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Die letzte Lektion. Friedrich Wulf
Читать онлайн.Название Die letzte Lektion
Год выпуска 0
isbn 9783847673118
Автор произведения Friedrich Wulf
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Den Aufforderungen der Schule mitzuteilen, weshalb Sie den Unterricht versäumen, sind Sie nicht nachgekommen, weshalb Sie ausgeschult worden sind.
Bitte geben Sie bis zum 29.4.2011 die ausgeliehenen Bücher im Sekretariat ab.
Mit freundlichem Gruß
A. Laubfuß
Herr Jürgen Jonas, wohnhaft in der Ferdinandstraße 42, Paderborn, verbrannte die Briefsammlung aus seiner Schule. Er hatte eine Idee. Eigentlich wollte er die Briefe im Anhang seiner Biografie veröffentlichen als späte Rache. Ein besserer Einfall stellte sich just in dem Augenblick ein, als der Schuldeneintreiber, der ihm alle paar Tage auf die Pelle rückte, seinen geleasten Fernseher heraustrug.
Jürgen schaute aus dem Dachfenster seines Zimmers, leer geräumten möblierten Zimmers auf das Dach des ehemaligen Polizeigebäudes und murmelte leise: „Pauker sind entweder Päderasten oder Sadisten. Oder beides: Päderadisten. Für euch meine Freunde gibt es nur eine Antwort.“
Zwei
Horst Krock hatte Sorgen. Seine Sorgen waren gestaffelt wie Horizonte, die sich immerzu verschieben, sich mal in den Vordergrund drängen und dann wieder zurückziehen. Alle seine gestaffelten Sorgen wurden eingerahmt von den Befürchtungen um seinen Job. Akut in den Vordergrund drängten sich die roten Zahlen auf seinen Bankkonten. Noch akuter jedoch war das konvulsivische Jetzt: Er kotzte gerade über seinen Zahnarzt. Da wirst du alt wie eine Kuh und lernst jeden Tag noch was dazu. Es war offenbar ein Fehler, sich mit einem hemmungslosen Kater in die Folterkammer eines Zahnarztes zu begeben.
Zum Zahnarzt ging niemand gern, aber normalerweise betrachtete Krock die Tortur wie alles andere im Leben auch: als einen Witz. Er wusste, wie man sich vor allzu brutalen Bohrübungen des Zahnarztes schützte: mit einem schnellen Griff. In dem Augenblick, in dem die Marterliege gesenkt wurde, griff er dem Zahnarzt gewöhnlich zwischen die Beine und grinste: „Wir werden einander doch nicht wehtun, nicht wahr?“ Aber jetzt erbrach er Brocken, von denen er nicht wusste, was sie im Original gewesen sein mochten.
Den Griff hatte er heute vergessen, viel zu nachlässig war seine Stimmung. Horst hörte kaum das Knacken und Knirschen im Maul und verdrehte nur die Augen bei der zweiten Aufforderung: „Weiter öffnen!“ Sein Magen war eine servile Sau, er nahm den Befehl wörtlich und öffnete sich auf der Stelle. Seine Speiseröhre dehnte sich und schon strömten aus seinem Rachen acht Halbe, sechs doppelte Whiskys, Dönerklumpen, etwas Krautsalat, zwölf Erdnüsse, zwei Schinkenlappen - alles in allem 35 Euro und 25 Cent an Getränken und Fressalien. Oder um genau zu sein, davon die halb verdauten Reste. Nachdem sich Horsts Magen, dann sein Mund und schließlich die Tür weit geöffnet hatten, brauchte er einen neuen Zahnarzt.
Das hätte Horst Krock normalerweise nicht sonderlich gestört. War willkommenes Erzählmaterial für die nächste Kneipennacht. Zu diesem Zeitpunkt in seiner Karriere jedoch durfte die Eskapade unter keinen Umständen bei seinem Arbeitgeber ankommen. Krock war ein Experiment, ein Prototyp, der erste Vollzeit Kriminalreporter beim Paderborner-Rundfunk und nach den Erfahrungen mit ihm, standen die Sterne günstig, dass er auch der letzte sein würde. Er war ein verflucht guter Journalist; ausgefuchst, trinkfest und ohne Abitur.
Er hatte eine prächtige Journalistennase, knubblig und porös, die seinem geräumigen Gesicht stand. Krock war glücklich, wenn er mit jemandem reden konnte, und konnte es mit den meisten.
Horst Krock bildete sich nichts ein, bis auf den Umstand, mit Menschen jeder Art reden zu können und hielt es für das Zeichen großer geistiger Gesundheit. Gäbe es ein Verbrechen im Kreise der Honoratioren der Stadt Paderborn, für ihn wäre es eine leichte Übung, Fakten, Fuseln und Flusen zu finden vom Bürgermeister bis zur Putzfrau des Rathauses. Er kannte sämtliche Polizisten, auf die es ankam und auch die meisten Top-Ganoven der Stadt. Dass er zwischen den Ganoven und Top-Polizisten keinen wirklichen Unterschied machte, konnte jedermann hören, wenn er für 35 Euro und 25 Cent getrunken und gegessen hatte.
Drei
Horst läge mit der Zeit im Clinch, dachten die anderen. Sie wussten eben nicht, dass Horst Pünktlichkeit als völlig überbewertet ansah. Vieles war seiner Meinung nach überbewertet. Nüchternheit sowieso und Fußball und Zahnärzte, überhaupt alle Ärzte. Und Gesundheit, natürlich auch Gesundheit, war alles überbewertet. Und der Ernst, der große deutsche Über-Ernst. Völlig überbewertet!
Nein, die Zeit war es nicht, mit der er Probleme hatte, möglicherweise mit dem Raum, wenn am Ende seiner Zeit noch immer ein Stück des Weges vor ihm lag. Dass diese Nasenhaarzupfer ihm deswegen einen Disziplinarmühlstein um den Hals gehängt hatten, verriet ihre kleinbürgerliche Mickrigkeit.
Er war, in seinen Worten, ein schwielarschiger alter Profi in einem Beruf, in dem teiggesichtige Jüngelchen ihn überholten, direkt von der Uni. Feuchte Jungs und politisch korrekte grüngraue Gänse, die von Gartenpartys, Hochzeiten und zivilem Widerstand berichteten. Sie liebten ihre Regenmäntel, aber trocken - diese Rotznasen. Zugegeben, sein eigener hing im Moment knochentrocken am Haken im Barcelona, gleich um die Funkhausecke herum. Hätte er sofort in die Redaktion rennen sollen nach dem Arzttrauma? Wann war ein Antitraumatikum dringlicher als nach einem traumatischen Erlebnis beim Zahnarzt? Wann sonst waren ein doppelter Whisky und drei oder vier Pils rettendere Labsal? Prost!
Angemessen erfrischt und geistig aufgekratzt, kehrte er in die Redaktion im dritten Stock des Funkhauses zurück. Wie gewöhnlich sah das Nervenzentrum der Radionachrichten aus wie eine Müllhalde. Wo keine leeren Kaffeebecher standen, stanken volle Aschenbecher. Wo keine vollen Aschenbecher stanken, wucherte Papier. Haufenweise gestapelt oder immerfort dabei umzukippen, als hätte das Naturgesetz hier nichts zu sagen. Stapel waren ineinander gestürzt, abgestorbenes Nachrichtenmaterial von Associated Press oder Reuters längst zu knackiger Nachrichtenprosa verarbeitet.
Vier
Horst stand im anschwellenden Brummen der Nachrichtenredaktion des Paderborner-Rundfunks. Ressortleiter, Redakteure, Sprecher waren da, bevölkerten einen 10 Meter breiten Tischriegel, den sie den Balken nannten. Horst näherte sich dem Tisch, auf dem die Papiere mit den gewichtigen Themen lagen, wo das Ausgewalzte lag, die ins Tiefe gehenden Analysen der politischen Situation, die profunden Berichte und Reportagen zu den Bedeutsamkeiten der Zeit. Dem Zeitgeist auf der Spur hieß die Kolumne von Daunhill dieser kahlen Wühlmaus. Der Zeitgeist produzierte ständig Untergänge. In dieser Woche war Hollywood auch nicht mehr, was es einmal war. Alles ging bei Daunhill immerzu vor die Hunde, was weder die Hunde bemerkten noch die untergehende Wirklichkeit.
Die nächste in die Breite, vor allem aber Tiefe gehende Sendung kam um ein Uhr: Die Welt um eins. An der Verfassung der Redakteure konnte Horst die Uhrzeit ablesen. Noch lief die Maschinerie nicht auf hohen Touren, noch dämmerten Sprecher vor sich hin, komatös und klinisch halb tot. Noch war viel Zeit zum Dösen, jetzt um 11.20 Uhr. Beim Anblick der tranigen Tröpfe wurde ihm warm, Verachtung wallte hoch.
Sie merkten gar nicht, dass sie geboren waren, ja sie hatten nicht einmal bemerkt, dass sie schon gestorben waren, aus bevölkerungspolitischen Rücksichtnahmen hatte man es ihnen nur noch nicht mitgeteilt.
Hier gammelten sie vor sich hin; er hingegen war immer bei der Arbeit, erst recht in der Kneipe. Das würde er ihnen heute Nachmittag schon beibiegen, den Staub- und Fliegenfängern, die ihm Schlampigkeit vorwarfen und laxen Umgang mit der Disziplin. Parasiten waren das, Schmarotzer am Skrotum der Rundfunkanstalt, mit einem Wort: Sackratten.
Am Ende des Tisches fürs Breitgetretene stand ein sich selbst bemitleidender Gummibaum. Die Mitleidsmiene trug der Gummibaum zur Schau, seit jenem Tag, als Horst vom Mittagessen zurückgekommen war und beschlossen hatte, dass der Gummibaum Wasser brauchte, und ihn auf eine Weise wässerte, die mehr über Horsts gesunden Durst aussagte als über seine Pflanzenkenntnisse. Neben dem unglücklichen Gummibaum stand Beulenpapst, der Aufsicht führende Redakteur,