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war hier schon oft im Wald gewesen, auch nachts. Seit seiner Kindheit kannte er die gesamte Umgebung in und auswendig. Ein Klacks! Er stellte das Warndreieck auf, verschloss den Wagen und machte sich auf den Weg.

      Und jetzt so etwas! Er hatte sich verlaufen. Er, Waldemar Brandes! War das zu glauben? Das durfte er echt niemandem erzählen. Stirnrunzelnd sah er zu den Baumwipfeln hinauf, die sich vor dem runden Vollmond abhoben und im Wind bogen. Wenigstens regnete es nicht.

      In der Ferne drang ein Heulen durch den Wald. Mehrere andere Stimmen antworteten mit einem Gegenheulen.

      Was war das? Das klang ja fast wie ein Rudel Wölfe! Waldemar hatte die Berichte in den Medien verfolgt, denen zufolge sich im Harz wieder Wölfe angesiedelt hätten. Besonders die Landwirte beklagten bitter die Verluste unter ihren Tieren, angeblich von wilden Wolfsrudeln verursacht. Er hatte das alles nie so recht glauben können.

      Bis jetzt.

      Das Heulen wiederholte sich, jetzt so nah, dass er eine Gänsehaut bekam. So aufmerksam er sich auch im dunklen Wald umschaute, es war nichts zu sehen und zu hören. Sämtliche Geräusche waren seit dem ersten Heuler verstummt. Keine Vögel, keine anderen Tiere, nicht mal Insekten, die summten. Totenstille.

      In der Ferne knackte es im Unterholz. Ein Laut, welcher schnell näher kam. Waldemar wandte sich um und stolperte ein weiteres Mal. Über dieselbe Wurzel, wie eben. Es ging halt immer noch etwas besser.

      Jetzt hörte er obendrein Getrappel von irgendwelchen Tieren. Und da ... wieder ein Heulen! Er erschrak, wie nah es war.

      Verdammt, er hatte nicht einmal die Taschenlampe aus dem Handschuhfach mitgenommen! Was war bloß los mit ihm? Und alles nur, weil irgendein Idiot Stacheldraht auf die Landstraße gelegt hatte. Oder war es am Ende Absicht gewesen und galt gar gezielt ihm? Ach, Unsinn! Dann wäre er doch bereits am Auto ausgeraubt worden!

      Aber das Heulen ...

      Er fing an, zu rennen. Zurück Richtung Straße! Er würde sich im Wagen einschließen und darauf warten, dass jemand vorbeikam! Das hätte er gleich tun sollen! Nachts durch den Wald, was für eine blöde Idee!

      Hinter ihm brach etwas aus dem Unterholz. Waldemar hörte schnelles Getrappel und stoßweises Hecheln, wie von einem wilden Tier. Ohne sich umzusehen, beschleunigte er seinen Sprint.

      Wieder das Heulen in der Ferne, diesmal vor ihm. Panisch schaute er nach rechts und links. Nur zurück wollte er keinen Blick werfen. Etwas verfolgte ihn, aber was?

      Ein lautes Knurren ließ ihn zusammenzucken, einen Sekundenbruchteil später wurde er von hinten zu Boden gerissen. Ein blendend greller Schmerz durchzuckte ihn. Sein Schrei wurde vom Waldboden verschluckt.

       Kapitel 1.

      8 Monate später

      Durch den dämmerigen Wald hallten träge die Stimmen der beiden Wanderer.

      »Müssten wir nicht bald da sein, Mark?«

      Der Angesprochene konsultierte eine Karte, die offenbar nur aus einem Computerausdruck von Google-Maps bestand. »Gleich sollten wir es sehen!«

      Paul folgte seinem Freund. Die Wanderer schleppten außer je einen Rucksack noch jeder eine breite Kameratasche. Außerdem trug Paul ein Stativ mit sich herum, das er auf den Rucksack geschnallt hatte. Skeptisch warf er einen Blick auf die Uhr. »Es dämmert schon! Nicht, dass wir die blaue Stunde verpassen!«

      »Keine Sorge, wir sind fast da!«

      Die beiden Hobbyfotografen waren auf der Suche nach einem verlassenen Sanatorium mitten im Wald. Mark hatte über das Internet von diesem sogenannten »Lost Place« erfahren. Das waren menschenleere und verfallene Gebäude, attraktiv abzulichten für einige Fotografen. In diesem Fall gab es nur einen Haken: Es existierte längst keine Straße mehr, über die man direkt zum alten Sanatorium hätte fahren können. Lediglich zwei dürftige Wanderwege führten noch durch den Wald. Einer vom Gipfel des Brockens aus, an dessen Hängen der Lost Place stand, der andere von Wernigerode. Letzteren hatten die beiden heute genommen. Sie waren am Spätnachmittag aufgebrochen, da Mark es für einen grandiosen Einfall hielt, den aufgehenden Mond in der blauen Stunde hinter den verfallenen Dächern der Ruine zu fotografieren. Ein ähnliches Bild hatte er in der Fotocommunity im Internet gesehen, nur da hatte es sich um die Beelitzer Heilstätten gehandelt. Von den Überresten des Brocken-Sanatoriums fand man so gut wie gar keine Hinweise im Netz. Und genau das war es, das in den beiden die Hoffnungen auf gute Fotos weckte. Ein Lost Place, der abgelegen mitten im Wald lag und kaum einer Menschenseele bekannt war, konnte noch nicht das Opfer von glaszerschlagenden Vandalen geworden sein. Ein altes Sanatorium weitgehend im Originalzustand, ohne Graffitis an den Wänden oder modernen Müll in den Ecken, das wäre der Wahnsinn!

      Paul warf einen prüfenden Blick durch die Baumwipfel auf den Himmel, der sich schon merklich verdunkelte. Noch hatten sie Zeit. Die blaue Stunde, der Zeitraum zwischen Sonnenuntergang und vollständiger Dunkelheit, war von einem dunkelblauen Himmel gekennzeichnet. Das zu fotografierende Motiv lag gleichzeitig im Dunkeln und war trotzdem noch ausreichend beleuchtet, um ohne Blitz Raum für eine Langzeitbelichtung zu bieten.

      Mark, der vorauslief, brach unvermittelt durch die Bäume und blieb abrupt stehen. Paul wäre fast gegen ihn geprallt. Im letzten Moment konnte er die Richtung ändern und verharrte neben seinem Fotokumpel.

      Sie standen nebeneinander am Rand einer grasbewachsenen Lichtung, aus deren Zentrum sich ein dreistöckiges Gebäude erhob. Ein extrem baufällig aussehendes Giebeldach mit kleinen Türmchen krönte den Bau, der von einer weitläufigen Veranda umgeben war. Der Grundriss des Bauwerks musste T-förmig sein, wobei sie seitlich draufschauten. Die meisten Fenster waren zerbrochen, doch das schien eher das Werk unzähliger Stürme zu sein, als das von Vandalen. Der Putz war zum größten Teil herabgefallen, trotzdem erkannten sie an vielen Stellen noch elegante Stuckverzierungen.

      »Darf ich vorstellen: Das alte Brocken-Sanatorium«, flüsterte Mark und machte sich an Pauls Rucksack zu schaffen. Dieser untersuchte derweil die Umgebung. Rechts von ihnen beschrieb der Wald eine Biegung um das Gebäude, links ging es einen Abhang hinauf, der oben ebenfalls mit Bäumen bewachsen war. Dahinter wand sich dichtes Gehölz steil dem Brockengipfel entgegen.

      Mark hatte inzwischen das Stativ von Pauls Rucksack gelöst und aufgebaut. Routiniert befestigte er seine Kamera darauf und spähte durch den Sucher. »Perfekt!«, kommentierte er den Blick. Pfeifend zog er einen kabelgebundenen Fernauslöser hervor und stöpselte ihn ein. Ein paar Knopfdrücke, dann betätigte er den Auslöser. Die Canon klackte vernehmlich. »Ich probiere es zuerst mit einer Verschlusszeit von 10 Sekunden.«

      Währenddessen hatte Paul seine Kamera ebenfalls ausgepackt und überlegte, wie er das Gebäude am besten festhalten könnte. Der Zeitpunkt war ideal, der Himmel hatte eine tiefdunkelblaue Färbung angenommen und der Vollmond tauchte gerade hinter dem verfallenen Dach des Sanatoriums auf.

      »Wahnsinn!«, kommentierte Mark die ersten Fotos, die er auf dem Display schnell durchsah. »Damit komme ich in der Fotocommunity in die Galerie, verlass dich drauf!«

      Paul sah sich unbehaglich um. Wo jetzt auch noch der Mond aufging, sah das alte Bauwerk eher aus, wie Frankensteins Schloss, statt wie ein seit Jahrzehnten geschlossenes Sanatorium. Wie, um diesen Eindruck zu komplettieren, drang auf einmal ein Heulen durch den Wald zu ihnen.

      »Was war das?« Er blickte nervös umher, doch in der zunehmenden Dunkelheit konnte er kaum etwas sehen.

      »Tiere«, sagte Mark vage, während er immer wieder Kameraeinstellungen veränderte und ein Foto nach dem anderen schoss. Paul hatte seine Kamera zwar in der Hand, jedoch nicht ein einziges Mal auf den Auslöser gedrückt. »Das hat sich angehört, wie ein Wolf!«

      »Sei nicht albern! Wir sind im Harz! Hier gibt es keine Wölfe!«

      »Bist du sicher? Wollte man nicht welche ansiedeln?«

      »Und wenn, dann haben die mehr Angst vor uns, als wir vor denen!« Allerdings hörte sich Marks Stimme jetzt selbst etwas nervös an. »OK ... Lass uns näher herangehen.

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