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Glück ums Kap Horn. Hinein in den Pazifischen Ozean bis zu den Cookinseln.“

      Malisch malte mit eindringlichen Worten die Koralleninseln farbig aus, er erzählte von freundlichen Polynesiern, deren höchster Gott Io war. Sie sollten tatsächlich Kannibalen gewesen sein. Von weiten schneeweißen Stränden sprach er, vom Singsang des Seewindes in hohen Palmen. Von Held Maui, dem es gelungen war, sogar die Sonne vom Himmel zu holen, dass die Tage der Menschen länger wurden.

      Boris musterte Ralph Malisch aus den Augenwinkeln. Der blasse Junge wirkte für gewöhnlich wie frisch gebadet. Sein voluminöses weiches Aussehen wurde unterstützt von einer Löwenmähne aus schimmernden hellen Haaren, die bis auf die Schultern herabfielen. Vom Direktor der Schule bekam er dafür scheele Blicke. Lehrer Standke hatte ihn zur Hofpause im Kreis der Jungen gefragt, was er denn mit einem solchen „Wirrkopf“ bewirken wolle? Malisch hatte sich weggedreht und war ins Schulgebäude zurückgegangen.

      Was Malisch da redete, wollte nicht zu ihm passen. Die Jungen im Dorf riefen ihn „Tunte“, seitdem sie ihm am gefluteten Tagebau die Badehose heruntergezogen hatten. Sie schrien, dass „sein Pimmel verkümmert“ wäre und er „Titten wie ein Weib“ hätte. Sie hatten ihn in die Brustwarzen gekniffen und herumgestoßen. Möbius hatte sich auf ihn geworfen. Unter den Anfeuerungsrufen der anderen hatte er getan, als sei Malisch ein Mädchen, mit dem er Geschlechtsverkehr ausübte. Malisch war es schließlich gelungen, seine Sachen aufzuraffen und zu entkommen. Boris hatte abgestoßen zugesehen. Am Abend dann, als er mit den Jungen ins Dorf zurückkehrte, hatte er Malischs Fahrrad an das Haus gelehnt, in dem der Junge mit seinen Eltern wohnte.

      Boris schluckte, er verspürte mit einmal Fernweh und sagte abwehrend: „Aber was willst du denn dort?“

      Auf Ralph Malischs Gesicht kehrte das Lächeln zurück, das seine Gegenüber auf Distanz hielt.

      „Was soll denn dort schon Großartiges sein?“

      Malisch zuckte mit den abfallenden Schultern, sagte dann: „Das Paradies.“

      „Das Paradies? Ja, was soll denn das sein?“

      Malisch errötete. „Natürlich nicht Gott, Adam und Eva und so was.“

      „Was denn dann?“

      Malisch ging in die Hocke und legte einem Käfer einen Stein in den Weg, den der flink überkletterte. Boris wollte sich schon abwenden, da sagte der Junge: „Ich meine einen Ort, wo du – frei bist.“

      „Frei?“

      Boris erinnerte sich, dass der Vater von „frei sein“ und „Freiheit“ gesprochen hatte. Die Eltern waren darüber oft in Streit geraten. Es waren böse Worte gefallen. Einmal hatten sie aufeinander eingeschlagen. Wenig später waren beide in sein Zimmer gekommen. Die Mutter hatte Boris umarmt, dass es ihm wehtat. Der Vater, sonst sparsam mit Berührungen, hatte ihm eine Hand auf den Kopf gelegt.

      „Du spinnst ja, Malisch.“

      Boris ging ein paar Schritte zur Seite. Die Erinnerung tat immer noch weh. Er schloss die Augen. Da spürte er eine Hand auf der Stirn, schmal und warm. Für den Moment wusste er nicht, ob die Berührung wirklich war oder der Vergangenheit angehörte.

      Er hörte Lachen, riss die Augen auf und stieß das Mädchen weg. Es war Ulrike Blau, die sie Ulli riefen, sie kam aus einer Schule des Nachbarortes. Er hatte sie erst hier beim Volleyball kennengelernt. Sie spielten gut zusammen, er gab die Vorlagen für ihre hart geschlagenen Schmetterbälle. Bisher hatten sie sich nur Kommandos zugerufen wie: „Aufpassen!“, „Jetzt!“ und „Hier!“ Wenn ihnen ein Punkt gelungen war, trafen sich kurz ihre Blicke. Früher hatte er sich nichts aus dem Ballspiel gemacht. Jetzt konnte er nicht genug bekommen. Es machte ihn stolz, wenn Ulrike Blau ihn als Ersten für ihre Mannschaft auswählte.

      „Entschuldige“, sagte Ulli und zupfte eine schwarze Haarsträhne unter ihrer Strickmütze hervor, was ihr kesses Aussehen betonte. „Die dummen Hühner haben mich geschubst.“ Sie schimpfte auf Russisch: „Ty ssuma ssaschla!“

      Die Mädchen lachten und riefen: „Verrückt sind wir nicht! Ulli liebt Boris! – Boris liebt Ulli!“

      „Glaub ihnen kein Wort.“ Ulli drohte den Mädchen mit der Faust und lachte mit. „Die sind doch alle schwer krank.“

      Boris drängte sich an ein paar Jungen vorbei. Nun stand er wieder neben Ralph Malisch.

      „Hast du was mit der?“

      „Dummes Zeug“, entgegnete Boris. Das sagte Anna immer, wenn sie über eine Sache nicht mehr reden wollte. Dann lenkte er ein: „Wie hast du das eigentlich gemeint vorhin?“

      „Was denn?“

      „Mit dem Ort. Wo man - frei ist?“

      „Du weißt doch. Malisch spinnt manchmal ein bisschen.“

      Boris fragte nicht weiter. Er kannte das von sich selbst. Wenn ihn jemand bedrängte, verschloss er sich. Es gab sowieso keinen Ort, wo man frei war. Was war überhaupt frei sein? Fliegen vielleicht. Wer konnte schon fliegen? Aus eigener Kraft. Menschen jedenfalls nicht. Die Vögel konnten es. Und Engel. Jetzt fing er auch noch zu spinnen an. Wie dieser schwabbelige Junge.

      Standke beendete endlich seinen Vortrag, dem er schließlich nur noch selbst zugehört hatte. Mit Ali voran verließen sie das Nordkap. Sie liefen in einer langen Schlange, die bald in kleine Gruppen zerfiel, zum Lager zurück. Boris und Malisch gingen am Ende nebeneinander her. Der milchgesichtige Junge blickte manchmal zurück, wo die Entfernung Land, Meer und Himmel eins werden ließ und ins Unendliche verschob.

      Obwohl Ulrike Blau weit vorn lief, trug der Wind Fetzen ihres Lachens zu Boris heran. Dann lief er unwillkürlich schneller. Nach ein paar Schritten zwang er sich stehen zu bleiben und passte sich erneut Malischs gemächlichen Schritten an.

      Boris sah zu Ulli und dachte an Vera, ein Mädchen aus der Stadt, mit dem er vor ein paar Wochen zusammengekommen war. Sie hatte im Frühjahr Verwandte, die in Lerchau in der Genossenschaft arbeiteten und nebenher etwas Vieh hielten, besucht. Im Dorfkonsum, wo Boris für die Großmutter den Einkauf erledigte, hatte das Mädchen ihn gefragt: „Soll ich mein letztes Geld für Eis oder für meine Lieblingsbonbons ausgeben?“ Bis zum kleinen Gehöft der Großeltern war sie neben ihm hergegangen. Er hatte sie dann zum Grundstück ihrer Verwandten gebracht. Ihre Mutter wartete bereits, um sie mit zurück in die Stadt zu nehmen. Vera hatte noch schnell Namen und Adresse auf die inzwischen leere Bonbonschachtel gekritzelt und gesagt: „Schreib doch mal. Ich bekomme gern Briefe.“

      Der erste Brief war Boris schwergefallen, obwohl er nur aus vier Worten bestand: Wie geht es Dir? Vera hatte ihm gleich geantwortet, ihre Unbekümmertheit gab ihm schnell das Gefühl von Nähe. Fast täglich gingen zwischen ihnen Briefe hin und her.

      Boris erzählte keinem von ihr. Die Post fing er bei der Briefträgerin ab. Mit den derben und prahlerischen Geschichten und Witzen, die die Jungen einander über Mädchen erzählten, konnte er nichts anfangen. Er lachte mit, um nicht aufzufallen und womöglich in den Mittelpunkt ihres Spotts zu geraten. Niemals hätte er sich einem von ihnen anvertraut. Dann passierte das mit seiner Mutter. Vera hatte gefragt, warum er denn nicht mehr auf ihre Briefe antworten würde? Was ist denn bloß los, Junge? Er hatte keine Worte mehr für sie gefunden.

      „Na, los doch“, mahnte Malisch. „Der große Chef hat´s nicht gern, wenn einer zurückbleibt.“

      „Weiß“, sagte Boris. „Komme schon.“

      5.

      Boris starrte auf die fleckige Zeltplane, er neidete seinen drei Mitbewohnern die regelmäßigen Atemzüge. In seinen Gedanken tauchten im schnellen Wechsel die Gesichter der beiden Mädchen auf. Vera und Ulli. Jede sah ihn fragend an.

      Er kroch aus seinem Schlafsack und tastete sich nach draußen. Unter den Fichten und Kiefern war die Luft unwirklich blau, scheinbar aus feinem Glas, das bei jeder Bewegung leise zu singen schien. Vom Meer her klang es herauf wie das entspannte Ausatmen eines

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