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„Sie wollen nur das Beste, Tony. Es ist für alle das erste Mal, dass es so eine Lage gibt, eine Pandemie". Berthold schenkt beiden vom trockenen Rotwein nach. Berthold und Tony kennen sich schon über zwanzig Jahre. Tony ist Abteilungsleiter im Autohaus. Berthold leitet die Werkstatt.

      „Was ist noch schlimmer als die Pandemie, Berthold?", Tony blickt seinen Freund auffordernd an. Im Schein der Küchenlampe sitzen sie einander gegenüber. Berthold zuckt mit den Schultern. „Die Angst vor der Pandemie", sagt Tony, nimmt einen Schluck und setzt nach: „und die haben sie gründlich in die Welt gesetzt. Die Laster von Bergamo, Berthold. Jenseits aller Zahlen, aller Einschätzungen und Maßnahmen hat sich bei den Menschen weltweit zu Anfang der Pandemie das Bild der Laster von Bergamo ins Hirn gebrannt. Armeefahrzeuge fahren in Italien Leichen ab, weil die Krematorien überlastet sind. War das nötig? Entspricht das der Realität, wie wir sie bei uns vorfinden? Nein, Berthold. Die Angst war gesät und sie verbreitet sich schneller und ist hartnäckiger als das Virus selbst. Guck doch nur gegenüber, unsere Nachbarn, Willi und Erna. Die Glotze läuft den ganzen Tag. Regierungsfernsehen, wie Ulla immer sagt. Erna geht nicht mehr aus dem Haus, hat ihre Kinder seit Monaten nicht mehr gesehen. Letzte Woche war sie mittags kurz vor der Tür am Briefkasten. Die Haare unfrisiert, im Morgenmantel. Sie hat mich im ersten Moment gar nicht erkannt, glaub ich. Willi sorgt sich schon und glaubt, sie wird zunehmend dement. Berthold, Mensch, die Leute werden irre in der Birne." Schon wieder merkt Tony, wie er sich in Rage redet. Er nimmt das Messer und schneidet sich ein Stück Salami ab, greift in die Schale mit den Oliven und beruhigt sich wieder. „Aber sie tun doch ihr Bestes, Tony. Weißt du eine bessere Strategie?" Berthold schenkt ein Glas Wasser für beide nach. Tony blickt auf seinen Teller. Er tunkt ein Stück Weißbrot in die Reste des Olivenöls. „Die Politiker muten sich zu viel zu, Berthold. Sie meinen, alles regeln zu können und alles besser zu wissen. Sie entmündigen uns und nehmen uns unsere Souveränität. Sperren uns ein. Lassen uns nicht entscheiden, wie viel Risiko wir für uns selbst in Kauf nehmen." „Jetzt redest du schon wie die AfD", fällt Berthold ihm lächelnd ins Wort. „Auch wenn man kein AfD-Wähler ist, muss man nicht alles verteufeln, nur weil es schon mal jemand von der AfD gesagt hat. Du weißt, wie ich denke." Berthold nickt. Tony ist seit Jahren Christdemokrat und Politik war nie sein Hauptthema.

      „Seien wir doch mal ehrlich", Tony beugt sich vor, „diejenigen, die jetzt die Verantwortung in dieser schwierigen, undurchsichtigen Lage haben, sind doch ursprünglich nie für so einen Job angetreten. Der Landrat hat die Verwaltung organisiert, Straßen eingeweiht und sich mit den Bürgermeistern über die Haushaltslage abgestimmt. In den Gesundheitsämtern sitzen nun mal gerade nicht die besonders belastbaren Ärzte. Da wurde immer eine ruhige Kugel geschoben und mal ein Stempel unter ein Gutachten gesetzt." „Na, na, Tony", Berthold lehnt sich zurück und setzt nach: „Das ist deine Meinung, aber die Leute da haben jetzt echt enorme Verantwortung und sehr viel zu tun. Ich möchte da jetzt nicht sitzen und die ganzen Kontaktdaten auswerten. Die tun sicher ihr Möglichstes.“ Tony nickt. „Versteh' mich nicht falsch, Berthold. Ich gebe den Leuten nicht die Schuld. Vielleicht hätte sich so mancher Landrat gar nicht aufstellen lassen, wenn er geahnt hätte, was auf ihn zukommt. Ihnen wurde etwas aufgebürdet, was für viele ein oder zwei Nummern zu groß ist. Eigenverantwortlich zu handeln, Risiken abzuwägen, einzugehen, für eigene Entscheidungen geradestehen, mit allem was man hat, ist für die meisten nicht ihr gewohntes Feld. Das ist das Feld der Unternehmer, der Selbstständigen. Hier muss jede Branche aufgerufen werden, Vorschläge und Lösungen zu präsentieren. Hier sitzen die Experten, jeder auf seinem Gebiet. Aber nein, alle sitzen vor der Glotze und erwarten die nächsten Anweisungen aus dem Mini-Corona-Kabinett. Verstehst du, Berthold? Wir haben so viel Potential, das wir verschenken, weil der Politadel den kleinen Bürger ständig bevormundet. So, jetzt ist auch gut", nun ist es Tony, der sich zurücklehnt und einen kräftigen Schluck Wasser trinkt.

      Berthold lässt die letzten Worte von Tony nachklingen. Dann sagt er: „Gestern in der Frühstückspause kam die Chefin. Wir haben uns unterhalten über dies und das. Da sagte sie: ‘Eigentlich haben wir ja kaum Einschränkungen. Die Werkstatt ist voll, die Aufträge laufen, nur essen gehen ist nicht mehr drin. Aber da treffen wir uns halt zu Hause mit unseren Freunden. Wir haben Jalousien, die mach ich dann runter‘. ‘Damit es keiner sieht und Sie anzeigt?‘, habe ich gefragt. Sie hat mich nur komisch angeguckt. Wohin sind wir eigentlich gekommen, in so kurzer Zeit. Das ist es, was mir Sorgen macht", sagt Berthold, indem er sich erhebt, Tony einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter gibt und die Küche verlässt.

      ☆

      001.5 Sophia

      Der Blick durch das große Panoramafenster des reetgedeckten Hauses zum Garten hinaus auf die Obstbaumwiese mit dem alten Schlossgemäuer in der Ferne gleicht einem Gemälde. Hier steht die Zeit still und bei dem Anblick breitet sich eine märchenhafte Ruhe in einem aus. Auf dieser Bühne der Natur sind ein Spatz oder ein Eichelhäher, mitunter ein Hase oder ein Rotkehlchen die Hauptdarsteller und geben der Zeit einen neuen Takt. Nicht Sekunden, nicht Minuten, Stunden sind die kleinste Einheit, die hier eine Bedeutung haben. Und so hängt Sophia, die aus ihrem Lehnstuhl durch die große Scheibe in den Garten schaut, auch besonders an der alten Pendeluhr, die nur einen durchgehenden Zeiger hat und sich auf das Wesentliche beschränkt.

      Das Wesentliche hat für Sophia in all den Jahren ihres Lebens, der Kindheit in Ostpreußen, der Vertreibung im Krieg, dem Auf und Ab zwischen Aufschwung und Krise so oft seinen Mantel gewechselt. Jetzt mit 85 Jahren ist das Wesentliche zusammengeschrumpft auf kleine Begegnungen, die ihr alles bedeuten. Allein in ihrem Haus mit ihrem kleinen Rauhaardackel kann sie sich noch versorgen, aber die dienstbaren Helfer, die sie im Haushalt unterstützen, sind ihre Gesellschaft, ihre einzige Gesellschaft. Früher waren es Empfänge, Bälle, Veranstaltungen in lokaler Politik und der Industrie, die sie an der Seite ihres Mannes durchlebte. Sie hatten ein weitreichendes Netz aus engen und weniger engen Freunden, zu denen man ständig Kontakt hielt, sie einlud oder eingeladen wurde. Heute sind die meisten tot. Die allermeisten. Sophia sieht aus dem Fenster. Der Rauhaardackel liegt vom Kraulen verwöhnt auf ihrem Schoß. Die kleine Blaumeise war schon das dritte Mal da und hat sich im Futterhaus bedient. Der Eichelhäher hat sich heute noch nicht blicken lassen.

      „Immer diese Sonntage", denkt Sophia, „wenn nur diese Sonntage nicht wären." An den anderen Tagen hat sie Gesellschaft. Die kleine treue Gesellschaft ihrer Haushaltshilfen. Greta kauft ein, Anna, die eigentlich Kellnerin ist, kocht und putzt und Borris mäht den Rasen und pflegt den Garten. In der Woche sind sie alle mal da. Aber am Wochenende ist Sophia alleine.

      Es klingelt an der Tür. Der Rauhaardackel springt vom Schoß und sprintet durch den Flur an die Tür, um den Besucher mit wildem Gekläff zu empfangen. Es dauert ein wenig, bis Sophia sich erhoben und den Weg zur Tür mit ihrem Rollator hinter sich gebracht hat. Enno ist da, Annas Sohn. Er hat ein kleines Päckchen dabei und steht in einigem Abstand vor der Tür. „Wir haben Kürbis eingekocht und ich soll Ihnen ein Glas bringen mit schönen Grüßen von meiner Mutter", Enno wirkt unsicher. Sophia lächelt ihn an und sagt: „Es würde mir eine ganz besondere Freude machen, wenn du hereinkommst, den Kürbis in die Küche stellst, mir einen Moment schenkst und von deinem Tag erzählst." Das Stehen strengt sie an. Sie lässt es sich nicht anmerken. „Das geht leider nicht", erwidert Enno. „Ich habe meine Maske nicht dabei." Sophia hat es schon oft erlebt in der letzten Zeit. Greta und Borris haben sich auf Abstand gehalten. Erst wollten sie gar nicht mehr kommen, wegen Corona, wie sie sagten. Es war schrecklich. Sophia musste erst ein Machtwort sprechen und ihnen die Maske im Haus verbieten, damit sie wieder einigermaßen normal wurden. „Komm herein, bitte", fordert Sophia Enno auf, „du brauchst hier keine Maske in meinem Haus. Wenn ich es sage, dann kannst du beruhigt sein."

      Im Wohnzimmer mit Blick auf den Garten erzählt Enno lebhaft von seinem Tag, den früheren Fußballspielen in seinem Verein und den Erfolgen mit seinen Freunden, Finn und Steffen. Er entdeckt den Eichelhäher, der sich nun eingefunden hat und spielt mit dem Rauhaardackel auf dem weichen Teppichboden. Es ist etwa eine Stunde, die Enno

      bei Sophia verbringt. Sie hört ihm aufmerksam zu, achtet auf jede seiner Bewegungen, soviel Jugendlichkeit, soviel Leben an diesem leblosen Sonntag in ihrem Haus. „Du musst vorsichtig sein, halte Abstand", die Worte ihrer Tochter am Telefon hat sie noch im Ohr. Sie will nicht vorsichtig

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