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seinen Zustand zu beschreiben.

      „Brauch keine Erklärung“, sagte Ali. „Kenne das, alles. Musst nichts sagen, mir nicht.“

      Boris nickte eifrig. „Sag mir doch, was man da machen kann, Ali?“

      „Eine Geschichte, kann ich erzählen“, sagte Ali. „Überschrift: Sandra. Weiß man gleich, worum´s geht, aber immer.“

      Boris spürte, wie die Anspannung des Trainers sich auf ihn übertrug.

      „Frauen“, sagte Ali. „Thema für sich. Hab meine Lektion weg, sag ich. Also Sandra. Bin ein Großstadtkind. Aus einer Arbeiterfamilie. Vater ist Gießer. Fünfzig Grad, acht Stunden lang, Tag- und Nachtschicht, gestern, heute, morgen, du verstehst. Mutter im Konsum, an der Kasse. Drei Geschwister. Nicht ganz einfach, für alle. Die Partei, hat geholfen. Zuweisung einer Neubauwohnung. Kur für Vaters kaputte Lunge. Ich konnte studieren. Sportpädagogik, einwandfrei. Auch sonst, die Genossen waren immer da.“

      Ali schwieg, als wollte er Boris Gelegenheit geben, seine Worte zu bekräftigen. Schließlich sprach er weiter: „War Knirps, fing mit Boxen an. Vater meinte, das müsse man frühzeitig lernen: Einstecken und Austeilen. Der Kommunismus hätte viele Feinde. Der Arbeiter, müsse seinen Teil beitragen, sie in Schach halten. Die Halbstarken, lungerten an Ecken herum, qualmten die Lungen löchrig, inhalierten Westgeplärrr aus Kofferradios, ich los, zum Training. Jeden Tag. Gewann einen Kampf nach dem anderen. Hatte immer schon den nächsten Gegner im Blick. Auch beim Training. Immer.“

      Alis Stimme klang eisern, sie räumte keinen Widerspruch mehr ein. Boris hatte den Trainer nie boxen gesehen, aber er konnte sich vorstellen, mit welch unerbittlichem Willen er seine Kämpfe gewonnen hatte.

      „Trainierte, in der Hochschule für Körperkultur“, sagte Ali. „Neben der Boxhalle, probierten die Turner. Dienstag und Donnerstag, die Frauen. Sandra. Auf dem Balken. Alle Mann an der Tür. Boxer, Ringer, Handballer. Ich auch. Wusste nicht, wen das Mädchen im Blick hatte. Darfst raten, los.“

      „Dich?“

      „Traf mich ohne Deckung, war so. Liefen uns nun ständig über den Weg. Bei den Duschräumen. Beim Pförtner. An der Straßenbahn. Sie sagt: „Grüß dich. Du kannst ganz schön zuhauen. Ich habe dir beim Kampf zugesehen.“

      Im schmalen Gesicht des Trainers traten knotig die Wangenmuskeln hervor. Ali lachte abweisend, sagte „Sandra“, als stände er vor einem unlösbaren Rätsel. Er sprach weiter, als wollte er es schnell hinter sich bringen: „Jeden Tag, waren wir zusammen. Disco. Kino. Eisdiele. Fußball. Schwimmen. Theater. Was losgehen, musste immer. Sie, konnte nicht genug kriegen. Ich, vergaß alles. Meinen Sport. Meine Eltern. Meine Partei. Meinen Kampfauftrag. Mich selbst. Wollte nur noch sie, nur sie.“

      Ali schlug einen Aufwärtshaken, ließ einen Schwinger folgen und stieß verächtlich hervor: „Kurz: Wurde eine Null. Als ich eine Lusche war, ließ sie mich sitzen. Mit einem Ringer. War gerade Europameister geworden. Sandra.“

      Ali hob selbstanklagend die Stimme. „Fiel mir alles wieder ein. Meine Eltern. Meine Partei. Mein Sport. Mein Ziel. Hatte alle verraten, war klar. Trainierte wieder. Härter als vorher. Unmenschlich hart, härter.“

      Der Trainer holte aus, als wollte er sich selbst niederschlagen. „Vorbei. Kleine Erfolge noch. International, Ende, aus. Zu spät, alles. Die Frau. Der Biss, war weg. Sandra. War so.“

      „Jetzt, hör zu, Kämpfer.“ Der Trainer blieb stehen, legte Boris die Hände auf die Schultern und sah ihn zwingend an. „Gegen Kalinke, wirst antreten. An Mädchen, denk nicht. Aus dem Kopf, schlag sie dir. Denk an den Kampf. Den Sieg, nur das.“

      Boris fröstelte, ihm war heiß. Das war wohl der heilige Ernst der gerechten Sache, von dem er gehört und der ihn nun erfasst hatte. Er hob die Hand zum Schwur und sagte mit fremder Stimme: „Ja, Ali!“

      „Tipp“, sagte der Trainer. „Im Ring, vergiss Kalinke, wer dein Gegner auch ist. Was gilt?“

      „Wir oder die!“

      Ein paar Meter vor einem militärischen Sperrschild kehrte Ali um. Sie liefen zurück durch vielfach gebrochenes Licht, als wäre über die Insel ein feinmaschiges Netz gespannt. Am Horizont irrlichterten Positionslampen von Schiffen. Ali beschleunigte seine Schritte. In der Dunkelheit war es verboten, sich am Strand aufzuhalten.

      Im Lager hatten sie sich bereits schlafen gelegt. Auf der Lichtung standen die Zelte wie eine Herde schlafender Tiere. Der Trainer verabschiedete sich mit einem kurzen Nicken. Boris kroch ins Zelt, sah durch einen Spalt, wie Ali die Tür des Käfigs öffnete und dem Kolkraben über das im Mondlicht perlmuttfarbene Gefieder strich. Der Vogel stieß glucksende Laute des Wohlbefindens aus, die in ein zärtlich klingendes Flöten übergingen. Der Junge robbte auf sein Lager und lauschte, bis es still war.

      8.

      Im Lager fieberten sie dem Boxkampf entgegen. Frau Wieland war in aller Frühe abgereist. Ein Taxi sollte sie abgeholt haben. Keiner sprach darüber. Standke gab beim Morgenappell bekannt, dass er mit der getroffenen Entscheidung, die beiden Rowdys im Lager zu belassen, nicht übereinstimmen könnte. Nach Rückkehr würde er bei der Schulbehörde die „Entgleisung“ sowie die „pädagogisch unwirksame Erziehungsmaßnahme“ zur Sprache bringen. Wenigstens nachträglich sollte die Ordnung wieder hergestellt werden. Ali schwieg dazu. Auch keiner der anderen Betreuer wagte, Dschugaschwili etwas zu entgegnen. Müller war, wie erwartet, nach seinem Aufmucken wieder der in sich gekehrte und meist übersehene Mathelehrer, dessen „Auftritt“ inzwischen etwas Unwirkliches hatte.

      Für den Kampf wurden Wetten abgeschlossen. Nur Ulli und ihre engsten Freundinnen setzten ein wenig von ihrem Taschengeld auf Boris. Wenn Boris zu Ausdauerläufen unterwegs war, begleitete Malisch ihn auf einem klapprigen Fahrrad. Was anfangs wie Zufall ausgesehen hatte, bekam bald Regelmäßigkeit und eine gewisse Vertrautheit. Für Boris war der Junge nicht mehr nur Malisch. Er war jetzt Ralle. Das schien nie anders gewesen zu sein.

      Ralle sprach auf Boris ein, er solle doch das „Herumrennen“, die geplante „blödsinnige Hauerei“ und die damit verbundene „Beschädigung des Denkapparates“ aufgeben. Er faselte vom „gemeinsamen Durchbrennen“. Sie würden schon einem Kahn finden, auf dem sie anheuern könnten.

      „Der Mensch kommt immer ans Ziel. Wenn er wirklich will“, sagte Ralle.

      Boris dachte, dass das eher zu Ali passte. Bei dem unbeholfen wirkenden Jungen hörte sich das an, als wäre es auswendig gelernt. Aber er schien davon überzeugt zu sein.

      „Das hört man doch immer wieder“, beteuerte Ralle unternehmungslustig. „Wenn da einer was geschafft hat, was für die anderen unvorstellbar war.“

      Boris ließ den Jungen von Bananendampfern, James Cook und Inselgruppen im südlichen Pazifik schwärmen. Im Rhythmus seiner Schritte wiederholte er beschwörend, dass er Kalinke besiegen würde. Leben oder Tod. Alles oder nichts. Die Geschichte von „Sandra“ kam ihm in den Sinn. Warum hatte Ali dem Kolkraben den Namen seiner ehemaligen Freundin gegeben? Was der Trainer über Frauen sagte, hatte verächtlich geklungen. Als würden sie den Männern nur im Weg stehen. Ali bemühte sich ja geradezu zärtlich um den Vogel? Manchmal lehnte er mit der Stirn am Käfig. Er bewegte die Lippen, aber es war nichts zu hören. Sandra zupfte mit ihrem starken Schnabel an Alis Haaren. Ihr knarrendes „Kloks“ ging in ein Gurren über, als wäre sie ein Täubchen.

      Boris fragte sich auch, warum Menschen so schwer zu begreifen waren? War er sich endlich über einen klar geworden, tat oder sagte der was, das alles wieder durcheinanderbrachte. Vor allem von seinen Eltern konnte er sich kein Bild mehr machen. Der Vater war irgendwo. Im Westen. Zum Feind übergelaufen, wie Ali gesagt hatte. Vielleicht war er ja inzwischen tot. Der Vater war Boris nie nahe gekommen. Am ehesten konnte Boris sich auf seine Nase verlassen. Alles hatte seinen ganz eigenen Geruch. Vom Vater konnte er nicht sagen, wonach der gerochen hatte. Anna roch nach Küche, und sonntags, wenn sie eines ihrer zwei „besten“ Kleider anhatte, nach „4711“, nicht irgendein „Kölnisch Wasser“, sondern das von drüben, das sie nach

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