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Enophasia. Olaf Sandkämper
Читать онлайн.Название Enophasia
Год выпуска 0
isbn 9783847613831
Автор произведения Olaf Sandkämper
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Auch Morgenröte war müde und legte sich zu ihren Kindern. Zärtlich rieb sie mit ihren samtweichen Nüstern über Schneekristalls und Rosenblütes Stirn. Dann sah sie noch einmal hinüber zu Silberstreif, der völlig regungslos am Eingang ihres Unterschlupfs stand und in die Nacht hinaus sah. Sie wusste, dass er sich bis zum ersten Sonnenstrahl nicht mehr vom Fleck rühren und jedes Geräusch und jede Bewegung wahrnehmen würde. Nichts dort draußen würde es schaffen, sie im Schlaf zu überraschen. In der Ferne hörte sie das leise Grummeln eines entfernten Gewitters. Doch dieser Unterstand war so sicher und dicht, dass er den Regen zuverlässig abhalten würde. Beruhigt schlief auch sie bald ein.
Am nächsten Morgen erwachte Morgenröte und sah gerade noch wie Silberstreif den Unterstand verließ. Sofort merkte sie, dass sich etwas verändert hatte. Der Wald war dunkel geworden, so als hätte jemand die Farbe weggenommen. Äste, Blätter und Zweige waren grau und schwarz. Sie trat neben Silberstreif, der die Umgebung genau musterte und sich ohne umzusehen sagte: „Es scheint, wir sind neben den Bäumen hier die einzigen Lebewesen in diesem Wald.“ „Ja“, antwortete Morgenröte. „Ich höre keine Vögel und sehe auch keine anderen Tiere mehr. Was geschieht hier?“
„Die 'Finsternis' hat sich diesen Teil Enophasias bemächtigt“, antwortete Silberstreif düster. „Sie dringt immer tiefer in unser Land ein. Sind unsere Kinder schon wach? Wir sollten keine Zeit verlieren und uns auf den Weg machen. Unser Vorteil ist, dass wir nun nicht mehr so aufpassen müssen. Denn für einen Angreifer gibt es hier nun keine Deckung mehr. Auch die Bäume werden wohl bald verschwunden sein.“
„Hast so etwas schon einmal gesehen?“, fragte Morgenröte verwundert und rieb ihre Nüstern an seinem Hals. „Ja. Es ist schon lange her. Vor vielen Jahren kam die Finsternis aus dem Norden und verschlingt seither unser Land. Ich war mit meinem Vater und dem Rat der Einhörner dort und habe es mir angesehen. Bisher haben wir noch kein Mittel gefunden, sie zurück zu drängen, darum hatte der Rat der Herde bislang noch nichts gesagt. Wo sich die 'Finsternis' breit macht, stirbt alles. Große Teile des Nordens wurden schon zerstört.“ „Aber wir sind hier im Westen!“, warf Morgenröte ein. „Ja“, antwortete Silberstreif traurig. „Aber im äußersten Nordwesten. Wie es scheint, breitet sich die Finsternis zuerst an den Rändern unseres Landes aus, bevor sie ins Landesinnere vordringt. Wer weiß, vielleicht ist der Osten auch schon betroffen.“
Inzwischen waren die Fohlen erwacht und traten aus dem Versteck heraus. Mit großen Augen sahen sie sich um. Der grüne Wald, durch den sie gestern noch gelaufen waren, war einem düsteren und dunklen Ort gewichen, der einen scharfen Kontrast zu den weißen Einhörnern bildete.
Silberstreif drängte zum Aufbruch und nachdem die Kinder getrunken hatten, machte sich die Familie wieder auf den Weg.
Nachdem sie einige Zeit durch diesen unwirklich anmutenden Wald gelaufen waren, kamen sie auf eine kleine Lichtung. Wie trostlos dieser Ort war, kein Vergleich mit dem grünen Fleckchen Erde, auf dem Schneekristall und Rosenblüte das Licht der Welt erblickt hatten. Hier war alles dunkel und trist. Am Himmel jagten dunkle Wolken dahin, aus denen kleine, grelle Blitze zuckten. Die Geschwister schauten sich dieses Schauspiel staunend einige Zeit an. Die Eltern hingegen, getrieben von Sorge, wollten schnell weiter.
Am frühen Nachmittag stellte die kleine Gruppe fest, dass es im Wald wieder etwas Farbe gab. Scheinbar verließen sie nun den Einflussbereich der 'Finsternis'. Doch noch immer war es totenstill im Wald, kein Vogelgezwitscher, kein Plätschern eines Bächleins und kein Rauschen von Blättern drangen an ihr Ohr. Dafür hörten sie plötzlich etwas anderes. Es war ein leises, schleifendes Geräusch und es kam aus unmittelbarer Nähe.
Die Einhörner blieben wie erstarrt stehen und lauschten. Dann, sehr langsam und vorsichtig, ging Silberstreif auf die Quelle des Geräusches zu. Es kam direkt hinter einer dicken Eiche hervor. Ganz langsam lugte der Hengst um den Baumstamm herum und sah – ein kleines, hageres Männlein, das sich mühte, einen viel zu großen Sack unter einer viel zu kleinen Baumwurzel hervor zu ziehen. Es trug braune Hosen und eine grünbraune Jacke mit einer spitzen Zipfelmütze und stand so am Baum, dass es dem Einhorn den Rücken zudrehte. Ab und zu fluchte der Zwerg leise und zerrte immer wieder aus Leibeskräften an dem braunen Sack. Dabei riss der Stoff und das Männlein fiel hinten über, knallte mit dem Kopf auf den Boden und - blickte direkt in die schwarzen Augen eines schneeweißen Wesens mit einem eben so weißen Horn auf der Stirn.
„Oooaahh“, schrie der Zwerg entsetzt, sprang behände auf die Füße und drückte sich mit dem Rücken an den Baum. Aus dem Gesicht, das fast ganz von einem braunen Bart zugewachsen war, funkelten zwei Augen, schwarz wie kleine Kohlen, die das Einhorn angstvoll anschauten. Gehetzt blickte der kleine Mann nach links und rechts auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit, dann wieder auf den Sack, der immer noch verklemmt unter der Baumwurzel hing. Es war nicht schwer zu erraten, dass das Männlein am liebsten Reißaus nehmen, andererseits aber seinen Sack mit den Habseligkeiten nicht im Stich lassen wollte.
„Bitte, bitte, bitte … tu mir nichts!“, rief es mit heiserer Stimme.
„Keine Angst, ich tue dir gewiss nichts“, antwortete Silberstreif mit sanfter Stimme. „Soll ich dir helfen?“
„Ja … nein … wieso“, stammelte der Zwerg, der offensichtlich immer noch völlig von der Rolle war. Zu allem Unglück kamen nun auch noch die anderen Einhörner links und rechts um die große Eiche herum und kreisten das Männlein regelrecht ein. „Was wollt ihr denn alle von mir?“, kreischte der kleine Kerl und sah unsicher von einem zum andern.
Rosenblüte trat einen Schritt vor und sah das Wesen vor sich mit unverhohlenem Interesse an.
„Mama, was ist das?“, fragte sie, ohne den Blick abzuwenden. Morgenröte bedachte die kleine Stute mit einem liebevollen Blick.
„Oh Rosenblüte, du sprichst schon. Wie schön! - Das was du da siehst ist ein Baumzwerg. Und noch ein ziemlich junger, wie mir scheint.“
Jetzt drängte auch Schneekristall nach vorne. „Es sieht so – zerbrechlich aus“, sagte er.
Freudig und voller Stolz betrachteten die erwachsenen Einhörner ihre Kinder, die beide nun ein winziges Horn auf der Stirn trugen.
„He, redet nicht so über mich, als wäre ich ein Vogel in einem Käfig!“, entrüstete sich der Zwerg. „Es!“, schnaubte er. „Ich bin Simnil, der Baumzwerg, der Waldläufer, ein geschickter Jäger und Krieger und …“.
„Und Nesträuber und Fallensteller“, vollendete Silberstreif die Prahlerei des kleinen Wichts und deutete mit seinem Horn auf den zerrissenen Sack aus dem allerlei Zeugs zum Vorschein kam.
„Das geht euch nichts an“, gab der Baumzwerg unwirsch zurück. „Von irgendwas muss man ja leben.“ „Du raubst Vogeleier?“ Rosenblüte war ehrlich entsetzt.
„Ja, … Nein“, druckste der Zwerg. „Es sind ja gar keine Vögel mehr da! Sie sind weg und lassen ihre Gelege im Stich. Es wäre doch schade um die schönen Eier. Wisst Ihr was? Ich mache uns jetzt erst mal ein schönes Omelette!“
Angeekelt wandten sich die Fohlen ab.
„Was denn, was denn? Wisst ihr denn nicht, wie gut ein Omelette aus frischen Vogeleiern schmeckt?“
„Wir Einhörner essen keine Eier und auch sonst nichts von einem Tier“, belehrte ihn Morgenröte.
„Waaas? Ihr seid Einhörner?“
„Ja natürlich! Was hast du denn gedacht?“, fragte Silberstreif zurück.
„Na ja, ich habe noch nie welche getroffen und wusste bis jetzt auch nicht, wie ihr ausseht. Da habe ich euch für Pferde gehalten. Für Pferde mit einer Riesenbeule auf dem Kopf“, grinste der Wicht frech.
„Hör mal“, sagte Silberstreif, die Unverschämtheit des Zwerges ignorierend, „wir sind auf dem Weg zum 'Palast des Lichts' und ich hätte gerne gewusst, ob