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für 9 Uhr angesetzt. Einer fehlt allerdings: der Angeklagte. Und so vertreiben sich Pflichtverteidiger, Nebenklagevertreterin und Staatsanwältin sowie der Richter die Zeit mit noch nicht allzu alten Geschichten aus der Uni. Bis die Polizei erscheint – zwei Beamte führen Hanna-Luna Slowa vor, die erste Zeugin. Da sie an den ersten beiden Verhandlungstagen ihrer Vorladung nicht gefolgt war, wurde die 18jährige dieses Mal auf Staatskosten aus Kiel von der Schule abgeholt. Der Richter unterbricht die Verhandlung ein zweites Mal, da der Angeklagte noch immer nicht aufgetaucht und auch über sein Mobiltelefon nicht erreichbar ist. Mit 20minütiger Verspätung hat es dann auch Seçil Türkyılmaz in den Gerichtssaal geschafft, sein Zug aus Berlin habe Verspätung gehabt, lautet seine Begründung.

      Der Richter möchte wissen, was die Zeugin noch von der Party des 26. April in Erinnerung habe. „Nichts“, lautet die Antwort. Das erstaunt ihn. Hanna-Luna habe doch damals viel Zeit mit Seçil verbracht und der habe ihr am Tag nach der Fete sogar ein Foto geschickt, auf dem eine blutende Hand zu sehen war. So steht es jedenfalls in Slowas Vernehmungsprotokoll der Polizei. Ein Jahr später kann sich das junge Mädchen an nichts erinnern. Sie ist inzwischen allein nach Kiel umgezogen, geht dort zur Berufsschule, zu Seçil Türkyılmaz habe sie keinen Kontakt mehr. Gleichwohl fällt ihr doch noch etwas Entlastendes für den Angeklagten ein: das Opfer, Lara Hopfental, könne sich die Verletzungen, von der die Zeugin nun vom Hörersagen wissen will, sehr wohl selbst beigebracht haben. „Lara hatte immer viele Probleme, vor allem mit ihren drei Kindern, die ihr weggenommen worden sind. Die hasst sich selber.“ Seçil würde sie die Tat jedenfalls nicht zutrauen, immerhin habe sie früher viel Zeit mit ihm verbracht.

      „Sind Sie vom Angeklagten bedroht worden, hier für ihn auszusagen?“, unterbricht der Richter ihre Ausführungen. Die Zeugin verneint. Deren Vater hatte am vergangenen Verhandlungstag immerhin ausgesagt, seine Tochter habe Angst vor Seçil Türkyılmaz. Auch das wird verneint. Die Belehrung, sie müsse vor Gericht die Wahrheit sagen, verhallt. Schlussendlich verabschiedet der Richter die 18jährige mit guten Wünschen: „Ich wünsche Ihnen viel Erfolg in der Schule, obwohl das bei Ihrem Gedächtnisverlust schwer werden könnte.“ Die Beweisaufnahme ist damit beendet.

      Seçil Türkyılmaz macht jetzt Angaben zu seiner Person: er ist 25 Jahre alt, verbrachte seine Kindheit in Hamburg, Bielefeld, Berlin und Elmshorn, wo er die Hauptschule nach der siebten Klasse ohne Abschluss verließ. Danach hat er gearbeitet, Gelegenheitsarbeiten. Zu der Zeit ist sein Vater mit dem Bruder zurück in die Türkei gegangen, während Seçil bei Mutter und Schwestern blieb. Um irgendwie Geld zu verdienen, hat er bei seinem Onkel Autos gewaschen oder im Restaurant gekellnert. Mittlerweile wohnt Seçil Türkyılmaz wieder in Berlin, lebt seit einem Jahr mit seiner neuen Freundin und deren zwei kleinen Kindern von „Hartz IV“. Aber das mit der Arbeitslosigkeit soll nicht mehr lange so bleiben: Wenn das erste Kind in den Kindergarten geht, werde er sich zunächst einen Halbtagsjob suchen, mehr gehe nicht, sonst sei die Mutter überfordert. Eine Sicherheitsfirma soll es diesmal sein, bei der er arbeiten will, ein Kumpel könne ihn dort unterbringen. Um es vorweg zu nehmen: das Gericht glaubt ihm kein Wort, die Geschichte von der „guten Sozialprognose“ solle lediglich das mögliche Strafmaß auf eine Bewährungsstrafe minimieren.

      Statt „Märchen“ präsentiert der Richter lieber Fakten aus dem Bundeszentralregister: Zum ersten Mal wurde Seçil Türkyılmaz mit 15 Jahren vom Landgericht in Itzehoe wegen Diebstahls verurteilt, acht Monate später wegen schweren Diebstahls in Bielefeld, dann folgten Anklagen und Verurteilungen im Halbjahres-Takt wegen sexueller Nötigung, Diebstahls, gefährlicher Körperverletzung, Betruges, Raubes, Diebstahls, Erschleichung von Sozialleistungen und schließlich die bislang letzte Verurteilung wegen Drogenhandels mit 21 Jahren. Alles zusammen brachte Seçil Türkyılmaz bislang 18 Monate hinter Gitter.

      Nun also die nächste Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung. Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft hat sich am 26. April des vergangenen Jahres und in den Tagen danach Folgendes in Glückstadt abgespielt:

      Opfer und Täter, die damals noch ein Paar waren, trafen sich abends mit Freunden, um Alkohol und illegale Drogen zu konsumieren. Am darauffolgend Morgen ist Seçil Türkyılmaz mit Lara Hopfental in Streit geraten, weil er vermutete, seine Freundin habe ein Verhältnis mit einem anderen Mann. Als sie dies leugnete, schnitt Türkyılmaz ihr das erste Mal mit seinem Springmesser tief in die linke Hand, als sie weiter bestritt, fremdgegangen zu sein, schnitt er ihr auch in die andere Hand und verletzte erneut Sehnen und Blutgefäße. Anschließend, so die Staatsanwältin, hat Seçil Türkyılmaz Lara Hopfental den Messerknauf an die Schläfe geschlagen und ihr anschließend noch einen Stich in den linken Oberschenkel beigebracht. Das weiße Sofa war blutgetränkt. Nachdem die junge Frau nun unter Schmerzen log, Seçil Türkyılmaz doch betrogen zu haben, ließ er von ihr ab.

      Statt zu einem Arzt brachte der junge Mann die blutende Frau jedoch Stunden später zu seinem Onkel, der sie notdürftig versorgte. Anschließend mußte Lara Hopfental zurück in die Tatwohnung. „Wenn du fliehen willst, hast du ein Messer im Hals, bevor du an der Tür bist“, soll Seçil Türkyılmaz laut Polizeiprotokoll gedroht haben. Die Reißzähne seines Pittbulls vor der Wohnungstür taten ihr übriges, um Lara Hopfental in eine Art Schockstarre zu versetzen. Erst zwei Tage später gelang der jungen Frau die Flucht, als sich Türkyılmaz auf die Suche nach dem vermeintlichen Liebhaber gemacht hatte.

      Der Antrag der Staatsanwaltschaft: ein Jahr und vier Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Dem schließt sich die Nebenklage an, das geforderte Strafmaß sei Tat und Schuld angemessen aufgrund der „ersichtlichen Kaltblütigkeit“. Der Pflichtverteidiger sieht das naturgemäß ganz anders: Sein Mandant habe durchaus ein aufbrausendes Gemüt, aber die Tat sei schlicht nicht bewiesen. Die Tatwaffe konnte nicht sichergestellt werden, obwohl ein mobiles Einsatzkommando der Berliner Polizei Türkyılmaz die Tür eingetreten habe. Außer der Geschädigten gibt es keine Augenzeugen, und die könne sich die Wunden bei ihrer desaströsen psychischen Verfassung durchaus selbst beigebracht haben, so wie sie es dem Vater des Angeklagten nach dessen Aussage am selben Tag gestanden haben soll. Offenbar habe Lara Hopfental es nicht verwinden können, dass sich sein Mandant von ihr trennen wollte. „Frau Hopfental ist aktuell in psychischer Behandlung, sie ist generell ein sehr belasteter Mensch. Was passiert ist, ist sehr unschön, aber es gibt zu viele Unstimmigkeiten, es bestehen zu viele Zweifel.“ Kurzum: Freispruch.

      Der Vorsitzende Richter fällt sein Urteil bereits 15 Minuten später nach den Paragraphen 223, 224, 239, 240 und 253 des Strafgesetzbuches: Körperverletzung, gefährliche Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Nötigung und Erpressung. „Es war ein widerwärtiges Verbrechen“, so der Richter, „Sie haben ihr Opfer regelrecht gefoltert.“ Das Strafmaß: ein Jahr und acht Monate Gefängnis ohne Bewährung, womit der Vorsitzende noch über die Anträge von Staatsanwaltschaft und Nebenklage hinausgeht. Die Vorwürfe von Lara Hopfental seien detailliert und plausibel geschildert worden, das Verhalten von Seçil Türkyılmaz dagegen „niederträchtig“; hierzu zählt das Gericht auch dessen fehlende Reue. Die „Brutalität der Tat“ mache eine Verurteilung unumgänglich und eine Bewährungsstrafe unmöglich.

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      2 | UNBESCHOLTEN

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      Indizienprozesse sind immer schwierig. Sie als Lotterie-Spiel zu bezeichnen, würde der Ermittlungsleistung von Polizei und Staatsanwaltschaft nicht gerecht. Puzzeln passt besser. Zeugen sind deshalb immer ein Segen, die meisten jedenfalls. Sie sind es, die in der Regel maßgeblich zur Rekonstruktion des Tatherganges beitragen und damit letztendlich den Richter in die Lage versetzen, ein möglichst gerechtes Urteil zu fällen.

      Überraschungen gehören dazu, so wie bei der Verhandlung gegen Adolf Storm. Dem Richter geht es bei allen aufgerufenen Zeugen nämlich spürbar gar nicht um den Tathergang, sondern um dessen Umstände, insbesondere um das Verhalten des Angeklagten: „Wie hat Herr Storm sich verhalten?“ „Konnte Herr Storm Ihre Fragen verstehen und sie beantworten?“ Ein Richter hat objektiv zu sein. Aber in der Robe steckt eben auch ein Mensch – und ein guter Richter versteht es, menschlich objektiv

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