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noch fit und mobil. Also hatte er mit dem Schlüssel, den sie ihm aufgedrängt hatte (man weiß ja nie…) aufgeschlossen und war in die Wohnung gegangen.

      Er wollte erstmal einen Tee kochen, damit sie sich in Ruhe hinsetzen konnten, wenn sie wiederkommen würde. Sie zelebrierten das gemeinsame Teetrinken als Ritual. Niemand sonst in seiner Familie mochte Tee. Das war etwas ganz Eigenes zwischen ihm und seiner Großmutter. Er genoss jedes Mal, dass die beiden den Tee in die schönen Tassen gossen, ein Sahnewölkchen erzeugten und daraus spaßeshalber ihre Zukunft lasen.

      Als er in die Küche ging und das Portemonnaie seiner Großmutter entdeckte, war ihm klar: Da stimmt etwas nicht!

      Er suchte in der ganzen Wohnung und fand seine Großmutter schließlich ganz ruhig in ihrem Bett liegen. Sie war komplett angezogen, sah nicht so aus, als wäre sie am Morgen nicht aufgestanden. Vielmehr schien sie sich noch einmal hingelegt zu haben. Offensichtlich war sie dann friedlich eingeschlafen, gestorben und nicht mehr aufgewacht.

      Der Notarzt stellte einen natürlichen Tod fest (das war ihm schon vorher klar gewesen). Er hatte alles geregelt. Den Abtransport, die Einladungen, die Beerdigung.

      Es war eine schöne Feier, soweit man das bei einem solchen Anlass sagen konnte. Er wusste, welche Blumen sie mochte, kannte ihre Lieblingsmusik. Er wusste, dass sie unter einem Baum begraben werden wollte, der möglichst sonnig stand.

      Er ermöglichte ihr das alles.

      Er hatte nicht geweint. Es hatte ihn zwar gewundert und er hatte sich immer gefragt, was er fühle, aber er schaffte es nicht. Es flossen keine Tränen.

      Das war schon länger so.

      Auch der Tod seiner Eltern hatte ihm keine Tränen entlockt.

      Sie waren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Auf dem Hinflug nach Thailand. Sie hatten sich diese Reise schon lange gewünscht, hatten lange geplant und viel vorbereitet.

      Letztlich wurde doch nichts daraus. Der Flug endete im Meer. Die Leichen konnten nie komplett geborgen werden. Die Teile, die eindeutig seinen Eltern zugeordnet werden konnten, wurden überstellt und sofort verbrannt. Er erhielt nur eine Urne.

      Das war schon 15 Jahre her, doch er erinnerte sich noch gut an die Zeit. Im späten Teenager-Alter war er sehr mit sich selbst beschäftigt. Er nahm Drogen, ging auf Partys und war nicht viel zu Hause.

      Dieser Urlaub war der erste, den er ohne seine Eltern verbrachte. Verbringen wollte. Verbringen durfte.

      Direkt am Anfang der Sommerferien war der Urlaub aber schon wieder vorbei. So vieles war zu regeln. So vieles zu organisieren.

      So viele Menschen tauchten auf, die sagten, dass sie zur Familie gehörten. Die meisten kannte er nicht, aber es stimmte wohl. Er fühlte sich trotz der Menge an Menschen allein.

      Er hatte seine Eltern geliebt. Er kannte die Lieblingsfarbe seiner Mutter (orange) und die Lieblingsmusik seines Vaters (Hip-Hop). Er kannte ihre Lieblings-Essen (chinesische Nudeln und Brathähnchen) und -Getränke (Rotwein und Bier). Alles sollte bei der Beerdigung der Urne zum Zuge kommen.

      Der Rest der Familie überstimmte ihn. Er war nicht stark genug, um sich durchzusetzen. Letztlich nickte er alles ab, es wurde eine Standard-Beerdigung, mit Ave-Maria, Gebeten, Schnittchen und Kuchen. Und ganz in schwarz. Er fand es furchtbar. Er fühlte sich unwohl, durfte aber natürlich nicht wegrennen. Das macht man nicht.

      Er beschloss, dass kein anderer Mensch es verdient hatte, dass er nicht die Beerdigung erhielt, die er sich wünschte. Egal, wie alt. Egal, wie reich oder arm. Kein Mensch sollte so etwas erleben, wie er es erlebt hatte.

      Deshalb wurde er Bestatter. Weil er wusste, wie es sich anfühlt. Weil er wusste, wie allein man war. Weil er wusste, wie wenig man Beschied wusste.

      Weil er wusste, wie wenig Lust jeder Mensch hatte, sich früh genug mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen. Kaum ein Mensch sorgte so vor, wie es seine Großmutter getan hatte. Die meisten verdrängten den Tod, bis er da war.

      Er schwor sich, das Thema öffentlicher zu machen. Darum zu kämpfen, dass die Menschen sich mit ihrem eigenen Tod auseinandersetzten, damit sie am Ende die Beerdigung erhielten, die sie sich wirklich wünschten – und die zu ihnen passte. Deshalb wurde er Bestatter.

      Und weil keine Tränen flossen.

      Er fühlte, dass er seine Emotionen so gut unter Kontrolle hatte, dass er diesen Beruf würde ausüben können. Er würde für andere stark sein können. Er würde Halt geben, wo die Menschen ihn verloren. Er würde ihnen die Kraft geben, ihre Wünsche dursetzen zu können. Er würde der Fels in der Brandung sein.

      Denn bei ihm flossen keine Tränen.

      Schon lange nicht. Nicht mehr.

      Heute wusste er: Er hatte geweint. Das war viel früher.

      Wenn er heute aus dem Schlaf hochschreckte, wusste er, dass er als Kind geweint hatte. Nur wusste er nicht, wann genau es aufgehört hatte.

      Er wusste nur noch, dass er in seiner späteren Kindheit und Jugend nicht geweint hat. Nicht, wenn er mit dem Fahrrad gestürzt war. Nicht, wenn er schlechte Noten nach Hause brachte. Nicht, wenn er sich beim Schnitzen geschnitten hat.

      Es flossen keine Tränen.

      Doch mit dem Tod seiner Großmutter hatten die Träume begonnen. Dort sah er seine Tränen. Sie kamen nachts. Es waren viele. Viele Tränen in einem Traum. In diesem Traum kamen die Tränen.

      Sie kamen, wenn sich die Kinderzimmertür wieder schloss. Wenn sein Vater ins Elternschlafzimmer zurück ging.

      Wenn die körperlichen Schmerzen anfingen. Wenn er Mühe hatte, sich einzureden, dass alles in Ordnung ist. Wenn er spürte, dass es real war.

      Meistens hatte es nicht lange gedauert. Sein Vater kam zu ihm, wenn er schon fast eingeschlafen war. Er drängte sich in sein viel zu kleines Bett. Deshalb war er sehr nah. Er streichelte ihn, gleichzeitig beleidigte er ihn. Sein Vater tat ihm weh.

      Es war verwirrend.

      Aber es war sein Vater. Sein Vater, der ihn liebte.

      Also war das Liebe.

      Kein Grund zu zweifeln. Kein Grund für Tränen.

      Wenn er weinte, blieb sein Vater länger. Tränen waren nichts Gutes. Deshalb schimpfte sein Vater. Er zischte ihm Flüche ins Ohr, bis die Tränen versiegten. Er drückte seinen Kopf ins Kissen, bis das Schluchzen aufhörte. Er ging erst, wenn er nicht mehr weinte. Geht doch. Dann weinte er nachher noch mehr. Allein. Leise. Verkrampft. Ängstlich.

      Deshalb gewöhnte er sich das Weinen ab. Es wurde seine Strategie. Keine Tränen.

      Sonst hätte er das nicht ausgehalten.

      Das gleiche galt für die Todesfälle, den Tod seiner Eltern und den Tod seiner Großmutter. Hätte er geweint, hätte er die Gefühle zugelassen. Dann hätte er es nicht ausgehalten.

      Trotzdem war er zusammengebrochen. Drei Wochen nach dem Tod seiner Großmutter, ein paar Tage nach der Beerdigung lag er plötzlich im Krankenhaus und er wusste nicht, warum.

      Er erfuhr, dass ein Kollege den Rettungswagen gerufen hatte. Sie hatten eine Besprechung von Bestattern aus der Region gehabt, da war er zusammengebrochen.

      Krampfanfall war die erste Diagnose.

      Danach wurde er untersucht. Gestern war das letzte MRT.

      Da ist etwas.

      Es wurden weitere Untersuchungen gemacht. Biopsien, genauere MRTs.

      Die Ergebnisse stehen noch aus. Er würde sie morgen erfahren.

      Ob er morgen seine Tränen wiederfinden würde? Oder würden sie wieder nicht fließen?

      Bisher hatte er noch nicht geweint.

      Aber wer weiß schon, was morgen ist.

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