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Schrei wollte über seine Lippen, aber es gelang ihm nicht, seinen Mund zu öffnen. Er wollte dem Drang nachgeben sich zu bewegen, aber seine Knochen und seine Muskeln waren hart wie Stein. Noch war er nicht erwacht. Er suchte in seinen Gedanken nach Antworten auf all das, aber er fand sie nicht. Es gab sie nicht, als hätte jemand auf einer Schrifttafel die Buchstaben weggewischt. Er wusste nur, dass es nun kein Zurück mehr in die Dunkelheit gab. Etwas Großes hatte begonnen. Und er hatte Angst davor.

      Als Viktoria aufwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Sie brach durch die Lamellen der Jalousie am Fenster und legte ein strenges, gestreiftes Muster über Teile des Schlafzimmers. Auch Maus, der auf dem Rücken lag und im Schlaf angestrengt atmete, ähnelte einem unförmigen gemusterten Zebra. Seine Star-Wars-Decke hatte er fast vom Bett geschoben. Viktoria musste bei seinem Anblick lachen.

      „Was ...?“, murmelte er und öffnete ein Auge.

      „Schlaf weiter, Dicker!“, sagte Viktoria sanft und drückte ihm einen Kuss auf die Backe. Zufrieden brabbelnd schlief Maus sofort wieder ein. Er hatte bis zum frühen Morgen mit seinen Kumpels in Australien, Fidschi und Taiwan am Computer Trolle gejagt, Elfen gerettet und Drachen vernichtet. Jetzt war er platt.

      Viktoria lächelte zufrieden. Maus war nicht gerade Brad Pitt. Aber er war ein verdammt feiner Kerl. Als die Natur den Respekt über die Menschheit verteilt hatte, hatte Maus den größten Brocken davon abbekommen - während ein großer Teil der Menschheit leider leer ausgegangen war.

      O-Ton Maus: „Im Dschungel gibt es Tiere, die schießen Rotz auf andere, die sie fressen wollen. Und manche hängen sich zum Schlafen mit dem Schwanz an den Baum. Scheiße. Wie schräg ist das denn? Aber was soll's! Die tun auch nur, was sie können, um nicht unter die Räder zu kommen.“

      Einer seiner Lieblingssätze, kurz bevor er seinem irritierten Gegenüber empfahl, Blues zu hören. Viktoria hatte damals bei ihrem ersten Treffen geantwortet, diese Philosophie sei Mist, weil es im Dschungel keine Straßen und damit auch keine Räder gebe. Sie musste sich heute eingestehen, dass diese Bemerkung weder besonders geistreich noch besonders nett gewesen war. Aber Maus war begeistert und hatte mit einem lauten, herzlichen Lachen reagiert. Und bald hatte eines das andere ergeben und jetzt waren sie schon drei Jahre zusammen - zwei schräge Tiere im Dschungel. Und Viktoria war glücklich darüber. Ohne Maus hätte sie diese angepasste Mainstream-Welt kaum ertragen können.

      Sie hasste Falschheit und Unehrlichkeit wie die Pest. Ihre beiden älteren Schwestern hatten sich bei den Eltern immer angebiedert, um Süßigkeiten und später Geld zu erschnorren. Dabei waren sie vor keiner Schleimerei und keiner Lüge zurückgeschreckt. Immer waren die anderen schuld an allem gewesen. War das Fahrrad kaputt gegangen, dann aber nur, weil jemand anderes die Vorfahrt missachtet hatte. War die Note schlecht gewesen, dann ganz sicher nur deshalb, weil die Kopfschmerzen groß, der Stoff völlig unbekannt oder der Lärm der Banknachbarn unerträglich gewesen war. Dumm gelaufen. Und dabei hatten sie doch eigentlich nur immer alles richtig machen und den Eltern gefallen wollen. Widerlich. Aber das mit Abstand Schlimmste daran war, dass es funktioniert hatte. Viktorias Eltern waren Lämmer gewesen, die geglaubt hatten, was sie glauben mussten, damit das Gefüge ihrer heilen Welt nicht ins Wanken geriet. Sie hatten die Augen vor dem verschlossen, was offensichtlich war. Und sie hatten mit Viktoria absolut nichts anfangen können, weil sie sich dagegen gewehrt hatte. Unangenehme Wahrheiten, in unverblümter Direktheit vorgetragen, waren ihnen ein Gräuel gewesen. Viktoria war deshalb zuerst beim Kinderpsychologen und dann später im Internat gelandet, wo sie die bis dahin beste Zeit ihres Lebens gehabt hatte.

      Danach war es allerdings schnell wieder dunkler geworden. Während sie ihren Mitschülern im Internat noch interessant und amüsant vorgekommen war, war sie an der Uni an allen denkbaren und undenkbaren Ecken angeeckt. Hier hatten Menschen studiert und gelehrt, die das eigene Tun unglaublich ernst genommen hatten, so ernst, dass Viktorias spitze Anmerkungen für sie nichts anderes als persönliche Angriffe gewesen waren. Sie war zur krassen Außenseiterin geworden und der Zorn darüber hatte ihren Drang nur noch verstärkt, bösartige Kommentare zu ersinnen. Erst mit Maus war sie wieder einigermaßen friedlich geworden. Jetzt hatte sie wieder das Gefühl, ihr Leben einigermaßen im Griff zu haben. Maus hatte sie ermuntert, mit ihrem grafischen Talent Geld zu verdienen. Sie designte freiberuflich Webseiten und Werbekampagnen und war damit erfolgreich genug, um ein ordentliches, wenn auch nicht wohlhabendes Leben zu führen. Zusammen mit Maus' Einkommen als Webmaster bei einer regionalen Bank reichte es jedenfalls.

      Liix war die Kür in ihrem aktuellen Dasein. Aktionen, wie die gegen Zöllner, erfüllten sie mit großer Genugtuung. Das lag zu einem guten Teil am Nervenkitzel. Mehr noch als das berauschte sie aber das Gefühl, Menschen, die sie verabscheute, Böses anzutun. Das bediente ihre ausgeprägte aggressive Seite - da machte sie sich nichts vor. Aber bitte - wenn es Tiere gab, die andere mit Rotz beschossen ...

      Viktoria schälte sich aus ihrem Bett, schlüpfte in einen hellblauen zu kurzen Bademantel und ging leise in die Küche. Dort steckte sie eine geschälte Banane und fünf Erdbeeren in den Mixer, gab Milch dazu und dachte kurz nach. Maus würde davon aufwachen, wenn sie jetzt auf den Knopf drückte. Sie zog den Finger wieder zurück. Viktoria würde ihren morgendlichen Fitnessdrink später genießen müssen. Schnell stopfte sie sich eine Erdbeere in den Mund und zog den zweiten Teil ihrer Morgenroutine vor: Den Computer checken.

      Im Netz war immer irgendetwas los. Der Trick war, in den sozialen Netzwerken ein paar hundert „Freunde“ gesammelt zu haben. Und schon spielten so lästige Dinge wie zwischenmenschliche Aktivitäten, Sympathie oder Umgangsformen keine große Rolle mehr. Der Marktplatz schriller Bilder, schräger Sprüche und irrwitziger Neuigkeiten war eröffnet. Nein, falsch. Er hatte nie geschlossen. Die Menge der Leute, die der Welt etwas mitzuteilen hatte, schien grenzenlos. Viktoria genoss das von ganzem Herzen. Das war die Plattform, auf der sie ihre Spitzfindigkeiten ungestraft abfeuern konnte und auch noch Beifall dafür bekam.

      Heute allerdings hielt sie sich nicht mit Twitter, Facebook und Google+ auf. Sie klickte sofort den YouTube-Button und rief das Video „Zöllners Armageddon“ auf, das sie am Tag davor unter den Namen „Liix“ hochgeladen hatte. Was sie sah, raubte ihr den Atem.

      „Verdammte Axt!“

      Viktoria ließ sich auf den schrillgelb lackierten hölzernen Bürostuhl sinken. Dann rieb sie sich die Augen und blickte noch einmal auf ihren 22-Zoll-Bildschirm. Kein Traum hätte so wunderbar sein können.

      „Maus! Beweg deinen faulen Hintern und komm her. Das hier wirst du lieben“, schrie sie.

      Viktoria ignorierte das nölige Gebrummel aus dem Schlafzimmer. Lange 20 Sekunden später tapste Maus an. Er kratzte sich am Bauch. Seine Haare sahen aus, als hätte er in eine Hochspannungsleitung gebissen.

      „Kleine, du weißt, dass du für mich der Hammer bist!“, murrte er. „Aber wenn du mich aus den Federn gehauen hast, weil du bei eBay den Zuschlag für noch 'ne externe Festplatte bekommen hast, dann haben wir zwei ein echtes Problem.“

      „Viel besser, Maus. Viel besser. Ben hat gestern nicht umsonst seinen rechten Fuß geopfert.“

      „Es war der linke Fuß. Außerdem glaube ich nicht, dass ...“ Maus verstummte und wurde schlagartig wach. Ungläubig sah er zu Viktoria und dann wieder auf den Bildschirm.

      7235 Aufrufe und das über Nacht. Die Liix-Lawine rollte unaufhaltsam durch das Internet. Maus hatte plötzlich große Lust zu feiern und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er Appetit auf Sekt, obwohl er weder Alkohol noch zu viel Kohlensäure leiden konnte. Das war einfach nur großartig.

      „Dicker. Du hast diesmal sogar recht gehabt mit deinem Gerede vom großen Durchbruch!“, juchzte Viktoria.

      Maus ballte die Faust und stieß einen martialischen Schrei aus. „So macht das Ganze Spaß“, fügte er hinzu. „Kommentare?“

      „Ein ganzer Sack voll“, antwortete Viktoria. „Die meisten freuen sich mit uns. Es haben aber auch ein paar Zöllner-Zombies geschrieben.“

      Sie scrollte zwei Bildschirmlängen weit nach unten und blieb bei einem in Großbuchstaben geschriebenen Eintrag stehen, den „ochdoi1701“ gepostet hatte: „IHR BLEIBT IHNEN

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