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Eine Heimat des Krieges. Jan-Henrik Martens
Читать онлайн.Название Eine Heimat des Krieges
Год выпуска 0
isbn 9783738078183
Автор произведения Jan-Henrik Martens
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Der Älteste hatte versucht, die Dörfler zu beschwichtigen, behauptet, die Etarianer würden kommen und dafür sorgen, dass niemandem ein Leid geschähe, so denn eine Gefahr bestehe. Aber eine solche gebe es ohnehin nicht, die Grauen seien bloß eine Schauermär. Gestalten aus Geschichten, die man nach Einbruch der Dunkelheit erzählte, damit Kinder nicht allein durch die Wälder streifen würden und des Nachts in ihren Betten blieben.
Bis in die frühen Morgenstunden hatten sich die Einwohner von Seros gestritten. Sie waren immer feindseliger, immer gereizter geworden; bis Rauch am Horizont aufstieg und wutverzerrte Gesichter in verzweifelte verwandelte.
Heute stand der Älteste erneut vor seinen Mitmenschen, diesmal bewaffnet. „Falls es die Grauen wirklich gibt, werden die Etarianer uns helfen“, sagte er, als müsse er sich selbst davon überzeugen. „Dazu wären sie verpflichtet, denkt an den Friedensvertrag.“
„Und wann werden die Echsen kommen? Wenn wir bereits brennen?“, fragte jemand. „Wenn die Grauen uns gefangen nehmen und unsere Kinder fressen? Die Etarianer werden uns hier nicht helfen, sieh das doch ein. Also gehen wir zu ihnen. In Seros bleiben wir nicht, die Grauen sind nur einen Tagesmarsch entfernt.“
„Genau. Gerwind ist gestern niedergebrannt, du hast das Feuer doch auch gesehen, oder nicht?“, sagte Dohan, der Metzger. Er war ein dicker Mann, immer nett, immer freundlich. Gestern hatte er noch versucht, die Dörfler zum Bleiben zu bewegen; heute hatte er Angst um sein Leben. Roren wusste, wie sich das anfühlte. In der Nacht war das Nachbardorf in Brand gesteckt worden und man hatte das Feuer in der Ferne sehen können. Und den Rauch, der die Sterne verdeckte. Für Dohan und die meisten Männer bestand kein Zweifel daran, dass die Grauen dafür verantwortlich waren.
Die Angst, dass es Seros ähnlich ergehen könnte, hinterließ Funken, und die Dorfbewohner waren wie trockenes Laub; es war nur eine Frage von Augenblicken - ein falsches Wort oder eine plötzliche Bewegung -, bevor sie Feuer fangen würden. Und etwas lag im Blick des Ältesten, etwas, das Tiere haben, wenn sie in eine Ecke gedrängt werden.
Dohan machte einen Schritt auf den Ältesten zu und sagte: „Wir müssen hier weg, also steh uns nicht im Weg, alter Mann. Lass uns endlich ins Lager.“
„Ihr geht nach Norden und was dann?“ Der Älteste brüllte. Er hob drohend die Mistgabel. Seine Fingerknöchel waren weiß. „Da gibt es nur die Wüste. Die Etarianer werden euch nicht willkommen heißen, sie mögen keine Menschen. Die jagen euch weg und lassen euch verrecken.“
„Mag sein, aber die Etarianer fressen uns wenigstens nicht“, sagte Eron, Arianes Bruder. Er stand mit verschränkten Armen inmitten der Männer. Seine Miene war steinern. „Wenn wir hierbleiben, dann sind wir todgeweiht. Die Grauen mögen Menschenfleisch und werden uns bei lebendigem Leibe kochen.“
Der Dorfälteste schüttelte den Kopf. „Seid ihr so kleingeistig, dass ihr diesen Unsinn über Menschenfresser glaubt? Nichts als Ammenmärchen und Schauergeschichten. Dafür gibt es keine Beweise. Aber dass die Etarianer Flüchtlinge verhungern lassen, das ist sicher. Wie oft muss ich das noch sagen?“
„Wir werden gehen“, sagte Dohan mit ruhiger Stimme. „Wir werden das Dorf verlassen und das Essen nehmen wir mit.“
„Was wird aus denen, die nicht fliehen können? Oder es nicht wollen? Die Alten und Schwachen, die Frauen und Kinder?“, fragte der Älteste. „Ich werde hier stehen bleiben. Und der erste, der hier rein will, ich verspreche euch, den stech ich ab.“
„Mach keine Dummheiten und lass uns durch.“ Dohan erhob die Stimme nicht, aber seine Anspannung war offensichtlich. Er stand kerzengrade da und hatte die Hände zu Fäusten geballt.
Der Dorfälteste und der Metzger sahen sich tief in die Augen. Nicht bei einem Fest oder beim freundschaftlichen Handeln; sie standen im Staub vor einer Steinhütte und starrten sich an. Wütend, angespannt, abwartend. Wie hungernde Tiere vor ihrer Beute. Und es galt, die Rangfolge zu klären. Roren lebte seit seiner Geburt in Seros, und nie hatte sich jemand mit dem Ältesten angelegt. Nicht auf diese Weise. Es musste ein Traum sein, etwas Unwirkliches.
„Zurück, das Essen bleibt hier“, sagte der Älteste. „Verschwindet, wenn ihr so wild darauf seid. Geht in den Norden, macht euch auf die beschwerliche Reise, wer weiß, vielleicht kommt ihr sogar an. Vielleicht habt ihr Glück und verhungert nicht, werdet nicht überfallen und getötet. Und vielleicht reichen die Etarianer euch sogar die Hand und geben euch Gestrüpp zu fressen; aber nicht jeder ist bereit, monatelange Fußmärsche zu erdulden. Das Essen bleibt hier.“
Einige Männer wurden unsicher. Hier eine gerunzelte Stirn, da ein nachdenklicher Blick gen Boden. Aber nicht Dohan. Er näherte sich dem Ältesten. „Du alter Spinner, mach dich weg jetzt, oder es setzt was. Wir werden nicht darauf warten, von den Grauen geschlachtet zu werden. Wenn die kommen, dann war’s das. Dann bleibt uns nur der Abyssus.“
Der Älteste riss die Augen auf. „Unser Glaube wurde uns verboten“, sagte er. „Du darfst sowas nicht aussprechen.“
„Was soll das? Hier ist keine verdammte Echse, die dich deswegen auspeitscht. Der Große Richter wird uns sicher in den Norden geleiten, wirst schon sehen, alter Mann. Der Richter wird uns beschützen.“ Dann wiederholte er es wieder und wieder, reckte dabei eine Faust in die Luft und wurde immer lauter. Die Menge stimmte mit ein. Der Richter wird uns beschützen. Seit vierzehn Jahren hatten nicht mehr so viele Menschen ihren Glauben bekundet, so kam es Roren jedenfalls vor. Und selbst wenn es in diesem Augenblick nur ein Kriegsschrei war, fühlte er, dass die Echsen den Glauben doch nicht hatten verbieten können. Dass er noch da war, tief verwurzelt in den Seelen seiner Freunde. Dohan lächelte, packte den Ältesten am Kragen. „Weg da jetzt.“
„Lass mich los, Bursche.“ Der Älteste wand sich, doch der Griff des Metzgers war zu stark. Dann stach der Älteste zu. Er versenkte die Mistgabel in Dohans Bauch. Fassungslose Blicke, ungläubiges Schweigen. Der Älteste erbleichte und ließ die Mistgabel los. Sie blieb im Metzger stecken. Dohan presste mit der Hand auf die Wunde, aus der Blut strömte, das über seine Finger floss. Niemand rührte sich.
„Du alter Bastard“, sagte Dohan. Er rang nach Atem. „Du hast mich umgebracht.“ Und dann knallte er auf den Boden. Staub wirbelte auf, die Mistgabel ragte wie ein Fahnenmast aus Dohans Bauch. Sein Blick war auf die Sonne gerichtet. Ein letztes Ausatmen, dann begann die Menge zu toben.
Zwei Männer packten den Ältesten, bevor er reagieren konnte. Ein dritter schlug zu. Mit der Faust ins Gesicht, immer wieder. Der Schläger war ein Jüngling, der beim Ältesten das Lesen und Schreiben gelernt hatte. Die Männer brüllten, fluchten, schlugen ebenfalls auf den Ältesten ein. Roren wollte eingreifen, der Wut ein Ende bereiten. Er hob den Bogen und zog einen Pfeil aus seinem Köcher. Dann dachte er an seine Frau und an Hilla. Und daran, dass sie hierbleiben mussten. Er durfte nicht verletzt werden, musste für sie da sein. Er ließ die Arme sinken.
Der Älteste sackte zu Boden, die Männer stürmten das Lager, nahmen mit, was sie tragen konnten. Schinken, Fische, Brote. Sie fielen über die Lebensmittel her wie Fliegen über einen Tierkadaver. Dann war es vorbei. Die Männer gingen ihrer Wege, ließen den Ältesten und die Leiche Dohans im Dreck liegen. Sie blickten nicht zurück.
Eron trug Brotlaibe und blieb neben Roren stehen. „Du solltest auch gehen“, sagte er. „Nimm meine Schwester und die Kleine und verschwinde von hier, bevor die Grauen kommen.“
Roren sagte: „Selbst wenn es die Grauen gäbe, wir können nicht gehen, das würde Hilla nicht überleben. Das weißt du.“
Eron nickte, seufzte dann. „Ich wünschte, ich könnte bei euch bleiben, aber meine Frau und mein Sohn ... Ich will nicht riskieren, dass sie von Grauen gefressen werden."
„Das kann ich verstehen, wirklich."
„Sag meiner Schwester, dass ich sie liebe. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, mein Freund.“
Roren rang sich