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sah nicht, was hinter ihm passierte, aber er ahnte, dass es Silke war und dass sie die Nerven nun völlig verloren hatte. Scheiße. Lange würde das nicht gut gehen.

      „Nicht, Silke!“, schrie die andere Verwandelte. „Du bleibst bei mir! Hörst du?“

      Eine Gestalt löste sich aus dem wabernden Schutzschild, den Ben allzu hektisch aufgebaut hatte. Er dachte daran, den Schild zu erweitern, die Verwandelte mit seiner Kraft irgendwie wieder einzufangen. Aber das schaffte er nicht.

      Es war zu spät. Ein Bolzen fuhr Silke durch die Schulter, hinterließ eine klaffende Wunde. Einen kurzen Moment blieb sie verblüfft stehen. Dann beendete ein weiterer Treffer in den Kopf ihre Flucht vollends. Silke zerfiel zu silbernem Staub.

      Es gab signifikant viele Dinge, wegen der Kristin hätte verblüfft sein müssen: die albischen Soldaten in den seltsamen mittelalterlichen Uniformen. Die Tatsache, dass diese wie verrückt auf sie schossen und losstürmten. Der unsichtbare Schutzschirm, den der nette Typ namens Ben herbeigezaubert hatte. Silkes Verwandlung in einen Haufen Silberstaub. Am meisten verblüffte Kristin allerdings, dass sie dabei einigermaßen cool blieb. Sie nahm hin, was da passierte. Es war nicht so, dass es ihr egal war. Sie hatte absolut keine Lust, zu sterben. Immer noch nicht. Aber auf eine seltsame Weise empfand sie den ganzen Wahnsinn, der gerade um sie herum tobte, als passend. Wenn schon Fabelwesen, dann mit aller Konsequenz. Was hatte sie erwartet? Dass ein Zollbeamter freundlich auf sie zukam, ihren Pass verlangte und sie auf die Einreisebestimmungen in die Anderswelt hinwies?

      Aber war das alles auch echt? Oder hatte sie vielleicht nur zu viel von der roten Blubberwolke eingeatmet, die in diesem komischen Portal waberte, das sich in den Isarauen geöffnet hatte?

      „Bleib dicht hinter mir, ...! Wie heißt du eigentlich?“, fragte Ben. Er sagte das so ruhig wie möglich. Kristin merkte ihm allerdings an, dass es ihn unheimlich viel Kraft kostete, diesen Schutzschild aufrechtzuerhalten. Ständig prasselten kleine Pfeile auf ihn ein. Und dann rannten auch noch Soldaten mit Schwertern und Spießen auf sie zu.

      „Kristin“, antwortete sie. „Pass auf den da mit dem Überbiss auf!“

      Mit beinahe fanatischem Blick stürmte der Kerl auf sie zu, mit einem Spieß in den Händen, der direkt auf sie zielte. Ben sah ihn, machte mit der rechten Hand eine Wischbewegung. Im gleichen Moment traf den Soldaten so etwas wie ein unsichtbarer Schlag, der seinen Angriff mit Wucht stoppte und ihn zur Seite warf.

      „Treffer“, entfuhr es Kristin. Was sagte sie da eigentlich? Da war kein Spiel. Menschen starben. Oder eigentlich Alben.

      „Ja“, sagte Ben. „Nur leider wird das nicht mehr lange gut gehen. Kannst du erkennen, ob der Übergang noch offen ist? Ich schätze, bei Maus und Viktoria ist es jetzt gerade etwas sicherer.“

      Kristin sah sich um. „Der ist weg.“

      „Scheiße“, fluchte Ben und warf mit seiner unsichtbaren Kraft zwei weitere Angreifer aus den Latschen. Dabei stöhnte er allerdings so laut, dass Kristin nicht davon ausging, dass er das mit allen so würde machen können, die gerade nach ihrem Leben trachteten. Und nun hatte auch sie richtig Angst. Das hier würde kein gutes Ende nehmen. Vielleicht wäre sie in einem deutschen Untersuchungsgefängnis doch besser aufgehoben gewesen.

      Dann aber kam die „Kavallerie“. Und wieder wunderte sich Kristin, dass sie nicht ansatzweise so verblüfft war, wie sie es hätte sein müssen. Denn die „Kavallerie“ war eine wilde Horde von Ungeheuern. Diese Kreaturen liefen zwar aufrecht auf zwei Beinen, allerdings hatten sie wuchtige Körper und Tierköpfe. Und keine Kreatur sah so aus wie die andere. Kristin kam es so vor, als hätte man die Einzelteile von Stieren, Pferden, Bären, Böcken und eben Menschen durcheinandergewürfelt und neu kombiniert. Minotaurus meets das Biest und wer weiß noch was. Das war unglaublich. Und es rettet ihnen das Leben. Denn die wilde Horde drängte die Angreifer innerhalb von Minuten zurück - zumindest diejenigen, die nicht von Knüppeln, Äxten oder Breitschwertern niedergemacht wurden. Wenige Minuten später war das Gemetzel vorbei - so plötzlich, wie es begonnen hatte.

      Es war doch irgendwie immer dasselbe, dachte Maus und brummte mürrisch.

      „Sag jetzt nichts, Dicker!“, sagte Viktoria, klang dabei aber auch nicht gerade euphorisch. Wie könnte sie auch? Es war kühl, stockdunkel und fing gerade an zu regnen. „Ich weiß genau, was dir gerade im Kopf herumspukt. Und weißt du, warum?“

      „Hm?“, hakte Maus nach.

      „Weil es immer derselbe Gedanke ist, der wie ein Flummi zwischen deinen Schädelwänden hin und herdötzt. Immer dann, wenn wir gerade eine Fuhre in die Anderswelt abgeliefert haben und danach mitten in der Nacht in zielsicher der Gegend Münchens unterwegs sind, in der man besser nicht alleine unterwegs ist.“

      „Ich mein ja bloß. Ben und die beiden spitzohrigen Ladys werden da drüben vermutlich mit großem Helau und Häppchen empfangen, während wir uns hier unberechenbaren Gefahren aussetzen. Es sind ja nicht nur die Behörden und Sardrowains Gefolgsleute. Hier tummelt sich allerlei lichtscheues Gesindel.“

      „Na na. Du wirst mir doch jetzt nicht erzählen wollen, dass du an Geister und Vampire glaubst.“

      „Mach dich nicht lächerlich, Süße! Zaubernde Albenmeister, Minotauren und rätselhafte Portale in andere Welten sind ja wohl eine Selbstverständlichkeit. Aber wer bitteschön glaubt schon an Geister und Vampire?“ Er lachte auf und schaffte es, dabei ein wenig hysterisch zu klingen.

      Zum Glück spuckte sie das Dickicht der Isarauen gerade wieder aus. Wenigstens das. Noch zwei Straßen weiter, dann würden sie am Auto sein.

      „Mann, Dicker. Was soll ich sagen? Dass ich mich besonders wohl dabei fühle, kann ich auch nicht eben behaupten. Aber ich sag nur drei Worte.“

      Sie machte eine bedeutungsvolle Pause.

      „Nämlich?“, drängte Maus etwas genervt.

      „Es ist verdammt wichtig!“

      „Das waren vier Worte.“

      „Scheißegal. Mit dem ’verdammt' habe ich improvisiert. Das zählt nicht.“

      Maus grinste frech. „Quatsch. Du hast dich verzählt.“

      „Hab ich nicht. Ich werde ja wohl noch bis vier zählen können.“

      „Du hast dich verzählt“, wiederholte Maus und gab dem ’verzählt' dabei eine schadenfrohe Melodie - so, als käme es von einem frechen Bengel auf dem Hof einer Grundschule.

      Viktoria versetzte ihm einen Knuff gegen den Oberarm, grinste jetzt aber auch.

      „Du bist ein total nerviger Drecksack, Maus. Und ich hab dich lieb.“

      „Danke, ich dich auch“, sagte Maus und machte urplötzlich halt. Sie waren gerade um die Ecke gebogen und blickten nun in eine Straße, wie es Hunderte in diesen typischen alten Wohngebieten der 60er Jahre gab. Verklinkerte Mauern, Holzfenster, von denen die Farbe abblätterte, Mini-Vorgärten, teils verwahrlost, teils pedantisch gepflegt. Maus hatte schon bei ihrer Ankunft eine hohe Dichte an Gartenzwergen festgestellt. Aber das war es natürlich nicht, was ihn gerade erschreckt hatte. Es waren die vier jungen Männer, die ganz in der Nähe seines alten Toyotas abhingen. Zwei saßen auf dem Randstein, rollten mit den Füßen zwei der vielen kleinen leeren Flaschen in der Rinne hin und her. Die anderen beiden standen sich gegenüber und unterhielten sich leise und rauchten dazu zwei Zigaretten. Sie trugen zerschlissene Jeans, T-Shirts, die Plattencover von weniger bekannten Heavy-Metal-Bands zeigten. Ihre lausig gestochenen Tattoos auf den Unterarmen zeigten Totenköpfe, Schlangen und Sprüche, die Maus gar nicht lesen wollte.

      Es hatte keinen Zweck, sich das schönzureden. Die vier Kerle waren nicht auf dem friedlichen Heimweg vom Bibelkreis. Sie waren knülle und hatten das gelangweilte Hirn voller zorniger Gedanken. Einen Moment lang überlegte Maus, in welche Gruppe der vorhin diskutierten unliebsamen Begegnungen die vier passten. Für die Behörden arbeiteten sie nicht. So viel war klar. Für Sardrowain vermutlich auch nicht. Sie lauerten ihnen nicht absichtlich auf. Sie gehörten

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