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letzte Ware des Tages. Bald würde die Buntstiftproduktion stillstehen, denn alle Einwohner trafen sich zu Mittag auf dem Dorfplatz zum zweihundertsten Jubiläum ihres Heimatortes.

      Wer mit seiner Arbeit bereits fertig war, half bei den Vorbereitungen für das Fest. Auf dem Dorfplatz wurden Bänke aufgestellt und ein großer Grill an eine Gasflasche angeschlossen. Getränke wurden in Kühlschränken verstaut und Preistafeln aufgehängt.

      Und während die Einwohner eifrig mit den Vorbereitungen beschäftigt waren, zogen über einem ganz bestimmten Ort in Sharpytown dunkle Wolken auf. Sie waren groß und schwer und voller Regen. Regen, der für einen ganz bestimmten Zweck vorgesehen war. Die Wolken gingen direkt über dem gigantischen Erdhügel in Stellung, der in der Stadt als Dirthill bekannt war. Auf dem kahlen Berg aus Erde wuchs kein Gras und auch kein Unkraut, fast so, als würde sich die Erde hin und wieder bewegen und so alles Lebendige davon abhalten, sich niederzulassen. Der Erdhügel befand sich vor dem kleinen See, der etwas außerhalb von Sharpytown lag. Der See war durchaus beliebt. Die Älteren spazierten Hand in Hand um ihn herum und erinnerten sich an ihre Jugend. Eine Zeit, als Hüftprobleme noch weit in der Ferne lagen und alles noch von alleine dicht gehalten hatte.

      Die Jüngeren saßen darum herum und fummelten. Und Sharpytowns Einwohner mittleren Alters wählten den Ort für den Beginn ihrer Midlife-Crisis wenn sie die frisch verliebten Teenager sahen, die sich betatschten, und die glücklichen alten Paare, die von Parkbänken aus die Landschaft betrachteten.

       Der Erdhügel war schon immer Teil der Seelandschaft, und nur wenige der Alten konnten sich noch erinnern, was darunter verborgen war. Ein Relikt aus älteren Zeiten. Ein Gebäude, das einst als das Planungszentrum schrecklicher Gräueltaten gedacht war. Jedenfalls bis man den Besitzer des Bauwerks geschnappt und vergraben hatte. Und dann war Schluss.

      Bis jetzt.

      Die Wolken taten ihren Dienst und ein Jahrhundertschauer ging auf Dirthill nieder. Er würde erst wieder aufhören, wenn er freigelegt hatte, was sich unter dem Erdhügel befand.

      Eine Turmspitze ragte bereits aus der nassen Erde hervor.

      4

      Percy parkte seinen Mustang hinter dem Polizeigebäude und huschte durch den Eingang ins Innere. In seinen Pfoten hielt er eine Tüte Chips, und auf dem Rücken trug er einen kleinen Rucksack, in dem sich eine Stange Zigaretten befand und ein Discman, der die Bügelkopfhörer auf seinem Kopf mit Musik versorgte.

      „Guten Morgen, Percy“, rief eine alte Frau in Uniform und knallte einen Stapel Akten auf den Empfang.

      Percy winkte ihr mit einem Chip in der Pfote zu und drängte sich in den vollen Aufzug. Sein Vorgesetzter hatte ihn zu sich bestellt, und angesichts der Geschehnisse des letzten Abends konnte das nichts Gutes bedeuten. Nicht dass es Percy sonderlich interessiert hätte. Er hatte eine volle Tüte Chips, gute Musik und die Stange Zigaretten, die er dem Bierbäuchigen als Wiedergutmachung abgenommen hatte. Für ihn war die Welt im Hier und Jetzt völlig in Ordnung. Und letzte Nacht hatte er mehr Schlaf bekommen als in allen Wochen zuvor. Fünf volle Stunden, zwar nicht allzu gemütlich, aber dafür erholsam. So gut wie jetzt war es ihm schon lange nicht mehr gegangen, und wenn man ihn feuerte, würde er erst mal Urlaub machen.

      Die Türen des Aufzugs öffneten sich, und Percy stapfte durch das Meer aus Geräuschen, die für Verwaltung und Polizeiarbeit standen. Schreibmaschinen, die von alten Beamten bearbeitet wurden, die sich einfach nicht mit Bildschirm und Kabel anfreunden konnten, unanständige Witze, die gerissen, und Unterlagen, die von einem zum anderen Tisch getragen wurden. Heute bekam er von dem allen nichts mit, denn alles, was er hörte, war ELOs „Confusion“.

      Percy trat die Türe zu seinem Vorgesetzten auf, der gerade telefonierte, und nahm, genüsslich den nächsten Chip verspeisend, auf einem Stuhl Platz.

      „Was gibt’s, Chefchen?“, sagte er, streifte seine Kopfhörer ab und erntete einen grimmigen Blick von seinem telefonierenden Captain. Mit angespanntem Mundwinkel schüttelte der den Kopf und seine Geste sagte deutlich: Was hast du dir dabei nur gedacht?

      Percy zuckte mit den Schultern und griff in die Tüte mit den Chips.

      „Snack?“, fragte er und bot seinem Gegenüber einen Chip an.

      Der Chip wurde ihm aus der Pfote gerissen und der angespannte Mundwinkel wurde zu einem flüchtigen Lächeln. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber lange genug, damit Percy erkannte, dass er sich nicht in ernsthaften Schwierigkeiten befand.

      Sein Vorgesetzter war ein zierlicher kleiner Mann mit Halbglatze und Hornbrille, der stets im Anzug auftrat und sein Temperament ebenso gut zu kontrollieren wusste wie seine Angestellten. Er war weder streng noch nachgiebig, sondern der Typ, der sich nicht zu schade war, auch mal selbst mit anzupacken. Und das auch, wenn es nur darum ging, Möbel zu verrücken oder die Post zu verteilen. Sein Name war Captain Joe Thursday und er war mächtig in Ordnung.

      „Da hast du dir ganz schön was geleistet“, sagte der Captain und klopfte die Chipskrümel von seiner Krawatte. „Wenn dein Ruf nicht so gut wäre, müsste ich dich entlassen und an dir ein Exempel statuieren.“

      „Keine Konsequenzen?“, fragte Percy und baumelte mit den Füßen. Er hatte dem Bierbäuchigen zwar den Wagen zerschossen, aber penibel darauf geachtet, dass dem Typ selbst nichts passierte. Anschließend hatte er ihm noch die Leviten gelesen, und zwar gründlich. Die Stange Zigaretten hatte ihm der Bierbäuchige fast hinterhergeworfen.

      Der Captain machte eine ablehnende Geste und schüttelte den Kopf. „Ach was, nicht wirklich. Ich sehe doch, was dir fehlt: Urlaub.“

      „Perfekt“, sagte Percy und sprang auf. „Dann sehen wir uns in zwei Wochen wieder, und ich fahre nach Hause und schau mal, was meine Familie so treibt.“

      Percy lief Richtung Tür, als die Worte seines Captains ihn erstarren ließen.

      „Es gibt keinen Urlaub.“

      „Wie bitte?“, sagte Percy, ließ die Chipstüte fallen und fuhr herum. „Was soll das heißen, kein Urlaub?“

      „Es ist Sommer. Die halbe Abteilung befindet sich bereits im Urlaub. Zwei meiner Detectives sind krankgeschrieben, das Personal, das sie ersetzen soll, ist immer noch nicht eingetroffen, und wir versinken in Arbeit.“

      „Was interessiert mich das?“, sagte Percy und hüpfte demonstrativ auf die Chipstüte, die sich über den Boden ergoss. „Ich habe keinen triftigen Grund gehört, warum ich hierbleiben sollte“, sagte er und verschränkte die Arme.

      „Percy, ich brauche dich. Ich habe einen neuen Fall für dich. Und noch etwas …“, sagte er mit leiser Stimme.

      Percy kniff die Augen zusammen und ging auf den Schreibtisch zu. „Was soll das heißen, noch etwas?“

      „Das Departement hat ein Praktikantenprogramm aktiviert. Wir brauchen dringend neue Leute, und Freiwillige gibt es kaum. Der ganze Nachwuchs hat entweder nichts drauf oder wird innerhalb kürzester Zeit auf Gnaa von Daseinsformen gefressen, die ich kaum aussprechen kann. Und deshalb bekommst du …“

      „Nein!“, sagte Percy energisch. „Bitte nicht.“

      „Du bekommst einen Praktikanten an die Backe.“

      Joe Thursday hob das Telefon, tätigte einen schnellen Anruf und kurz darauf kam ein junger Mann ins Zimmer gelaufen. Seine Haare waren nach hinten gegelt, und allein seine Beine waren schon einen Meter lang. Hinter seinem Ohr lugte ein Bleistift hervor und an seinem Gürtel war ein Halfter befestigt, in dem sich ein Notizbuch befand. Abgerundet wurde das Erscheinungsbild von einer eng sitzenden Weste über einem weißen Hemd.

      Mit großen Augen schaute er Percy freundlich an. „Guten Tag, mein Name ist Milten Greenbutton. Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte Milten und winkte Percy freundlich zu.

      „Ne, oder?“, sagte Percy zu seinem Captain. „Das kann nicht dein Ernst sein?“

      „Milten hier ist ein begabter Erfinder, er hat bei Professor Charles P. Notlob gelernt

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