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Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann. Hans-Dieter Heun
Читать онлайн.Название Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann
Год выпуска 0
isbn 9783742730923
Автор произведения Hans-Dieter Heun
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Der Zauberer ist neugierig. „Und die Andere?"
Gott, die jede Antwort kennt, kann Sie ebenfalls neugierig sein? „Die macht sich erst später."
Der Zauberer bleibt stets am Ball. „Kennt er bereits seine Macht?"
Gott spielt nicht. Ein Ballspiel schließt den Zufall ein, bei Ihr hat ein Zufall nichts zu sagen. „Nein, aber er beginnt zu träumen!"
Der Zauberer hingegen versucht, Zufälle zu lenken. „Das macht doch nichts, oder?"
Ach ja, fast vergessen: Das Wichtigste! Das Wichtigste für diese Geschichte: Der Mund kann schmecken.
Ohne sonderliche Belästigung durch seine Eltern war Hannemann zu einem mageren Durchschnittsknaben von zehn Jahren herangewachsen. Im Gegensatz zu vielen schlimmen Erfahrungen aus vergangenen Leben zog er diesmal mit seinen Ernährern ein mittleres Glückslos, besonders mit Mutter. Sie besaß Eleganz, gepaart mit einem starken Willen, sie führte, schien sogar zu ahnen, was an und für sich unmöglich sein sollte.
Vater hingegen wahrte sein ganzes Leben eine eigenartig unaufmerksame Distanz zu ihm. Er half zwar Muttern nach Ende des Krieges mit dem ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten – nicht viele –, den Sohn werden zu lassen, störte ihn auch nicht mit sonderlich großen Erziehungsversuchen, aber er dachte nicht im Traum daran, Hannemann wenigstens einmal liebevoll in seine Arme zu nehmen. Es sah so aus, als ob er sein eigenes Sperma nicht erkannte. Erst als sein krebsverseuchtes Ende nahte, und er nach Hilfe für den Sprung in die jenseitige Welt suchte, öffnete der Vater dem Erben seine Seele. Zu spät.
Der Sohn hatte erst zehn junge Jahre durchlebt, und dennoch war es nicht zu früh, bereits schwach zu ahnen: Etwas war anders. Mit ihm. Er hatte Macht über Andere. Macht etwa über Angehörige, die mit ausgestreckten Tentakeln versuchten, ihn weiß der Teufel wohin zu drücken, um einen Teil von ihm zu nehmen. Es war eigenartig, trotz manchmal vorhandener Zuneigung mochte Hannemann diese selbstverständlichen Zärtlichkeiten nicht. Er blockte ab, er versteifte sich. Wenn er in späteren Jahren selbst jemand umarmte, meistens Frauen, dann schenkte er, schützte er, heilte er, befriedigte er, genoss er. Vor allem sich selbst.
Diese Mutter besaß ebenfalls Macht, sie war stark. Mutter war eigensinnig, störrisch, sie war im Übermaß egozentrisch. Genug, um sich vor ihm zu schützen. Sie war im Hass zerstörerisch, doch in ihrer Sorge maßlos, kaufte sich zeitlebens ihre Anbeter und hielt deren Heuchelwunderung für wahr und echt. Mutter kannte es nicht anders. Aber sie unternahm auch, verlangte Wunder und führte zu Wundern. Sie trat auf als Dame, stets elegant, selbst in Notzeiten aus einfachsten Mitteln. Sie gab sich als die Besondere und bestärkte das Gefühl in ihm, selbst ein Besonderer zu sein.
Diese Mutter würde länger leben als er, und sie war eine der wenigen Personen, die ihn verblüffen konnte. Sie war wichtig für ihn. Nur konnte Hannemann damals noch nicht wissen, was ihr fehlte und worunter sie litt. Viele Jahre später sollte er erkennen, diese Mutter war nicht fähig, sich hinzugeben, errang ebenso nie das Wissen oder die Menschen, welche ihr jenes Gefühl vermittelt hätten. Sehr schade, und er hatte wegen seiner wichtigen Aufgabe nicht mehr die Zeit und die Lust dazu, ihr das lösende Empfinden zu schenken.
Es war die Zeit der ersten großen Fußballweltmeisterschaft nach dem verlorenen Krieg. Männer und Jungen tobten vor Freude, endlich wieder dabei zu sein, auf triumphale Siege hoffen zu dürfen. Für den fußballbegeisterten Vater war der Zehnjährige keine große Zukunftshoffnung, an dem er eigene Enttäuschungen ausphantasieren konnte. Hannemann versteckte sich zu sehr, täuschte bereits. Und für die spielenden Mitschüler bedeutete er höchstens einigermaßen brauchbares Füllmaterial für eine Mannschaft rund um die schreienden Führer.
Nein, bloß nicht Fußball, er fuhr lieber Rad und verehrte Ingrid. Wenn er heute unter Schmerzen an Ingrid dachte, erschien sie ihm in seinen schwärmerischen Erinnerungen als ein Mädchen ohne Unterleib. Wenige glückliche Bilder von ihr schimmerten durch die Wolken anderer, aber williger Weiber. Bilder wie die verletzbar fragenden, seelenreinen Augen unter dunkelroter Haarseide, die zerbrechlichen Schultern von Audrey Hepburn oder der Schmaltiergang, bei dem sich ihre himmellangen Beine stolz gegen fesselnde Kleidung drängten. Nackte Schultergrübchen blitzten auf, obwohl Hannemann keineswegs mehr wusste, ob er die Angehimmelte je so gesehen, noch mit zitternden Fingern berührt hatte.
In seinen Gedächtnisbildern war Ingrid stets süße siebzehn, obwohl zur Zeit des Fußballwunders wohl eher pfiffige acht. Er wusste noch, sie waren damals unzertrennlich, und wenigstens für ihn sollte das auch ewig so bleiben. Er sehnte sich immer nach ihr, selbst als er in den ehelichen Armen der Blonden gelegen hatte. Ja sogar noch – wenn er ehrlich zu sich war – während der Liebkosungen mit seiner Rechtsschläferin.
Sehnsucht, die mit Sehnen sucht. Wohin ihn sein Schicksal auch getrieben, verstoßen hatte, zu verschwitzten Umarmungen als häusliche grässliche Pflichten, in die Ferne oder zurück ins Bayernland, Ingrid war und blieb die große unschuldige Liebe seines bewegten Lebens. Wenn er sich allein ihr siebzehnjähriges Antlitz ins Gedächtnis rief, wurde ihm ganz schmalzig heiß ums Herz. Und aufgefallen war er ihr durch eine Kunst, die er beherrschte wie kein zweiter: die ungeheuer faszinierende Kunst des freihändigen Mülltonnenreitens.
Eine Mülltonne war in der Nachkriegszeit im Gegensatz zu dem heutigen Plastikmist noch etwas eisern Bodenständiges. Eine runde Walze aus solidem Stahlblech schloss ein Deckel mit Griffholm ab, der sich in der Phantasie des Knaben zum Sattel eines Grauschimmels wandelte. Zumal die Haltegriffe beiderseits der Tonne den nackten Füßen wunderbar als Steigeisen zu dienen vermochten. Wichtig war ebenso der eiserne Ring, welcher zum Schutz und zur Verstärkung um den Rand des Tonnenbodens angeschraubt war, aber ebenso willig das wilde Wippen eines zehnjährigen Cowboys aus München ertrug.
Ja, München. Das Wirtschaftswunder erblühte, der Familie ging es vermeintlich gut. Sie bewohnte eine große Wohnung in einem mächtig prächtigen Block, der – massiv in der Vorkriegszeit erbaut – allen Zerstörungsversuchen durch Bomben und Granaten der Befreier widerstanden hatte, weil eben diese Bomben und Granaten andere Anwesen in dem Stadtteil weggeputzt hatten. Äußerst rührige Trümmerfrauen hatten jedoch aufgeräumt, und damals noch fleißige Maurer längst wieder hässliche Neubauten geschaffen. Sein Wohnblock jedoch blieb ein fast barocker Altbau und war den Bewohnern freundlich gesinnt. Er besaß einen großen Innenhof mit Wäscheständer, Teppichklopfstangen und Kinderspielplatz auf grüner Wiese, umgeben von einem Rundweg, auf dem sich stundenlang ungefährdet radeln ließ. Im Uhrzeigersinn, wenn Hannemann nicht gerade lieber bei den Mülltonnen zugange war.
Am Anfang seiner Reitübungen schaukelte Hannemann die Eisentonne vor und zurück, hin und her, gewann jedoch kaum ein paar Zentimeter Raum. Übung machte aber den Reiter, sehr bald brachte er es durch starkes Anpressen seiner Oberschenkel und rechtskreisende Bewegungen seines Unterleibes zu einer derart meisterlichen Beherrschung der Fliehkräfte, dass er seinen Lieblingsschimmel in wilden Kreisen um die übrigen Tonnen wirbeln lassen konnte. Erst beidhändig, dann einhändig und schließlich sogar freihändig. Ideale Voraussetzung für die besten Ausritte war, wenn die Füllmenge des Unrats etwa ein Drittel des Tonnenbauchs betrug, wovon sich der Knabe stets durch einen raschen Blick unter den Deckel überzeugte.
Bei einem dieser herrlichen, Freiheit versprechenden Tonnenritte verfolgten ihn aus dem Fenster ihres Kinderzimmers die spöttisch neugierigen, aber auch verlangenden Augen von Ingrid. Sie entdeckte in ihm den Mann, wollte, dass er sie dieses Reiten lehrte. Und Hannemann war nur zu willig, sie in seine Welt einzulassen. Doch obwohl er ihr seine beste Tonne – kenntlich an dem durch seine Lederhose dunkel polierten Satteldeckel – großzügig überließ, war sie zu ungeduldig, setzte ihre Hüften nicht in den richtigen Schwung.
Ingrid verstand, typisch Weiber, nicht mal ein Stückchen der notwendigen Drehtechnik. „Ich schaffe das nicht. Wie machst du das bloß?“
„Es ist ganz einfach, du brauchst nur den Holm fest zu halten, mit deinen Beinen die Tonne zu umklammern, dann erst schaukeln und danach die Hüften drehen.“ Ingrid schaffte es wieder nicht, ihre Tonne stand wie festgenagelt. Da fragte er, um sie ja an seiner Seite zu halten: „Soll ich dir vielleicht lieber ein Märchen erzählen?“