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Weiterleben!. Jonas Enkogia
Читать онлайн.Название Weiterleben!
Год выпуска 0
isbn 9783847635451
Автор произведения Jonas Enkogia
Жанр Сделай Сам
Издательство Bookwire
Durch Gespräche im Freundeskreis – dabei dämmerte mir langsam, wie viele Menschen unter Ängsten, Depressionen und anderen seelischen Erkrankungen litten – wurde ich auf die Hardtwaldklinik II im hessischen Bad Zwesten aufmerksam. Die Fachklinik für Psychotherapie und Psychosomatik hat einen guten Ruf, das Haus selbst liegt idyllisch auf einem Hügel am Waldrand, und die Wartezeit war damals erträglich. Nachdem Dr. Berger sein Gutachten geschrieben und die Krankenkasse meinen Aufenthalt bewilligt hatte, fuhr ich nach Bad Zwesten und bezog dort im Oktober ein Zimmer mit Balkon im fünften Stockwerk. Ursprünglich sollte ich nur vier Wochen dort bleiben. Aber wegen der Schwere meiner Erkrankung und der guten Fortschritte, die ich in der Therapie machte, wurde der Aufenthalt mehrfach verlängert und letztlich auf zwölf Wochen ausgedehnt. Heutzutage ist die Kostenübernahme für eine derartig lange Reha nur schwer zu bekommen, denn Krankenkassen und Rentenversicherungsträger achten sehr aufs Geld und rechnen mit spitzem Bleistift. Das ist der Kostenexplosion im Gesundheitswesen geschuldet und teilweise nachvollziehbar, doch selten gut für die Patienten. Sogar Kliniken und Krankenhäuser müssen heute Profite machen, leider bleibt der hilfsbedürftige Mensch dabei oftmals auf der Strecke.
Wie auch immer, 1993 durfte ich zwölf Wochen lang in der Hardtwaldklinik II mit motivierten und kompetenten Therapeuten an meiner Genesung arbeiten. Dieses Vierteljahr war eine sehr wichtige Zeit und bescherte mir wertvolle Einsichten und Erkenntnisse, für die ich dankbar bin. Es waren zwar oftmals schmerzhafte Erfahrungen, aber das kannte ich ja bereits aus der Primärtherapie. Mein Opa war Landarzt in einem kleinen Dorf an der Nordseeküste. Er starb leider schon vor meiner Geburt, aber ein überlieferter Satz ist mir im Gedächtnis geblieben: ‚Medizin muss bitter sein, sonst hilft sie nicht.’ Das stimmt natürlich nicht immer und unbedingt, aber etwas Wahres ist schon daran. Während meiner ersten Reha habe ich in der Hardtwaldklinik II Rotz und Wasser geheult, bin aber mit gestärktem Lebenswillen und wichtigen Einsichten heimgefahren. An erster Stelle stand die Erkenntnis, dass die kindliche Logik, derzufolge meine Mutter noch leben würde, wäre ich nicht geboren worden, zu einem mächtigen Schuldkomplex geführt hatte.
Jener Teil meines Bewusstseins, der abwägt und wertet, fällte nämlich irgendwann ein folgenschweres Urteil. In einem Satz ausgedrückt, lautet es: ‚Weil du deine Mutter auf dem Gewissen hast, darfst du nicht glücklich sein, du musst büßen und leiden.’ Ich hatte meine tote Mutter im doppelten Wortsinn auf dem Gewissen, fühlte mich schuldig und büßte daher fleißig. Auge um Auge, Zahn um Zahn – ähnlich unnachsichtig urteilte der Richter in meinem Inneren. Du hast den Tod jener Frau verschuldet, die dir dein Leben schenkte, und bist deshalb auf ewig verdammt. Der Todesstrafe, auszuführen durch eigene Hand, bin ich zwar bisher entgangen, habe aber kein Recht auf Glück und Erfüllung. Die Lüge meines Vaters war die Grundlage für den Richterspruch, sie überdauerte 23 lange Jahre. Doch auch nachdem er die Wahrheit über den Tod meiner Mutter gestanden hatte, gab es vor dem Gericht meines Unterbewusstseins keine Begnadigung. Warum kämpfte ich weiter gegen das Gute an? Wer warf mir ständig Knüppel zwischen die Beine und wollte verhindern, dass mein Leben glückte? Wieso lag ich ständig im Streit mit mir selbst und wer war mein heimlicher Gegenspieler?
Sabotage
Die zwölf Wochen in der Hardtwaldklinik II vergingen erstaunlich schnell. Obwohl die drei Fragen am Schluss des letzten Kapitels auch dort unbeantwortet blieben, lernte ich dennoch eine unbeugsame Kraft kennen, die in mir wirkte. Sie hatte – soviel begriff ich in einer Gruppensitzung – dafür gesorgt, dass ich trotz der vermeintlichen Schuld und des gegen mich gefällten Urteils am Leben geblieben war. Und dieses Leben galt es zu genießen. Ich verliebte mich in eine Mitpatientin und gemeinsam brachen wir ein paar der dusseligen Klinikregeln. Wir tranken Wein und rauchten in unseren Zimmern, und mieteten uns sogar in einer Pension ein, um ungestört miteinander ins Bett gehen zu können. Ähnlich wie dreizehn Jahre zuvor im Allgäu kam der Punkt, an dem Psychotherapie nervte. Ständig diese Nabelschau, immer das Kreisen um vergangenes Leid. Wie öde! Täglich saß man in Gruppen, wo nur gejammert, geklagt und geweint wurde. Einzeltherapie gab es – in meinen Augen ein eklatanter Mangel in vielen Reha-Kliniken – nur einmal pro Woche und auch dann nur dreißig Minuten. Sogar in den Gruppensitzungen musste man sich energisch durchsetzen, um eigene Themen bearbeiten zu können. Ständig breitete jemand ein Problem aus – vollkommen zu recht natürlich – und wer zuerst, kommt mahlt zuerst. In einer zehnköpfigen Gruppe vergehen 90 Minuten jedoch rasend schnell, und wer nicht drängelt kommt zu kurz.
Nach meiner ersten Reha kehrte der Lebensmut zurück, ich war ausgeglichener und zog einige Zeit später nach Oberbayern. Durch Zufall fand ich Arbeit im Meisterbetrieb eines Freundes und wurde später sogar sein Vorarbeiter im Garten- und Landschaftsbau. Doch trotz der idyllischen Alpenkulisse und meiner neuen Aufgabe fand ich keine Ruhe. Die langen Winter setzten mir zu und ich war wieder Single, denn die Liebe zu der ehemaligen Mitpatienten scheiterte. Bisher endeten meine Beziehungen immer tragisch und ich hatte mittlerweile Angst, mich erneut auf eine Frau einzulassen. Es schien ein verborgenes Muster zu geben, aber es ließ sich weder benennen noch durchbrechen.
Der Job war gut, ich bewohnte ein kleines Reihenhaus in Seenähe, fand aber als hanseatischer Fischkopp im erzkonservativen Landkreis Miesbach nur schwer Anschluss. Weil mich auch die Münchener Schickimicki-Gesellschaft abstieß, die noch heute jedes Wochenende ins Tegernseer Tal strömt und mit ihren Nobelkarossen die Bundesstraßen verstopft, zog ich schließlich wieder nach Norden. Bei einem Besuch in Dortmund hatten mich die Ruhrgebietsmenschen mit ihrer direkten und offenen Art angenehm überrascht. Außerdem gab es gute Gründe, nicht wieder in Bremen zu siedeln. Garantiert wäre ich dort umgehend meiner großen Liebe wiederbegegnet, wahrscheinlich sogar mit dickem Bauch oder bereits den Kinderwagen schiebend. Fast sieben Jahre hatte unsere Beziehung gedauert, die Schuld am Scheitern trug vor allem ich. Die Trennung lag zwar schon ebenso lange zurück, aber der Schmerz saß tief. Wie tief und warum ich anscheinend kein Glück in der Liebe hatte, sollte ich erst nach und nach verstehen lernen.
Jedenfalls zog ich nach Dortmund und fand neue Freunde. Beruflich hangelte ich mich mehr schlecht als recht durch, war wiederholt arbeitslos und oft ohne Perspektive. Dies änderte sich erst, nachdem ich 1998 für vier Monate nach Nepal ging, um als Freiwilliger in einer Leprastation zu arbeiten. Die Erfahrungen aus jener Zeit könnten kaum gegensätzlicher sein. Einerseits bittere Armut gepaart mit mitreißender Lebensfreude und überwältigender Gastfreundschaft seitens der liebenswerten Nepalesen. Andererseits massiver Spendenbetrug und sogar illegale Medikamentenversuche an Leprösen, bei diesen Experimenten starben mindestens vier Menschen. Schockiert musste ich erkennen, dass humanitäre Hilfe längst zum lukrativen Geschäft geworden war, bei dem weltweit Milliarden umgesetzt werden. Die abstoßende Doppelmoral der vermeintlichen Gutmenschen in Deutschland, aber auch die heitere Herzlichkeit der Bewohner eines der weltärmsten Länder, gaben Anstoß und brachten 1999 die Wende. Zusammen mit Freunden gründete ich einen gemeinnützigen Verein, der unter meiner Leitung bis 2012 in Nepal aktiv war. Während dieser Zeit bauten wir dort gut ein Dutzend Schulen, drei Gesundheitsstationen, Trinkwassersysteme für fünf Dorfgemeinden mit 600 Haushalten, eine Brücke und 50 dörfliche Biogasanlagen. Außerdem förderten wir eine Vielzahl von Menschen durch Trainings, Berufsausbildungen und Patenschaften. Ein Buch über diese Phase meines Leben ist in Arbeit und wird hoffentlich 2014 erscheinen.
Menschliche Kontakte sind ein wirksames Heilmittel gegen Depressionen. Es tut gut, für Andere da zu sein, sich zu engagieren, eine sinnvolle Aufgabe zu erfüllen. Gerade das Leben in der Dritten Welt – oftmals dominiert durch eine erstaunliche Kombination aus erschreckender Armut, Bescheidenheit und gewinnender Liebenswürdigkeit – half mir, neue Maßstäbe für mein Leben zu finden. Insgesamt verbrachte ich rund zweieinhalb Jahre in Nepal und das oft unter Menschen, die mit weniger als zwei Dollar