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Aurelie in der Welt der Wesentlichen. Bernadette Schmon
Читать онлайн.Название Aurelie in der Welt der Wesentlichen
Год выпуска 0
isbn 9783753175577
Автор произведения Bernadette Schmon
Издательство Bookwire
„Geht es dir gut, mein Kind?“, fragte Agatha Bell besorgt und ergriff ihre Enkelin dabei an beiden Schultern.
Das Mädchen nickte verstört, während es angestrengt versuchte das soeben Gesehene zu verarbeiten. Agatha Bell versicherte sich mit einem kurzen musternden Blick, dass das erstarrte Kind unverletzt war und eilte sodann zu Alice Bell, die stöhnend in gekrümmter Haltung am Boden lag und sich mit beiden Armen die Magengegend hielt. Das von den Händen tropfende dunkelrotes Blut hatte das khakigrüne Seidentop an ihrem Leib bereits dunkel eingefärbt.
„Lass mich mal sehen“, Agatha Bell drehte ihre Schwiegertochter vorsichtig auf den Rücken.
Tiefe Kratzwunden zogen sich quer über den Bauch. Eine trübe Blutlache füllte die Fugen der Bodenbretter unterhalb des nur mehr schwach atmenden Körpers.
„Das wird schon wieder. Halte durch. Das haben wir gleich“, während sie der verwundeten Frau tröstend über die schweißnasse Stirn streichelte, zückte die kleine Dame ein durchsichtiges Glasfläschchen mit einer blasenbildenden dunkelvioletten Flüssigkeit aus der rotkarierten Schürzentasche.
Zügig ließ sie den Großteil der dickflüssigen Tinktur auf die pulsierenden Fleischwunden tropfen. Nach nur wenigen Sekunden begann sich die klaffende Hautöffnung wie von Zauberhand Millimeter für Millimeter zu verschließen, bis nur mehr eine bräunliche Kruste an die Kratzspuren erinnerte. Um Alice Bell wurde es dunkler und dunkler, als ein grauer Schleier von den Außenseiten der Pupillen nach innen drang.
„Das ist doch unmöglich“, kam noch über die trockenen blassen Lippen, bevor der Kopf der erschöpften Frau schließlich ohnmächtig zur Seite sackte.
Als die Blondine ihre Augen wieder öffnete, lag sie in eine wärmende marinefarbene Wolldecke gehüllt auf dem gemütlichen Rattanbett ihrer Tochter. Panisch blickte sie auf den Boden vor dem Holzkastenfenster. Sie hätte schwören können, dort gerade noch schmerzverzerrt gelegen zu haben. Doch da war nichts. Kein Blut. Erleichtert atmete sie durch. Es war wohl nur ein bitterböser Traum gewesen. Ein grausamer Traum. Noch nie zuvor hatten sich ihre Träume derart real angefühlt. Dieser Schmerz. Diese Angst. Als sich die geräderte Frau langsam im Bett aufrichtete, um nach ihrer Tochter Ausschau zu halten, spürte sie ein leichtes Stechen oberhalb ihres Bauchnabels. Ungläubig zog sie das dünne beige Seidenshirt, welches sie ihrer Erinnerung nach beim Zubettgehen noch nicht getragen hatte, nach oben. Vier deutlich abhebende Narben zierten die blasse Haut. Alice Bell rang nach Luft, ihr Hals schnürte sich zu. Der Puls schnellte in die Höhe. Es war kein Traum gewesen. Der monströse Wolf war nicht bloß ein Gespinst ihrer Fantasie.
„Aurelie, Aurelie“, ihre Rufe kamen ungewollt leise aus ihrem Hals.
Verstört drehte sie sich zur Seite und ließ sich angestrengt aus dem Bett gleiten. Ihre Glieder schmerzten, als ob sie gerade einen Marathon absolviert hätte. Der Weg zur nur einen Spalt breit geöffneten Zimmertüre kam ihr endlos vor.
„Reich mir doch bitte das Mehl“, klang es durch den Raum, als sie durch die schmale Öffnung in das Wohnzimmer lugte.
Sie war mehr als überrascht von dem Bild, das sich ihr offenbarte. Agatha Bell und Aurelie standen Seite an Seite vor der wild zusammengeschusterten Einbauküche. Beide trugen eine rotkarierte Schürze und werkten munter und lustig mit Rührbesen und Kochlöffel.
Als Aurelie den Kopf ihrer Mutter vorsichtig in das Zimmer ragen sah, rannte sie Freude strahlend in deren Richtung und fiel ihr liebevoll um den Hals.
„Mama, du bist wach. Es geht dir gut“, erleichtert rieb das rothaarige Mädchen ihre mehlbedeckte Nase in den Hals der verwunderten Blondine.
„Was ist hier los? Was ist passiert?“, Alice Bell war völlig irritiert.
Ihr Gehirn versuchte verzweifelt die Bruchstücke ihrer Erinnerung zu einem schlüssigen Ganzen zusammenzufügen.
„Ich hatte euch ja gewarnt. Ihr wurdet von einem Höllenwolf angegriffen. Und diejenigen, die ihn geschickt haben, werden euch mit Sicherheit noch andere derart unbehagliche Besucher auf den Hals hetzen“, Agatha Bell schonte die Nerven ihre Schwiegertochter nicht.
„Aber das ist nicht möglich“, die geschwächte Schönheit taumelte zu dem kleinen Sofa in der Mitte des Raumes und lehnte sich an dessen Armlehne.
„Es ist möglich und es passiert. Das Universum hat mehr zu bieten, als du mit deinem Tunnelblick zu sehen vermagst. Magie existiert. Ihr wollt sie nicht wahrhaben, sie macht euch Angst. Deshalb lassen wir euch in dem Glauben, alles Übernatürliche sei Einbildung, Wahnsinn oder Fantasie. Diejenigen, die mit unserer Welt in Berührung kamen, lassen ihre kreativen Ideen in Märchenbücher und Science-Fiction Filme münden. Doch wer könnte solche Geschichten erfinden, wenn nicht das Leben selbst. Ob du es nun begreifen kannst oder nicht. Ich muss deine schützende Luftblase heute platzen lassen. Aurelie ist eine von uns. Sie ist eine Zauberin. Ihr könnt davor nicht weglaufen“, Agatha Bells Worte erzeugten in ihr selbst ein starkes Gefühl von Wut.
Sie war wütend auf sich selbst. Sie hatte zu lange zugewartet. Sie hätte schon den Abend davor alles daransetzen müssen, Aurelie von der Wahrheit zu überzeugen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie nur eine Sekunde später gekommen wäre, um nach den beiden zu sehen. Hätte ihre innere Unruhe sie nicht dazu gezwungen in ihrer nachtaktiven Katzengestalt durch die Straßen zu pirschen, wäre Alice Bell mit Sicherheit vom Höllenwolf zerfleischt worden.
„Aber ich kann doch gar nicht zaubern“, es schien als hätte Aurelie nur diesen Teil er Ansprache ihrer Großmutter gehört.
„Und wie erklärst du dir dein Wassertropfenmalheur in der Schule?“, Agatha Bell stemmte beide Hände in die Hüften, zog ihre wildgewachsenen buschigen Brauen nach oben und blickte ihre Enkelin fragend an.
Das rothaarige Mädchen verstand sofort auf was die ergraute Dame anspielte.
„Das ist doch alles Wahnsinn, du bist doch verrückt geworden!“, jede erzürnte Silbe, die Alice Bell hervorpresste, brannte in ihrem Hals wie Feuer.
„Ich, ich …“, Aurelie stammelte während sie angestrengt versuchte die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, zu einem Satz zu verbinden.
Nur langsam fügten sich die Puzzleteile in Reih und Glied. Sie fasste ihre Mutter sanft an der Hand und blickte ihr tief in die Augen.
„Ich glaube, Großmutter hat Recht. Unerklärliche Dinge sind passiert. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen. Ich habe Magie gesehen. Es ist wahr.“
Alice Bells Kopf schmerzte. Realität und Fantasie trugen ein erbarmungsloses Gefecht in ihrem Gehirn aus. Sie zerrten aneinander. Sie wälzten sich am Boden, bis sich ihre zähen Körper so ineinander verkeilten, dass sie sich ununterscheidbar vermengten. Der innere Drang eine rationale Erklärung zu finden wurde von der Erinnerung an den wildgewordenen Wolf Stück für Stück in Fetzen gerissen. Was, wenn alles, was sie bisher geglaubt hatte zu wissen, eine Illusion war? Wie konnte sie sich sicher sein, dass Agatha Bell nicht die Wahrheit sprach?
„Was sollen wir jetzt nur tun?“
„Mein Kind. Ihr seid hier nicht mehr sicher. Vor dem, was da draußen lauert, kannst du deine Tochter nicht beschützen.“
„Dann lass uns doch mit Großmutter gehen“, Aurelie wusste selbst nicht, warum sie der beunruhigten kleingewachsenen Frau vertraute.
Doch tief in ihrem Inneren spürte sie eine enge Verbundenheit zu ihr. Es war als ob sie sich schon ewig kennen würden. Da waren keine Zweifel. Keine Angst. Alle Abzweigungen und Kreuzungen auf ihrer geistigen Landkarte