anvertraute Objekt heraus. Es ist in Seidenpapier gewickelt. Bevor er sich daran macht, den Gegenstand zu enthüllen, weiß er bereits, um was es sich handelt. Er ist der Fachmann. Es ist eine Ikone.

       Aber was zum Teufel ...?

       Ein Schauder kriecht ihm über den Rücken. Der Telefonanruf! Die Anspielung auf die berühmte Ikone aus der Kasaner Kathedrale in Moskau. Die Warnung, sein Leben könnte in Gefahr geraten. Die Erinnerung an die Frauenstimme sitzt ihm immer noch im Nacken. Ist es dieselbe Frau? Dieselbe Stimme?

      

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