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Charly – du spielst die Rolle absolut oscarreif, das muss man dir lassen!«

      In solchen Momenten rede ich oft mit mir selbst und kommentiere die Szene mit entsprechender Gestik von der Fensterbank aus. Meine eigene Stimme holt mich dabei ins Hier und Jetzt zurück, so dass ich nicht in eine Traumwelt abgleite. Charly war auf dem Rückweg von ihrer Mittagspause in die Spedition Komag wie jeden Tag um diese Zeit. Kurz nach Zwölf tritt sie gewöhnlich den Weg zum Mittagstisch in Remys Café an und löst das erste Chaos in der Straße aus, kurz vor Eins stolziert sie zurück in die Spedition und fordert noch einmal die Elemente heraus. An diesem Tag steckte Charly in einer fabelhaften schwarzglänzenden Emma-Peel-Lederhose und als sei das nicht schon zu viel des Guten, trug sie auch noch ein schwarzes, dünnstoffiges T-Shirt, auf dem in goldenen Buchstaben ‚Love me‘ aufgestickt war. Ich weiß nicht, warum es dazu noch einer Aufforderung bedarf, jedermann in der Straße liebt Charly. Es besteht kein Zweifel, Charly ist eine Attraktion, die den gleichen Stellenwert besitzt wie in anderen Städten eine nur am Mittag schlagende mittelalterliche Uhr, die mit allerlei Figuren und Spielwerk hunderte von Touristen begeistert und ein atemberaubendes Schauspiel darbietet. Charly verleiht meiner Straße wirklich eine besondere Note – welche Straße kann schon von sich behaupten, dass pünktlich zur Mittagszeit plötzlich die Luft vibriert und sich die Stratosphäre verändert? Es würde mich nicht wundern, wenn dieses einzigartige Spektakel auch im Stadtführer Beachtung fände und als eine der signifikantesten Sehenswürdigkeiten der Stadt gelten würde. Jedes Mal, wenn Charly ihren Catwalk zwischen Spedition und Remys Café zelebriert, bricht der Verkehr in meiner Straße zusammen und ich stoppe die Zeit, bis das Chaos wieder in die gewohnte Ordnung übergegangen ist. Ich kenne das Schauspiel schon seit Jahren, aber es fasziniert mich immer wieder, wie die Straße auf Charly reagiert. Je nach Konstellation der Fahrzeuge und Fußgänger auf der Straße kann ich wie in einem Schachspiel genau vorhersagen, dass sich die Lage gleich zuspitzen wird. Rudi von ‚Rudi’s Trinkhalle‘ beugt sich weit nach vorne, wenn Charly vorbeiläuft, er hat einen Platz in der ersten Reihe. Meistens entsteht relativ schnell ein kleines Hupkonzert, weil jemand, statt auf die Ampel zu achten, nur Augen für Charly hat und prompt sowohl von den genervten Autofahrern hinter ihm abgestraft, als auch von der Beifahrerin angekeift wird. Mit Charlys Auftauchen in der Straße ist das Verkehrschaos vorprogrammiert. Je mehr das Hupen zunimmt, desto mehr scheinen auch Charlys Hüften auszuschwingen. Überschwänglich und seismographisch exakt reagieren sie auf den Zirkus, der sich nun auf der Straße abspielt. Charly heißt eigentlich Charlotte, aber alle nennen Charly Charly. Sie ist die rechte Hand des alten Komag, dem Chef des Speditionsbetriebs ‚Komag – wir bringen’s!‘, der seine Hofeinfahrt rechter Hand hat, schräg gegenüber von meinem Wohnblock. Ich kann den Speditionshof zum Großteil einsehen, die Laderampe für zwei LKW und den Zugang zum Büro, in dem Charly nach ihrem Catwalk verschwindet. Ich habe die Charly-Show schon oft gesehen, seit vielen Jahren nahezu jeden Werktag, und trotzdem freue ich mich immer wieder über die Reaktionen, die Charly bei den Passanten auslöst. Ich schaue mir das gerne an, es ist jedes Mal so, als säße ich zu einer besonderen Gelegenheit in meiner Loge an der Fensterbank, um gleich ein vortreffliches Theaterstück zu erleben. Auch wenn ich die Vorstellung schon tausendmal erleben durfte, verblüfft es mich immer wieder, mit welcher Frische Charly ihre Show jeden Tag über die Bühne bringt. Sie wird nicht müde, mit dem Publikum zu spielen, es immer wieder in ihre Show mit einzubeziehen, den Straßenverkehr nach Lust und Laune zu steuern und einen Auffahrunfall nach dem anderen zu provozieren, wenn ihr danach ist. Ich gönne Charly diese Bühne – für ein paar Minuten des Tages ist meine Straße ihre Bühne. Sie hat ihr Publikum im Griff, sie weiß, wie sie es glücklich macht, sie setzt ihr Gespür fürs Entertainment perfekt ein. Charly wurde von der Natur wirklich reich beschenkt. Man hat ihr ein einzigartiges Talent in die Wiege gelegt, wie eine gut gefüllte Schultüte zur Einschulung wurde ihr die Fähigkeit mit auf den Weg gegeben, Naturgesetze außer Kraft zu setzen und Menschen den Alltag für ein paar Minuten vergessen zu lassen. Tausende von Vorstellungen hat Charly sicher schon gegeben, aber an diesem Tag erhielt sie besonders von dem Mann mit dem grünen Damenfahrrad den Applaus, den sie als Künstlerin braucht. Charlys Catwalk blieb selbst auf mich, einem Charly-Fan der ersten Stunde, nicht ohne die beabsichtigte Wirkung. Während ihres Auftritts musste ich mich an meiner Fensterbank festhalten, sonst wäre mir schwindelig geworden. Daran hat sich nach all den Jahren nichts geändert.

      Dem Mann mit dem grünen Damenfahrrad schien es nicht besser zu ergehen. Er ließ die Frage seines Kontrahenten unbeantwortet und fast wären ihm die Augen aus dem Kopf gefallen, als er Charlys Catwalk bestaunte. Er folgte ihr wie ein ferngesteuerter Roboter und blieb schließlich betäubt in der Hofeinfahrt der Spedition Komag stehen, in die Charly soeben eingebogen war. Er spürte der Raubkatze nach, die im Begriff war, ihren Unterschlupf aufzusuchen, und verlor keinen Augenblick die Witterung. Der Mann mit dem grünen Damenfahrrad starrte Charly narkotisiert hinterher, hilflos seinem evolutionären Erbe ausgeliefert. »Gleich wird er winseln wie ein Hund!«, wettete ich mit mir selbst. Aber auch als sich der Verkehr auf der Straße legte und es da unten sehr ruhig wurde, konnte ich von hier oben nichts hören, obwohl ich ein sehr feines Gehör habe. Der Mann mit dem grünen Damenfahrrad nahm in Träumerei versunken gerade noch wahr, wie Charly in ihrem Bürobunker verschwand, als ihn plötzlich die Sirene eines Kreuzfahrtschiffes erbarmungslos aus seinem Tagtraum riss. Ein Kreuzfahrtdampfer in meiner Straße, mit 5200 Passagieren an Bord, die gerade Charlys Exklusiv-Show verpasst hatten! Der Mann mit dem grünen Damenfahrrad zuckte zusammen und blickte zu Tode erschreckt aus der Wäsche, in den Glaskörpern seiner weit aufgerissenen Augen spiegelte sich ein 40-Tonner, der in die Hofeinfahrt der Spedition Komag einbiegen wollte. Den Schrecken des Mannes mit dem grünen Damenfahrrad konnte ich genau beobachten, denn als erfahrener Fenstersitzer habe ich eine Sehstärke von 180 %, mit der ich fast einem Habicht Konkurrenz machen könnte. Als der 40-Tonner dicht vor dem Mann mit dem grünen Damenfahrrad zu stehen gekommen war, gab der Koloss mehrmals laute Zischlaute von sich, sobald die Druckluft aus den Bremszylindern gepresst wurde. Es war faszinierend mit anzusehen, wie der LKW mit seinem Zischen das Schnauben des Fahrers im Führerhaus kongenial ergänzte. Es musste sich um einen sehr erfahrenen LKW-Fahrer handeln, denn LKW und Fahrer waren perfekt aufeinander eingespielt, sie bildeten eine Einheit. Um eine so vollendete Übereinstimmung zu erreichen, ist jahrelange Teamarbeit erforderlich. Der Fahrer kennt seine Maschine in- und auswendig, er kann sich auf seinen LKW verlassen. Er hört es sofort, wenn seinem LKW irgendetwas fehlt, er spürt es, ob ein Reifen zu wenig Druck hat oder ob sich irgendwo im Motorraum eine Mutter langsam zu lösen beginnt oder ein Schlauch spröde zu werden droht. Der Fahrer schnaubte wie ein bis aufs Blut gereiztes Breitmaulnashorn, der LKW zischte kontrapunktisch. Endlich gab der schnaubende Fahrer dem Mann mit dem grünen Damenfahrrad das erlösende Zeichen: Er fuchtelte mit der flachen, nach innen gedrehten Hand wie ein Scheibenwischer zweimal vor dem Gesicht hin und her. Der Mann mit dem grünen Damenfahrrad verstand dieses universal gültige Zeichen sofort und machte Platz. Er brauchte ein paar Sekunden, um aus seiner Traumwelt vollständig zurückzukehren und sich auf der Straße wieder zurechtzufinden.

      Dieses Szenario ereignete sich bereits vor zwei Wochen. Ich habe es in guter Erinnerung – besonders wegen des jäh unterbrochenen Wortgefechts, das sich der Mann mit dem roten Schnäuzer und der Mann mit dem grünen Damenfahrrad lieferten. In Kombination mit der darauffolgenden, wie immer gelungenen Vorstellung von Charly wirkte das ganze Szenario inklusive des zischenden LKW und des schnaubenden Fahrers wie ein farbenreiches, bis ins kleinste Detail durchkomponierte Gemälde, das ich in Ruhe von meinem Fensterbrett aus studieren konnte. Ich speichere solche Kunstwerke in meinem Kopf, so dass ich sie auch nach Jahren noch abrufen und mich daran erfreuen kann, wenn sich beispielsweise auf der Straße wenig ereignet, so wie jetzt gerade, nachdem die Seuche ausgebrochen ist und Kontaktverbote und Maskenpflicht angeordnet wurden. Jetzt, da auf der Straße fast nichts mehr los ist, weil alle Menschen sich angsterfüllt in ihren Wohnungen verschanzen, kann ich von den zurückliegenden Begebenheiten zehren. Es ist eine besondere Kunst des Fenstersitzens, in Notzeiten auf diese Erinnerungen zurückgreifen und sie sich jederzeit detailgetreu wieder vor Augen führen zu können und so das Fensterbrett am Abend nicht frustriert verlassen zu müssen, sondern es immer aufs Neue zu einem Ort des Erlebens zu machen und motiviert bei der Sache zu bleiben. Die Straße ist nun wie leergefegt. Ich muss mich erst noch mit der neuen Situation anfreunden und mich wie ein Gestrandeter mit einer nahezu fremden Umgebung vertraut machen. Die Seuche hat bewirkt, dass ich

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