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      »Ich werde Kyla ihre Kammer zeigen. Das Kind gehört ins Bett nach all den Aufregungen.« Zygal hieb mit der Faust auf den Tisch, sodass Kyla aufschreckte. »Sie wird sich gedulden, bis ich Zeit für sie habe. Das Kind soll warten, bis ich mit dem Essen fertig bin!« Olha sah ihn entgeistert an. »Du wirst sie in Ruhe lassen!«, fuhr sie ihn an. Kyla spürte Panik in sich aufsteigen – was meinte Olha damit? Was hatte Zygal mit ihr vor?

      »Du weißt, dass ich das nicht kann. Und nun kein Wort mehr!« Olha sah sehr unglücklich aus, aber sie schwieg. Kyla saß da und hörte, wie Zygal die Suppe schlürfte. Schließlich rülpste er und erhob sich so schnell, dass Kyla zusammenzuckte.

      »Bring sie jetzt ins Bett! Ich werde folgen«, forderte er Olha dann auf. »Komm, Kind! Du brauchst Schlaf. Unsere Tage beginnen früh.« Sie fasste Kyla am Arm und führte sie in einen angrenzenden Raum, an den ein weiterer Raum angegliedert war. Kyla sah sich um. Gab es hier eine Möglichkeit, zu fliehen? Der Raum, in dem sie schlafen sollte, hatte kein Fenster, außerdem stand Olha direkt neben ihr. Nun betrat auch Zygal das Zimmer; er sah alles andere als freundlich aus. Kyla verspürte wieder den unbändigen Wunsch, fortzulaufen. Sie erinnerte sich jedoch nur zu gut an Olhas Warnungen – und sie wusste, sie könnte in ihrer Müdigkeit Zygal niemals entkommen. Vielleicht würde sie in der Dunkelheit der Nacht mehr Glück haben, zu entkommen.

      »Leg deine Kleider ab! Das ist dein Bett. Leg dich hinein und mach es dir bequem«, sagte Olha.

      »Ich möchte meine Kleidung anbehalten«, begehrte Kyla auf, obwohl sie wusste, dass es gefährlich war, zu widersprechen. Doch Olha nickte.

      »Gut, von mir aus. Morgen fertige ich dir ein Nachthemd an. Leg dich nun in dein Bett!« Kyla war froh, dass ihr erlaubt worden war, die Kleidung anzubehalten. Mehr würde sie derzeit nicht erreichen können, um ihre Lage erträglicher zu machen, also legte sie sich wie befohlen ins Bett. Olha breitete eine Decke über sie, während Zygal durchs Zimmer ging und eine Kiste öffnete, die in der Ecke stand. Ein metallisch klirrendes Geräusch ließ Kyla vor Panik aufspringen.

      »Nein, bleib liegen! Er wird dir nicht wehtun, aber wehre dich nicht!« Olhas Stimme klang eindringlich. Sie drückte Kyla mit der Hand nieder. Zygal kam neben das Bett und hielt eine Eisenkette in der Hand. Er legte einen Ring aus dem gleichen Material um Kylas Handgelenk und sorgte mit einem Schloss dafür, dass er hielt. Dann legte er die offenbar eigens zu diesem Zweck geschmiedete Kette und einen weiteren Ring so an, dass Kylas rechte Hand an den Rahmen des Bettes gefesselt war. Die Kette war lang genug, dass das Mädchen sich drehen konnte, aber ein Entkommen war ihm nun unmöglich. Kyla sank der Mut.

      »Das sollte nicht zu unbequem sein, aber es wird dich davon abhalten, einen törichten Fluchtversuch zu unternehmen – oder uns gar in der Nacht anzugreifen. Schlaf jetzt, du dürres Gör!«

      »Nenn sie doch nicht immer so, Zygal. Ihr Name ist Kyla.« Der Schmied schnaubte, doch dann brummte er: »Schlaf gut, Kyla.«

      Obwohl sie todmüde war, konnte Kyla nicht einschlafen. So viele Dinge gingen ihr durch den Kopf – so viele Fragen. Dass sie in Gefangenschaft geraten war, hätte einfach nicht passieren dürfen. Der Hunger war schuld daran – Hunger war schuld an fast allem!

      Manchmal – wenn Kyla es wagte, zu träumen – dann stellte sie sich vor, dass sie jederzeit so viel Essen könnte, wie sie wollte, und dass sie jederzeit sauberes Wasser hätte. Aber das war eine zu kühne Vorstellung, und deshalb hatte sie ihr niemals zu lange nachgehangen. Von einem warmen Bett, wie sie welche bei ihren Streifzügen durch die Dörfer gesehen hatte, hatte sie ebenfalls ab und zu fantasiert. Denn auch wenn das Moos die bequemste Lagerstätte überhaupt war, hatte es doch den Nachteil, dass sie es mit einer Unzahl von kriechenden und krabbelnden Wesen teilen musste, die sich nachts von ihrem Blut nährten. Kyla war stets bewusst gewesen, dass auch sie für das Überleben anderer Wesen notwendig war – solange es keines war, das sie in Stücke riss und ihr damit das Leben nahm, arrangierte sie sich damit. Aber die Vorstellung, in einem Bett zu schlafen, das sauber und frei von Ungeziefer war, hatte Kyla immer fasziniert. Nun lag sie in einem solchen, aber geborgen fühlte sie sich nicht. Sicher, sie musste nicht frieren und nichts krabbelte über ihre Haut – aber sie war angekettet! Und Ketten waren schlimmer als jeder Parasit. Sie musste unbedingt eine Fluchtmöglichkeit finden. Aber wie sollte ihr das gelingen? Der Schmied verstand sein Handwerk offensichtlich, denn die Glieder der Kette waren ohne sichtbare Schwachstellen gefertigt und das Material so dick, dass Kyla es unmöglich mit ihren Kräften verbiegen konnte – selbst einem ausgewachsenen Mann wäre es wohl kaum gelungen. Kyla betrachtete den großen Ring, der um ihr Handgelenk lag, doch auch dieser war unnachgiebig, genau wie der zweite, der sie ans Bett fesselte.

      Kyla begriff, dass ihr eine Flucht noch in der gleichen Nacht nicht gelingen würde. Sie musste ihr Glück am nächsten Tag versuchen. Doch zuvor wäre es klug, das Gelände näher zu erkunden, um eine Stelle zu finden, an der sie entkommen konnte. Auch die Höhle würde sie näher erforschen müssen, denn diese barg ein Geheimnis, da war Kyla sich ganz sicher. So undurchdringlich das Dunkel auch war, vielleicht gab es gerade dort einen Weg, der sie von Zygal und Olha wegführen würde. Olha und Zygal – Mutter und Vater … Kyla fühlte sich bei dem Gedanken daran ebenso unsicher, wie in ihrem Bett. Es klang wie etwas Gutes, aber der Preis dafür war viel zu hoch. Eltern, bei denen man in Gefangenschaft leben musste, waren Feinde – nichts weiter. Und dass Zygal ihr gefährlich werden konnte, daran hatte Kyla keinen Zweifel. Nein, sie würde so schnell wie möglich fliehen müssen. Aus dem Wohnraum hörte sie Olhas Stimme – sie war leise, also lauschte Kyla. »Denkst du, sie ist es?« Auch Zygal sprach ungewohnt leise, doch er war besser zu verstehen. »Ich weiß es nicht. Sie ist so jung, so klein, so zerbrechlich.«

      »Wenn dir das bewusst ist, warum hast du sie dann ein weiteres Mal geschlagen? Auf dem Platz vor dem Palast musstest du sie an der Flucht hindern – aber hier? Hier kann sie nicht entfliehen, und du solltest sie nicht unnötig quälen.«

      Kyla sank der Mut, als sie hörte, was Olha über ihre Fluchtmöglichkeiten sagte. Vielleicht wollten die beiden sie auch nur täuschen – aber es klang nicht so.

      »Wenn sie die ist, die uns prophezeit wurde, dann wird sie noch viele Qualen durchmachen müssen. Und wenn sie es nicht ist, wäre es gut, dieses dürre Gör gleich totzuschlagen. So oder so wären wir besser dran, wenn sie nicht überlebt.«

      Kyla versuchte, gleichmäßig weiter zu atmen, auch wenn ihre Kehle vor Angst eng geworden war. Zygals Stimme hatte entschlossen geklungen – ob er gleich zu ihr kam und sein Vorhaben in die Tat umsetzen würde? Doch Olhas Stimme klang ebenfalls entschlossen:

      »Ich weiß, dass du Angst hast, aber wir haben eine Aufgabe zu erfüllen. Und genau das werden wir tun!« Angst? Zygal hatte Angst? Kyla wollte ihren Ohren nicht trauen. Wovor sollte dieser Mann wohl Angst haben? Und von welcher Aufgabe hatte Olha gesprochen? Sie lauschte noch angestrengter, damit ihr die leise Antwort von Zygal nicht entging.

      »Diese Aufgabe fordert einen zu hohen Preis. Bislang hatten wir stets Glück, dass sich die Kinder als Irrtümer herausstellten – aber bei diesem hier ...«

      »Also glaubst du, sie ist es wirklich?« Olha klang aufgeregt. Ein langes Schweigen folgte und Kyla glaubte schon, sie hätte Zygals Erwiderung überhört, oder er würde Olha einfach nicht antworten. Doch dann hörte sie ihn sagen:

      »Trotz ihrer Jugend und körperlichen Schwäche könnte sie es sein. Ich werde mich daher morgen früh mit den Reitern der Herrscherin zum Palast begeben.«

      Von Olha war nichts mehr zu hören, aber Kyla vermutete, dass sie zugestimmt hatte. Nur wenig später hörte sie das Rücken von Stühlen und die beiden näherten sich ihrem Zimmer. Kyla lag ganz still und hielt die Augen geschlossen. Wenn sie bemerkten, dass sie ihr Gespräch mit angehört hatte, würde Zygal es sich vielleicht anders überlegen und sie auf der Stelle erschlagen. Sie musste Zeit gewinnen, um zu entkommen – denn über was Olha und Zygal gesprochen hatten, war Kyla ein Rätsel. Sie wusste weder, was eine Prophezeiung war, noch verstand sie, warum Zygal Angst wegen ihr hatte. Vermutlich hatte sie aufgrund der leisen Stimmen alles falsch verstanden. Kyla hörte, wie die Schritte sich entfernten – die beiden gingen in das angrenzende Zimmer. Nur kurz darauf legten sie sich, den Geräuschen

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