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am Schloss eines Glasschrankes, in dem zahlreiche unetikettierte Fläschchen mit Tabletten aufbewahrt waren. Er gab zwei der Phiolen meinem Vater und erklärte ihm die Einnahmevorschriften. Nebenbei zog er eine Spritze auf, die er mir mehr oder minder im Vorbeigehen in meine rechte Gesäßbacke drückte. So ging er dem Risiko, Angst vor Injektionen zu erleiden aus dem Weg. Er sagte, meine Probleme würden bald gelöst sein. Ich würde ein hoch dosiertes Medikament bekommen, das sämtliche unangenehme Beschwerden beseitigen und die Infektion außer Kraft setzen werde.

      So war es. Am Heimweg überfiel mich grundlose Fröhlichkeit. Ich fühlte mich stark und munter. Meine Müdigkeit und virenbedingte Dumpfheit war tatsächlich wie weggeblasen. Auch mein Vater, der eine kleine orangefarbene Pille eingenommen hatte, wirkte entspannt. Er plauderte gelöst mit mir und wir beschlossen zu Fuß über den Stephansplatz nach Hause zu gehen. Wir kamen gegen Mitternacht an. Meine Mutter war noch wach. Sie wartete auf ihre Heuschnupfenpulver. Der Vater verteilte gut gelaunt die Medikamente und ich nahm auch eine rötliche Pille ein.

      Ich lag schon im Bett und hörte die Eltern wie aus weiter Ferne sprechen. Einzelne Muskelpartien begannen zu zucken. Ich musste lachen, wenn eine Kontraktion besonders lange anhielt, oder eine Sehne stark hüpfte. Ich sah helle Bögen hinter den geschlossenen Augen flimmern. Ich bekam Luft durch die Nase, musste nicht husten, hatte kein Fieber und ein unbeschreibliches Glücksgefühl hatte von mir Besitz ergriffen. Es war wunderbar. Das Leben erfüllte mich mit Hochgenuss. So sollte es immer sein, dachte ich bei mir, in meine Tuchent gekuschelt. Mein Vater lobte anderntags die Behandlungsmethoden des Mediziners über die Maßen. Er stand schon längst unter dem Bann des Medizinmannes.

      Nach diesem Ordinationsbesuch begeisterte es mich immer wieder, in die Wollzeile zu pilgern. Ich nahm gerne die Wartezeit bei den stummen Fischen in Kauf und freute mich schon auf Frau Henriette, die Biedermeierpuppe. Worüber ich mich aber am meisten freute, waren die Pülverchen, geheimer Herkunft. Niemals verriet Dr. Flossy den Namen der Medikamente, obwohl mein Vater ihn eindringlich bat, die Spezialität preiszugeben, da er im Notfall in einer Apotheke das zuträgliche Mittel erstehen wollte. Der Arzt lachte nur und meinte, er würde es schwer haben, dieses Rezept einzulösen. Dabei ließen wir es bewenden. Uns wurden die zur Gesundung nötigen Stoffe bedenkenlos und in ausreichender Menge ausgeliefert. Oft musste ich nur eine winzige grüne Tablette am Tag nehmen und mein, im April ausgebrochener Heuschnupfen, war kaum mehr lokalisierbar. Einen Nachteil gab es doch: Ich selbst spürte mich kaum mehr. Ich fühlte mich wie in einer schweren Trance. Meine Gliedmaßen waren kalt und taub. So konnte ich natürlich keinen Juck- oder Niesreiz mehr bekommen. War ich ernstlich erkältet und gelbes Sekret rann aus der Nase, bekam ich so starke Antibiotika verabreicht, dass ich innerhalb von zwei Tagen kein Eiter mehr schnäuzte und der Kopf frei war.

      Merkwürdig fand ich den Umstand, dass ich immer öfter erkrankte. Wahrscheinlich schuf ich mir mit der raschen Unterdrückung jeglicher Krankheitsbilder den Nährboden für weitaus hartnäckigere Infektionen, die ihrerseits wiederum nur mit starken Chemikalien besiegt werden konnten. Niemand fragte sich, wieso ich so anfällig geworden war und aus welchem Grund meine Epistaxis eine Dauereinrichtung wurde. Die Intervalle zwischen den Blutungen wurden immer kürzer, während die Dauer des unfreiwilligen Aderlasses immer länger wurde. Ich wurde in eine Panikstimmung versetzt, die meine Eltern schürten, indem sie aufgeregt auf und ab liefen und »um Gottes willen«, riefen und »da kann man sterben«, oder »er wird noch ausbluten, der arme Bub«.

      Abgesehen von meinen Krankheiten, verbrachte ich ohnedies eine Menge Zeit zu Hause. Ich durfte mich autonom in der Wohnung bewegen, solange ich meinen Vater nicht störte, der völlig erschöpft vom Büro heimkehrte und augenblicklich in Hauskleidung schlüpfte und sich zur Rast aufs Bett begab, um nachzudenken. Dabei legte er eine Hand an die Stirne, oder er spannte mit den Kuppen der ersten zwei Finger die Schläfenhaut. Es störte ihn nicht weiter, dass meine Mutter selbstständig arbeitete, den Haushalt führte und sich mit unserer Erziehung beschäftigte.

      Als kleines Kind war meine Freiheit, wenn ich es recht bedachte, doch ein wenig eingeschränkt. Ich hatte einen Zwinger, in dem ich mich im Kreis bewegen konnte. Man nannte diesen, nach oben offenen, quadratischen Holzkäfig Gehschule. Mein Bruder, der zwei Jahre später das Licht dieser Welt erblickte, erbte diesen elenden Pferch. Er zeigte die Tendenz, über den Rand seiner Voliere zu klettern. Daher wurde er mit einem Brusthalfter an die Gitterstäbe fixiert. Auch im Urlaub, den wir vornehmlich in Italien verbrachten, wurde er mit einer hellbraunen, ledernen Leine an einen Sonnenschirm gebunden. Diese Befestigung wählten die Eltern, um ihn am Fortlaufen zu hindern, wenn sie sich zum Schwimmen entfernten, oder ein Eis kaufen gingen. So rannte er wie ein Verrückter im Kreis, bis er strauchelte, dann weinte er bittere Tränen und das Spiel begann von neuem.

      Ich glaube an dieser Stelle begann sein Leidensweg, der ihn zum ewigen Wanderer stempelte. Er sollte wie Ahasverus rastlos durch die Welt ziehen, ohne je Ruhe zu finden.

      So waren wir beide an die Stolzenthalergasse gekettet, nur mit dem Unterschied, dass ich mich ausreichend zu beschäftigen wusste und meinem Bruder langweilig war. Am liebsten wollte er mit mir spielen. Obwohl ich ihn für die Wissenschaften zu begeistern versuchte und bereit war, ihn als Assistenz anzunehmen, zeigt er kein Interesse an Chemie, Biologie und Astronomie. So umgab ich mich mit den klugen Geistern der Vergangenheit.

      Unter der strittigen Obhut der verstorbenen Verwandten fühlte ich mich sowohl verpflichtet, als auch befähigt, meiner Bestimmung gerecht zu werden. Mein Vater hatte ganze Arbeit geleistet. Ich spürte deutlich das Entdecker-Gen in mir und bereitete mich auf den bevorstehenden Höhenflug vor. Ich saugte jede Information auf wie ein Schwamm und führte meinen Eltern wie ein Schauspieler auf der Bühne meine Fähigkeiten vor. Im Vorschulalter las ich bereits laut aus einfach gestalteten Büchern und hielt aufgeregt Vorträge über mein neu erworbenes Wissen. Stets umringte mich ein begeistertes Publikum, das mich ob meiner Intelligenz würdigte. Nichts war mir zu schwer. Misserfolg war mir fremd. Ablehnung durch Erwachsene kannte ich nicht. In der Volksschule fühlte ich mich unterfordert. Ich erkor berühmte Wissenschaftler zu meinen Vorbildern aus. Meine Mutter hatte bei unserer Geburt ihren Job aufgegeben und nahm unter veränderten Vorzeichen erst wieder einige Jahre später ihren Tätigkeit auf. Sie hatte ihren Aktionsradius nach Hause verlegt. Das Esszimmer wurde zum Büro umfunktioniert. Sie arbeitete, wann immer es ihre Zeit nach der Erledigung des Haushaltes erlaubte, schrieb Listen und Termine auf ihrer schwarzen, schweren Underwood. Oft klapperten die Tasten der Schreibmaschine bis in meine Träume und das Surren des neu eingelegten Farbbandes beruhigte mich ungemein. Sie empfing Vertreter und Kunden aus der Filmbranche. So fehlte es mir nie an einem enthusiastischen Auditorium. Ich wurde als aufgeweckter Bub bezeichnet und von den Kinobesitzern mit Näschereien, Geld und kleinen Geschenken überhäuft. Jeder bedankte sich so für die gebotene Zerstreuung. Niemand hasste mich, oder empfand mich als frühreifen Besserwisser. Manchmal trug ich ein eigenes Gedicht vor zum Tagesgeschehen, oder ich betrat das Verhandlungszimmer meiner Mutter, wo sie mit ihren Kunden über die Verteilung der Filmkopien diskutierte, um den besten Preis herauszuschlagen.

      Während eines Besuches des Kinobesitzers aus Wimpassing griff ich ein Heft aus der Reihe »Jasmin«, auf dessen Titelblatt in großen Lettern »Der Papst und die Pille« geschrieben stand. Ich drehte das Heft so herum, dass es der Kunde sehen konnte und sorgte für Unterhaltung, indem ich fragte: »Nimmt der Papst die Pille?«

      Aufgrund dieser Einlage mietete der Geschäftsmann alle verfügbaren Kopien aktueller Spielfilme für sein gut besuchtes Landkino.

      Oft erzählten die Kunden von ihren Havarien. Es war keine Seltenheit, dass ein Vertreter, der ständig mit dem Auto durch die Provinz fuhr, Alkohol trank und dann einen Unfall hatte. Ich war der festen Überzeugung, dass der Sinn des Wortes »Havarie« Liaison bedeutete. So erfrechte ich mich bei einer anderen Gelegenheit einem Kinobesitzer zu erzählen, ein ihm bekannter Vertreter habe schon wieder ein Verhältnis. Er fragte mich, ob ich wisse, mit wem. Ich konnte ihm nur den Ort des Verhältnisses nennen, worauf er nachdenklich wurde. Später klärte meine Mutter den Irrtum auf und der Kinobesitzer brach in schallendes Gelächter aus. Er gab mir einen Geldschein und rubbelte meine Haare. Wieder konnte meine Mutter ein Geschäft abschließen.

      War ich mit meiner Darbietung fertig, wurde ich wieder in mein Spielzimmer entlassen. Ich hatte mich amüsiert, für kurzweilige

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