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kommen?“

      „Ja“, musste ich eingestehen. Vor allem Sport und Musik bedeuteten mir noch mehr als Frau und Sohn. Nichts anderes lässt mich so sehr mich erleben. Musik und Sport sind transzendal. Ich freue mich sehr gerade mit dem wiedergewonnenen Sport mein Leben wieder vollständig zu haben. Andererseits hatte ich das während meiner feierabendlichen Trinkphase auch immer erwartet, dass das wieder so wird. Ich konnte mir das Trinken nur erlauben, weil ich wusste, dass ist rein temporär. Ich wusste, dass mein Leben stark deterministisch geprägt ist. Das gibt doch den Rahmen vor. Fast alles, was ich heute noch tue, ist eine Fortsetzung der Ideen und Träume, die ich als Kind und Jugendlicher entwickelt habe. Da drin gab es keinen Alkohol. Das Trinken konnte deshalb nur ein Intermezzo sein. Natürlich beeinflusst mich auch mal was Neues, schließlich lebe ich nicht isoliert in dieser Welt. Aber meine Interaktionen fördern nur wenig grundlegend Neues. Meist sind es Variationen alter Leidenschaften aus der Kindheit. Ich bin Naturwissenschaftler geworden weil, ich als Kind Fossilien aus dem Kalkstein gehauen habe und im Wald Tiere beobachtet habe mit meinem Spektiv. Meine berufliche Tätigkeit ist auf dem ersten Blick primär betriebswirtschaftlich ausgerichtet, ihr liegen aber biochemische Produkte und Anwendungen zu Grunde. So ist mein Beruf letztlich eine Variation eines in der Kindheit generierten naturwissenschaftlichen Interesses. Selbst meinen Kindheitstraum vom Fliegen lebe ich beim Drachen- und Gleitschirmfliegen noch heute aus. Auch das Salsa tanzen ist nur eine neue Variante meiner alten Leidenschaft für Musikmachen. In dieser Kontinuität gebahnter, neuronaler Prädispositionen ist Abstinenz so irrelevant, weil sie automatisch da ist. Ich muss nicht an ihr arbeiten.

      „Woher haben sie das neurobiologische Vokabular?“

      „Das war Teil meines molekularbiologischen Schwerpunkts und ist noch Hintergrundwissen für spezielle Fragen der Pharmakologie in meinem Job.“

      „Das ist sehr spannend, aber uns bleibt keine Zeit mehr das zu vertiefen. Mein Gott ist das spät. Ein Glück, dass niemand mehr nach Ihnen kommt. Wir können das jetzt leider nicht weiter ausführen. Für weitere Fragen bleibt keine Zeit. Ich breche hier mal ab. Im Prinzip sind wir ja durch.“

      Ich sah wie die Gutachterin am PC durch ihre Mitschrift blätterte. Suchte sie doch noch nach weiteren Fragen? Mein Blick auf die Uhr bestätigte ihre Vermutung. Ich hatte reichlich überzogen. Sie ging noch schnell einige meiner Aussagen durch, um wie sie meinte, Missverständnisse auszuschließen.

      „Wir sind soweit durch“, sagte sie nach einigen Minuten nochmal und blickte auf. Dann fügte sie an: „Es sind noch weitere Überlegungen anzustellen, aber wahrscheinlich wird das Ergebnis meiner Untersuchung negativ ausfallen.“

      Ich reagierte nicht und sie erklärte weiter, dass für eine positive Bewertung der Nachweis einer Abstinenz über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr zwingend erforderlich ist. Außerdem falle es ihr leichter eine positive Haltung einzunehmen, wenn bereits eine Therapie gemacht wurde. Die positive Prognose eines Therapeuten sei immer eine überzeugende Unterstützung bei ihrem Urteil.

      Das war es also. Mit diesem Ende hatte ich nicht gerechnet. Ich konnte also von Anfang an diese MPU nicht schaffen. Es fehlten Voraussetzungen. Ich hatte kein Ergebnis einer Therapie vorliegen und konnte auch nicht ein ganzes Jahr Abstinenz dokumentieren. Dabei hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, ich hatte alle Fragen zufriedenstellend beantwortet. Das schien wohl nicht genug zu sein. Wieso hatte sie das nicht gleich am Anfang gesagt? Wieso hatten wir uns auf diese Untersuchung eingelassen, wenn etwas von Anfang an fehlte. Warum hatte sie die Untersuchung durchgeführt, wenn nichts dabei rauskommen konnte? Wenn es nichts nützte, mich aufs Persönlichste zu erklären, dann will ich das auch nicht tun. Schließlich musste ich mit der Möglichkeit rechnen, dass alles, was ich hier sagte, bei der nächsten MPU gegen mich verwandt werden konnte.

      „Ganz bestimmt nicht“, wiegelte sie meinen Einwand ab: „Wir wollen doch alle nur das beste. Wenn Sie schon mal hier sind, dürfen Sie doch ruhig erfahren, wo Sie stehen.“

      „Ein teurer Testlauf“, warf ich resignierend ein.

      „Aber auch eine Bestätigung, dass es hoffnungsvoll aussieht. Mit der Dokumentation der Abstinenz und vielleicht einem Therapeuten sind ihre Chancen doch gut.“

      Das mochte aus ihrer Sicht ja so scheinen, aber wie würde das beim nächsten Mal wirklich aussehen? Ein negatives Gutachten konnte kein gutes Entré für die nächste Begutachtung sein, auch dann nicht, wenn die Gutachterin der Meinung war, das ich das schon schaffen müsste, wenn ich ausreichend Abstinenznachweise und eine Therapie nachweisen könnte.

      Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste war, dass niemand verpflichtet ist, Gutachten an die Verkehrsbehörde zu schicken. Der Klient ist der Auftraggeber. Er allein entscheidet über die Verwendung. Es ist falsch anzunehmen, weil die MPU unter Mitwirkung und mit Hilfe der Akten der Verkehrsbehörde durchgeführt wird, dass die Behörde Anspruch hat auf eine der beiden Kopien, die der Auftraggeber von dem Gutachter erhält. Der Klient kann jederzeit eine MPU beantragen. Es ist sinnvoll, erst bei Erfolg eine Kopie des Gutachtens an die Führerscheinstelle zu schicken.

      Was blieb mir übrig, als mich zu verabschieden und zu gehen. Sie hatte es immerhin gut gemeint und war sehr freundlich. Jedenfalls war absolut klar, wie es weitergehen musste. Ich würde weiterhin Abstinenz dokumentieren bis ich Nachweise für ein ganzes Kalenderjahr gesammelt hätte, um dann erneut eine MPU zu beantragen. In der Zwischenzeit würde ich eine Therapie machen. Meine Enttäuschung ließ etwas nach. Es ist leichter Ärger abzuschütteln, in einem Moment, wo man einen Ausweg sieht. Wenn man weiß, was die Ursache für einen Zustand ist und klar ist, welche Maßnahmen zu treffen sind, dann wird ein Ziel wieder greifbar und man kann trotz der Strecke, die noch vor einem liegt, wieder lachen.

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