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sie sieht ihm in die Augen. „Was denkst du?“

      Er schüttelt den Kopf. Kann nichts sagen. Wendet den Blick ab, sieht wieder auf, trifft wieder ihre Augen. Schüttelt noch einmal den Kopf. Fragend hebt sie die Augenbrauen.

      „Es ist…“, fängt er an, korrigiert sich dann. „Ich meine, ich stelle mir gerade vor, du wärest…“ Er kann das nicht aussprechen.

      Katharina nickt leicht. „Das habe ich mir auch oft vorgestellt. Ich lag da, am Tag vor der OP, und es stand wirklich Spitz auf Knopf. Sie hatten mir eine Chance von fünfzig zu fünfzig gegeben, und ich musste mich mit der Vorstellung vertraut machen, dass ich nicht mehr aufwache.“

      Ihm wird schlecht. Richtig schlecht.

      „Und plötzlich kam dieser Gedanke. Was, wenn ich tatsächlich nicht mehr aufwache – ich hätte dich nicht mehr gesehen. Wir wären im Unfrieden auseinander gegangen und hätten uns nicht mehr versöhnen können…“

      „Versöhnen!“ Jetzt ist es an ihm, eine wegwerfende Handbewegung zu machen. „Jeannie, ich meine Katharina“ – sie lächelt unergründlich – „versöhnen! Das ist doch gar keine Frage. Ich war nie unversöhnt, und du warst es sicher auch nie. Ich wusste nur nicht mehr, wie es gehen soll mit uns beiden, nach all dem.“

      Katharina nickt nachdenklich. „Ja, ich wusste es auch nicht. Nach all dem. Das ist es ja. Deswegen habe ich dich auch nicht angerufen, vor der OP nicht und auch nicht danach. Ich hätte mich wahrscheinlich auch jetzt nicht gemeldet, wenn du nicht…“ Sie bricht ab.

      „Und doch bist du jetzt hier.“

      Sie lächelt nur, und es ist Jeannies Lächeln, dieses Lächeln, halb verloren, halb versonnen, und gleichzeitig strahlend und warm. Dieses Lächeln, das er geliebt hat, das er immer noch liebt. Verdammt, wo kommen jetzt plötzlich Tränen her!

      „Ja“, sagt sie. „Ich bin hier.“

      Und er muss sich schwer beherrschen, nicht nach ihrer Hand zu greifen, nicht die vertraute Geste, nicht wieder den Anfang zuzulassen, eine neue Runde, nein.

      Das hier ist etwas anderes.

       Oder?

      Ja, es ist etwas anderes. Sie könnte tot sein. Jeannie könnte tot sein, und er wüsste nichts davon. Vielleicht hätte er davon erfahren. Ja, sicher, ihre Schwestern hätten eine Todesanzeige ins Ebenstädter Lokalblättchen gesetzt, seine Mutter hätte es gelesen, sie hat das Blatt nach wie vor abonniert, obwohl sie gar nicht mehr dort lebt, sondern in Augsburg. Sie hätte beim nächsten Telefonat beiläufig erwähnt: „Hast du schon gehört, die Jeannie ist gestorben.“ Die Beerdigung wäre schon vorüber, nicht einmal bei der Trauerfeier hätte er Abschied nehmen können.

      Hätte, wäre… Sie ist nicht tot. Sitzt hier, ihm gegenüber. Lächelt ihn an wie in alten Zeiten, wie bei den seltenen Malen in alten Zeiten, wo es gut ging zwischen ihnen.

      „Das muss ich erst mal verdauen“, sagt er schließlich. Schüttelt noch einmal den Kopf. Sie lächelt noch immer.

      Eine Zeit lang schweigen sie, und es ist gut zu schweigen. Schon oft ist ihm aufgefallen, wie gut sie miteinander schweigen können, das hat sich nicht verändert. So ist es immer gewesen, in den guten Zeiten. Wieder sieht er ihr in die Augen, atmet tief durch. „Mann, bin ich froh, dass ich dich angerufen habe. Die Vorstellung, du könntest tot sein, und ich wüsste es nicht einmal, und wir würden uns nie mehr sehen, das macht mich total fertig.“

      Sie erwidert seinen Blick, hält ihn fest. „Katharina.“ Er wiegt das Wort auf der Zunge.

      Ihre Augen blitzen. „Johnny“, sagt sie leise, „sag Jeannie zu mir. Für dich bin ich Jeannie, und du bist für mich Johnny. So war es und so ist es und so bleibt es. Oder?“

      Wieder dieses Würgen im Hals, die Feuchtigkeit im Augenwinkel.

      Er nickt. Johnny nickt.

      Jeannie richtet sich auf, fährt mit der Hand über die grauen Stoppeln. Dieselbe Geste wie früher, nur dass sich die Finger nicht in die dicken Strähnen graben, sondern über die Haare streichen, über das, was von den Haaren übrig geblieben ist.

      Es macht keinen Unterschied.

      „So bleibt es.“

      Sie müssen ja nicht alle Dummheiten noch einmal machen. Aber die Vorstellung, sie verloren zu haben, für immer, lässt ihn erkennen, wie verbunden sie immer noch sind. Tief drinnen.

      „Ach Johnny“, sagt sie. Und diesmal ist es wie ein ironisches Zitat, gleichwohl voller Liebe, voll alter Liebe. Aber es wird keine neue Runde einläuten, keine neue Katastrophe.

      „Ach Jeannie“, antwortet er, nicht automatisch, sondern ganz bewusst. Ja, sie sind verbunden, als kennten sie sich seit vielen Leben. Und diesmal werden sie es anders machen. Nicht die alten Spiele. Als erwachsene, erfahrene Menschen werden sie miteinander umgehen. Achtsam, bewusst.

      Wenn sie sich nur nichts vormachen.

      12

      Der Schock war einfach ausgeblieben. Der Schock, den Katharina so oft bei Patienten oder Angehörigen beobachte hatte, wenn sie eine schlimme Diagnose mitteilen oder – früher, in der Klinik – den Angehörigen erklären musste, dass der Patient gestorben war. Das plötzliche Verstummen, die aufgerissenen Augen, das sinnlose Öffnen und Schließen der Hände. Das ungläubige Kopfschütteln, die Tränen, die plötzlich an den unteren Lidern erschienen, anschwollen, bis sie sich lösten und die Wangen hinabtropften. Das Erbleichen, das abwehrende „Nein!“ oder das ungläubige „Wie bitte?“ Nichts dergleichen.

      Sie hatte schon damit gerechnet, seit dem Gastroenterologen bei der Magenspiegelung ein bedenkliches Brummen entfuhr. „Da sitzt etwas“, sagte er, als er den Schlauch wieder aus ihr herausgezogen hatte, „das sieht nicht gut aus.“

      Katharina konnte sich genau vorstellen, was er meinte. Sie hatte es schon befürchtet, nachdem die unspezifischen Bauchschmerzen nicht nachlassen wollten, das Sodbrennen sie häufiger plagte. Und als sie merkte, dass ihre Hosen immer weiter wurden. Sie wollte es nicht wissen. Du bist Ärztin und ignorierst solche Symptome? Lakshmi war richtig sauer geworden, hatte sie böse heruntergeputzt aus lauter Freundschaft. Schließlich entschloss sie sich doch zur Magenspiegelung, und das Resultat überraschte sie nicht.

      Sie schob es weg, bis das Ergebnis der Histologie da war. Der Kollege schaute zerknittert drein, schickte sie zu weiteren Untersuchungen, Ultraschall, CT, dann Biopsie, der ganze Apparat. Schließlich stand es zweifelsfrei fest: Sie hatte Magenkrebs. Der Tumor war ziemlich weit fortgeschritten, hatte die Magenwand schon fast durchstoßen. Vielleicht gab es schon Metastasen, man musste die Untersuchung der Lymphknoten abwarten.

      Katharina wunderte sich ein bisschen über sich selbst, wie gelassen sie die Diagnose hinnahm. Sie spürte tatsächlich keine Angst. Sie hing nicht am Leben, an dieser zufälligen Verkörperung, einer unter vielen. Und überhaupt, es war vollkommen unwirklich. Sie hörte die Worte des Kollegen, verstand sie, verstand auch die Bedeutung. Ihr Leben war in unmittelbarer Gefahr. Möglicherweise war es schon zu spät. Warum haben Sie so lange gewartet; Sie müssen doch die Symptome erkannt haben! Und gleichzeitig ließ sie das alles merkwürdig unberührt. Vielleicht würde sie bald tot sein. Im Moment rief diese Vorstellung nur ein Schulterzucken hervor. In sechs Wochen oder in dreißig Jahren – sterben würde sie sowieso. Diesen Körper ablegen, sich auf den großen Übergang einlassen, in einer anderen Welt, einer anderen Existenzform aufwachen wie aus einem tiefen Schlaf, nicht wissend, ob sie nicht dieses ganze Leben nur geträumt hatte.

      Ja, unwirklich wie ein Traum kam ihr das alles vor, diese Spanne zwischen Geburt und Tod, dieses Leben als Katharina, als Jeannie, als Sharani. Und sie war gespannt auf das, was dann kam, wenn dieser Körper seinen letzten Atemzug getan hatte. Gespannt? In gewisser Weise, ja. Sie war der festen Überzeugung, dass der Tod tatsächlich nichts war als ein Übergang, dass das, was sie im Innersten

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