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der Mann.

      Guido Hermes warf sich auf das Ehebett, die Augen geschlossen. Endlich! Bin wieder da! Herma! Sie weiß, dass ich komme, hat im Verlag angerufen, sich den Mischkrug schicken lassen, will wieder ein Interview – wie voriges Jahr, hat sie gesagt.

      Damals war er, erschöpft vom Trubel auf der Messe, ins Hotel zurückgekommen, zu müde, um noch zum Essen zu gehen. Plötzlich hatte das Zimmertelefon geklingelt. An der sanften Stimme hatte er sie wiedererkannt: die junge Journalistin vom MDR mit den vollen Lippen, die ihn auf der Pressekonferenz so merkwürdig angeschaut hatte und mit der Bitte um ein Autogramm kaum hörbar geraunt hatte: „Ich bewundere Sie!“

      Ob sie noch zu einem kurzen Interview vorbeikommen dürfe, hatte sie am Telefon gefragt. Er hatte ihren Namen nicht verstanden, hatte nur einfach Ja gesagt, so überrascht war er gewesen.

      Wenige Minuten später war sie auch schon da, zu seiner Enttäuschung ohne Kamerateam. Er hatte sie daraufhin in das Chinalokal in der Seitenstraße gegenüber dem Hotel geführt. Im Hotel wäre zu so später Stunde kein geeigneter Raum zur Verfügung gewesen. Außerdem hatte ihr Besuch seinen Appetit geweckt.

      Die Erinnerung an diesen Abend mobilisierte auch jetzt seinen Magen. Seit dem kleinen Menü im Speisewagen hatte er nichts mehr gegessen. Er beschloss, wieder zu dem Chinesen zu gehen. Vorher rief er noch Cornelia an, seine Frau in München. „Bin gut angekommen. Alles in Ordnung.“ Vielmehr hatten sie sich nicht zu sagen.

      Er machte sich auf zum Chinarestaurant, allein diesmal – in Gedanken aber noch einmal mit Herma.

      „Ich habe auch Hunger“, hatte sie damals gesagt, als sei es ganz selbstverständlich, mit ihm zum Essen zu gehen. Hermes fand wieder den Platz, wo sie an dem Abend gesessen hatten. Diesmal war das Lokal noch fast leer. Aber die schummerige Atmosphäre mit den roten Lampions über jedem Tisch und dem Duftgemisch aus Parfüm und fremdartigem Gewürz umfing ihn sofort wieder. Er bestellte das gleiche Reisgericht, das sie gemeinsam ausgewählt hatten, auch den grünen Tee und den gleichen Rotwein dazu. Es sollte alles so sein, als säße ihm Herma gegenüber.

      Die ersten Worte, die sie gewechselt hatten, klangen ihm noch nach.

      „Danke, dass ich kommen durfte, dass Sie mir Zeit schenken wollen“, hatte sie das Gespräch eröffnet.

      „Ich muss dankbar sein“, hatte er verlegen erwidert – im Stillen dankbar für jede Minute, die sie ihm schenken würde –, „für die Gelegenheit, mit Ihnen über mein neues Buch sprechen zu dürfen.“

      Beide hatten gelacht. Über den Tisch hinweg hatte sie ihre Hand auf die seine gelegt. „Wir müssen nicht nur über Ihr Buch reden, lieber Professor Hermes“, hatte sie mit ihrer sanften Stimme gesagt und ihm tief in die Augen geblickt.

      Was will diese Frau von mir?, hatte er sich gefragt, betroffen und verunsichert. Er hatte ihren Namen nicht mehr gewusst, hatte ihn vielleicht überhört. Nur als „die Journalistin vom MDR“ hatte sie sich am Telefon in Erinnerung gebracht.

      „Wie heißen Sie eigentlich?“, hatte er gefragt.

      „Sagen Sie einfach Herma zu mir“, hatte sie vorgeschlagen, die vollen Lippen wie zum Kuss geformt.

      Hermes vergaß, dass er achtundsechzig war. Wilde Gedanken und Empfindungen hatten ihn durchjagt. Ein Schub Jugendkraft war in ihn gefahren, die Lust an einem Abenteuer geweckt − auch die Angst vor einem möglichen Fehltritt. Ich kann mich doch nicht auf etwas einlassen mit dieser Frau, hatte er sich zur Ordnung gerufen. Eine Journalistin! Es könnte einen Skandal geben. Vielleicht ist sie gar darauf aus? Oder spielt mir nur etwas vor, um mich zu testen.

      Sie hatte ihm seine Verunsicherung angemerkt. „Ich war in Amerika“, hatte sie wie beiläufig gesagt. „Da ist es üblich, sich mit Vornamen anzureden. Nicht nur unter Kollegen. Sogar politische Gegner … Für mich sind Sie natürlich Professor Hermes. Keine Angst, werde Sie nicht Guido nennen.“

      „Oh, bitte! Hätte nichts dagegen“, war es ihm rausgerutscht.

      Sie lachte: „Hermes und Herma – namensmäßig sind wir ja beinahe verwandt.“ Ihre vollen Lippen hatten sich zum Lächeln gekräuselt. Hingerissen hatte er geantwortet: „Also gut, Herma. Bleiben wir dabei. Und Sie dürfen ruhig Guido sagen.“

      „Der Name Hermes geht ja auf den Götterboten zurück. Meiner? Ich weiß nicht. Gab es eine weibliche Herma?“

      Sie hatte den Altphilologen in ihm geweckt. Herma sei das altgriechische Wort für Stein, hatte er sie belehrt. Wegemarkierungen – eine Art Meilensteine – nannte man Hermen. Vielleicht habe der Zeussohn daher seinen Namen bekommen, weil er immer als Bote unterwegs gewesen war.

      „Demnach wäre ich also eine Wegemarke“, hatte sie festgestellt. „Wusste ich noch gar nicht. War’s vielleicht mal für meine Eltern, als sie mir den Namen gaben.“

      Die vieldeutige Anspielung war ihm ein erneutes Warnzeichen gewesen. Wegemarke − Wegweiser? Das bedeutungsvolle Wort hatte ihn so in Verwirrung gebracht, dass er schnell auf die weiteren Zuständigkeiten des Götterboten zurückkam, der unter anderem auch Schutzgott der Wissenschaften und der Redekunst gewesen sei.

      „Aber auch der Diebe!“, hatte sie zwischenbemerkt, was ihn vermuten ließ, dass sie sich auf das Thema sehr wohl vorbereitet hatte.

      Während des Essens – Herma hatte sich Stäbchen geben lassen, mit denen sie geschickt umzugehen wusste – war es dann nur noch um den Göttersohn, seine olympische Verwandtschaft mit Bruder Apoll und seine vielseitigen Aufgaben gegangen. Sie war es dann gewesen, die seine zahlreichen Liebschaften ins Spiel brachte. „Hat er’s nicht auch mit Männern gehabt? Und mit Aphrodite, mit der er einen Sohn zeugte? Einen Zwitter – halb Mann, halb Frau?“

      Er hatte sie belehrt, dass dies ein Mythos sei, ausgehend wohl von der Tatsache, dass auch schon im Altertum bekannt gewesen war, dass sich im Menschen männliche und weibliche Eigenschaften mischen können.

      Damals, bei diesem Gespräch mit Herma, war ihm im Unterbewusstsein die Idee zu seinem Roman gekommen, der unter dem Titel Mischkrug jetzt auf der Messe war. Geschickt hatte Herma das Gespräch auf sein jüngstes Buch über die Frauen im alten Rom gebracht und ihn zu Huldigungen der Fraulichkeit und aller weiblichen Vorzüge verleitet, die er in dem Buch an Beispielen beschrieben hatte. Erst gegen Ende war ihm das kleine Tonbandgerät aufgefallen, das Herma hinter dem Brotkörbchen versteckt hatte. Sie arbeite für Hörfunk und Fernsehen, hatte sie gestanden. Einiges werde sie vielleicht noch kürzen müssen, aber es werde sicher morgen in der Messerundschau des Hörfunks gesendet. Zu der Zeit war Hermes schon wieder auf der Rückfahrt nach München gewesen, aber Herma hatte ihm eine CD geschickt und sich nochmals für das Interview bedankt. Als er sich die Aufzeichnung anhörte, war auch Cornelia mit im Zimmer gewesen. Am Ende hatte sie gelacht: „Wenn ich nicht deine Stimme erkannt hätte, würde ich sagen, da hat ganz ein anderer gesprochen.“

      Hermes hatte die CD im Laufe des Jahres noch oft im stillen Kämmerlein abgespielt, nur um Hermas Stimme zu hören. Gedankenverloren stocherte er jetzt im Reis seiner Pekingente. Er hatte sich Stäbchen geben lassen, um Hermas Nähe zu beschwören. Sicher hat sie auch den Roman inzwischen gelesen, sagte er sich. Ob sie gemerkt hat, wie präsent sie darin ist?

      Zurück in seinem Hotelzimmer blickte er auf das Gemälde einer nackten Venus über dem Doppelbett, passend zu dem Werbespruch des Hotels: „Hier schlafen Sie mit einem Original.“ Er schlug das Bett auf und wünschte sich eine leibhaftige Präsenz.

      4

      Im Frühstücksraum waren bereits nahezu alle Tische belegt, als Professor Hermes eintrat. Die Mehrzahl der Gäste schienen ebenfalls Messebesucher zu sein, so kam es ihm vor: kulturbeflissene ältere Herrschaften, paarweise oder einzeln, aber immer seriös, dazwischen auch jüngere Damen, bebrillt, in strengem Kostüm manche, andere in Jeans und schlichter Verhüllung.

      Er holte sich einen Teller mit dem Nötigsten vom Büffet und steuerte auf den letzten noch freien Zweiplätzetisch zu.

      Ein

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