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hob Ryan den Kopf doch wieder und musterte sie unverhohlen. Seiner Schätzung nach war sie vielleicht sein Alter, also Anfang 20. Es war schwer einzuschätzen, wegen des Dämmerlichts und ihrer Haltung. Sie wirkte krank und müde. Ihre Aura strahlte mehr als alles andere Hilflosigkeit aus.

      Einem Instinkt folgend erhob Ryan sich, doch noch bevor er springen konnte, kippte das Mädchen nach vorn und auf die Knie. Ihre Finger hätten sich in den Boden gegraben, wäre er nicht aus Beton gewesen. Augenblicklich roch Ryan das Blut, doch sie schien es nicht zu bemerken. Die Stirn zwischen ihren verkrampften Händen auf den Boden gelegt, schien sie einen Aufschrei zu unterdrücken, der ihr einen Moment später doch entfuhr. Sie litt eindeutig Schmerzen.

      Mit einem Satz war Koon neben ihm und schaute ebenfalls auf das Mädchen hinab. Sein Blick war verwirrt und ein leises Grollen drang aus seiner Kehle. Ryan schaute nicht weiter zu ihm, stattdessen entschied er, sich dem Mädchen zu nähern, und sprang von den Kisten über den Zaun. Er landete fast lautlos und senkte sofort den Kopf als Zeichen des Friedens, doch sie hatte ihn nicht mal bemerkt. Noch immer hockte sie auf Knien, doch den Kopf hatte sie nun nicht mehr am Boden.

      Abermals legte Ryan sich nieder und kroch dann näher an sie heran. Sie keuchte schwer und der salzige Geruch von Tränen hing in der Luft. Es waren vielleicht noch drei Menschenschritte Abstand zwischen ihnen, als er sich mit einem leisen, kehligen Laut bemerkbar machte. Er hielt sofort inne, als sie auf und zu ihm schaute. Ihre Augen schimmerten vor Tränen und eine tropfte noch von ihrer Nase auf den Boden, als ihre Blicke sich trafen.

      Er legte die Ohren an und senkte den Kopf sofort wieder, damit sie sah, dass er ihr nichts tun wollte. Sie keuchte abermals, dann erfasste ein neuer Krampf das Mädchen. Ryan wollte noch näher an sie herankriechen, doch diesmal bemerkte die Kleine es, denn so schlimm der Krampf auch sein mochte, sie rutschte trotzdem weg von ihm. Auf allen vieren und Schluchzer ausstoßend, brachte sie mehr und mehr Abstand zwischen sie beide. Ryan hatte innegehalten, als er ihr Zurückweichen bemerkt hatte, doch sie kroch weiter und weiter, als wolle sie vor einer Bestie fliehen.

      Koon landete am Boden und stellte sich neben Ryan. Sein Blick blieb ebenfalls bei dem Mädchen und noch immer grollte er vor sich hin. Ryan entschied, noch einen Annäherungsversuch zu wagen, und erhob sich. Den Kopf gesenkt machte er ein paar zaghafte Schritte in ihre Richtung, hielt aber sofort wieder inne, als sie sprach.

      Es war mehr Flehen als alles andere. „Bitte. Geh weg. Geht beide weg. Ich will nicht.“

      Was will sie nicht?, überlegte er und wollte wieder auf sie zugehen.

      „Nein. Bitte. Ich will das nicht“, weinte sie und rutschte weiter am Boden und von den beiden Wölfen weg. Ihr Körper krümmte sich vor Schmerzen, als der nächste Krampf über sie hereinbrach. Ryan warf einen Blick über die Schulter zu Koon und endlich sah dieser ihn an. Sein Blick war unergründlich, dann schaute der Späher noch mal zu dem Mädchen, wandte sich ab und trottete in eine angrenzende Gasse davon.

      Ryans verwirrter Blick flog wieder zurück zu der Kleinen. Sie hatte mittlerweile eine alte Tonne erreicht und zog sich daran hoch. Er konnte sehen, dass sie Schmerzen litt, verstand aber nicht, warum sie sich das antat.

      Er hatte geschlussfolgert, was sie tat, konnte sich aber beim besten Willen nicht zusammenreimen, warum sie es machte. Noch nie zuvor hatte er einen Verweigerer gesehen. Er könnte sich verwandeln und sie fragen, warum sie so gewählt hatte. Aber würde sie ihm überhaupt antworten?

      Sie wollte ihn ja nicht mal in ihrer Nähe haben. Ryan sah ihr nach, wie sie sich weiterschleppte und schließlich das Ende der Gasse erreichte. Ihr Blick huschte zu ihm zurück und er senkte abermals den Kopf, um ihr zu zeigen, dass er nichts Böses wollte. Irgendwie hoffte er, sie würde vielleicht doch wieder herkommen. Sie tat es nicht. Einen Augenblick später bog sie, die Wand als Halt nutzend, um die Ecke des Hauses und verschwand.

      Einen Moment lang stand Ryan einfach nur da und versuchte, zu verstehen, was da gerade passiert war. Dann drang Koons halbes Heulen zum ihm, was ihn rufen sollte. Er schüttelte sich und wandte sich um.

      Koon würde seine Sachen sicher mitnehmen. Er selbst würde auf vier Beinen zurück zum Rudel laufen. So konnte er noch mal in Ruhe über das nachdenken, was gerade passiert war.

      Verweigerer

      Ryan kam kurz nach Hakoon beim Rudelsitz an. Das Haus am Rand von Brandon war hell erleuchtet, als er die erste Pfote in den Vorgarten vom Haupthaus setzte. Neben diesem Gebäude gab es noch zwei weitere, in denen Mitglieder des Rudels lebten.

      Das Haupthaus gehörte der Alphafamilie, ein zweites den Spähern und Ausbildern und das dritte den normalen Mitgliedern. Als dritt ältestem Sohn des Alphas stand Ryan ein Zimmer im Haupthaus zu. Er hatte allerdings auch eines im Mitgliederhaus. Das nutzte er meist dann, wenn seine eigentliche Familie ihm mal wieder auf die Nerven ging.

      „Ryan!“ Das war Tavis, sein Vater. Binnen eines Moments hatte er die Menschengestalt wieder und lief gemächlich auf zwei Beinen zur Veranda. Seine Mutter, Charlotte, murrte hörbar und kam mit einer Decke auf ihn zu.

      „Wie oft sollen wir dir noch sagen, dass du das nicht im Vorgarten tun sollst?!“, knurrte sie und die Alpha schwang überdeutlich mit.

      „Anscheinend habt ihr es noch nicht oft genug getan“, witzelte er und nahm den missbilligenden Blick seiner Mutter gelassen hin. Es bestand nicht im Ansatz die Gefahr entdeckt zu werden, denn der Vorgarten selbst war von einer so hohen Steinmauer umgeben, dass man schon eine Leiter bräuchte, um von der Straße aus etwas erkennen zu können. Einzig das Mitgliederhaus stand relativ nah zu einem Nachbargrundstück. Doch selbst dort konnte man im Dunkeln nichts ausmachen. Der Hauptsitz war mit Bedacht gewählt worden und bot nun schon in siebter Generation dem Rudel der Thalans Schutz.

      Die Hand seiner Mutter im Rücken betrat er das Haus und ging ohne Umwege in die große Wohnküche, um sich etwas zu trinken zu holen. Die Flasche Cola in der Hand gab er seiner Mum ein Zeichen und machte sich dann auf in sein Zimmer. Für das wöchentliche Treffen sollte er sich lieber etwas anziehen.

      Zurück im Wohnzimmer stellte Ryan sofort fest, dass nicht alle anwesend waren. Neben seinen Eltern waren seine Brüder Evan und Xander hier, ihr Späher Hakoon und von den Mitgliedern Otis, Gero und Rahel. Sein Blick musste seine Verwirrtheit zeigen, denn sein Vater erklärte die Abwesenheit des Rests.

      „Emily und Miles sind unterwegs. Sie haben die anderen mitgenommen, um ihnen zu zeigen, wie wir vorgehen, wenn fremde Wölfe in unser Gebiet kommen“, sagte er tonlos und wedelte mit der Hand, das Zeichen für Ryan sich zu setzen. Er tat wie befohlen und ließ sich neben Hakoon auf einem von drei großen Sofas nieder. Sein Vater blieb stehen und erklärte weiter. „Emily hat die Witterung von einigen Fremden aufgenommen. Sie und Miles sind dabei rauszufinden, wer die anderen sind und ob sie eine Gefahr für uns darstellen.“

      „Wo kommen sie her?“, wollte Ryan wissen und zog die Stirn kraus. Sie hatten schon seit einer Ewigkeit keine Probleme mehr mit anderen Rudeln gehabt. In weitem Umkreis gab es nur zwei weitere, mit denen sie aber im Bündnis lebten.

      Überhaupt gab es selten Zwist zwischen den Rudeln. Nicht mal mehr Revierkämpfe gab es, denn die moderne Zeit hatte mit Land- und Besitzurkunden, sowie Miet- und Pachtverträgen die Kämpfe um Territorien abgelöst. Lediglich wenn ein Jungwolf sich behaupten und den aktuellen Alpha stürzen wollte, gab es noch Kämpfe. Aber auch hier selten zwischen den Rudeln. Intern ging der Titel aber über die Geburtenreihenfolge weiter. Meistens jedenfalls.

      „Sie kommen aus dem Norden. Wir wissen auch noch nicht mehr. Emily hat vorhin erst angerufen. Wir werden ihre Rückkehr abwarten müssen“, erklärte Tavis.

      Ryan nickte, dass er verstanden hatte und fragte dann: „Glaubt ihr die wollen was von uns?“

      Sein Vater schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht. Und falls doch hoffe ich, dass sie uns erst mal kontaktieren, bevor sie handgreiflich werden.“ Sein Blick wurde argwöhnisch. „Ich frage mich, was sie zu uns verschlagen hat?“

      „Hier gibt es die hübscheren Frauen“, witzelte Hakoon und hob die

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