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Max je gehört hatte. Sie erzählte ihm ungefragt, wie niedlich sie die Pension seiner Tante – oder war es Großmutter? – fände, wie sie die Aussicht aufs Meer genießen würde und überhaupt der Norden ja so faszinierend wäre.

      »Gustav und ich wohnen in dem drolligen Bungalow hinter dem Haus«, schwärmte sie. »Dort, wo er seine größten Kunstwerke geschaffen hat. Elfriede hat ihm erlaubt, wieder ein Atelier daraus zu machen. Die Gute hat ohnehin kaum etwas darin verändert, seit er das letzte Mal da war. Und er wird ein ganz neues Gemälde schaffen. Aber keiner darf erfahren, was es sein wird. Es ist ein Geheimnis!«

      Sie redete so laut, dass alle anderen im Zimmer unweigerlich zuhören mussten. Als das Wort »Geheimnis« viel, war es still. Max war zumute, als habe Carmen mit der Stille gerechnet, denn sie redete nun wichtigtuerisch auf alle ein:

      »Unter Künstlern kann es nämlich vorkommen, dass einer dem anderen die Idee, den kreativen Einfall stiehlt. Darum sagt Gustav kein Wort über sein neues Werk. Nicht einmal mir, kann man sich das vorstellen? Aber ich füge mich. Die Launen eines Künstlers hat man selbstverständlich zu respektieren.«

      Diese Frau ist unverschämt, stellte Max fest. Gustav hat ihr garantiert erzählt, wie vor zwanzig Jahren ein junger, aufstrebender Gestaltungskünstler seine Idee geklaut hatte. Das war ein dunkles Kapitel in der Geschichte des Wattenstiegs gewesen, denn der geistige Diebstahl hatte ausgerechnet hier stattgefunden und war zudem Elfriede zulasten zu legen.

      Max erinnerte sich nur dunkel, denn er war damals noch ein kleines Kind gewesen. Aus Erzählungen wusste er jedoch genug. Jener Künstler hatte im Wattenstieg gewohnt und von Elfriedes Freundschaft zu Gustav J. Martens erfahren. Da hatte er ihr solange in den Ohren gelegen, bis sie ihm von dessen neuesten Projekt berichtet hatte: »Lidschatten« sollte ein Zyklus von Bildern heißen, der dadurch zustande kam, dass Gustav die Augen schloss, nachdem er lange in Lichter gestarrt hatte. Dann sollten die visuellen Eindrücke, die bei geschlossenem Lid entstanden, auf Leinwand festgehalten werden.

      »Schwarzer Untergrund, naturgemäß, und darüber gleißende dünne Linien, violette Tupfer, orangefarbene Schimmer – alles sehr dunkel und unförmig – so hatte ich es mir vorgestellt«, hatte ihm Gustav Jahre später anvertraut. »Aber Elfriedes Plappermaul hat diesem Emporkömmling schon zu viel verraten. Er klaute meinen Einfall und machte daraus elektronische Kunst mit Monitoren und Glühlampen, die er ›Nicht-Bilder‹ nannte. Da brauchte ich mein Vorhaben natürlich nicht mehr in Angriff zu nehmen, sonst hätte man mich als Kopist verunglimpft.«

      Dass Elfriede und Gustav dennoch ihre Freundschaft aufrechterhalten konnten, kam Max heute wie ein kleines Wunder vor. Carmens Kommentar dagegen musste ihnen wie frisches Salz auf alter Wunde vorkommen. Die Dame schien gar nicht zu merken, wie ihretwegen die Stimmung beinahe kippte. Zum Glück trat gerade Sandrine herein und verkündete mit gewohnt lautem Organ:

      »Dîner! Folgen Sie mir bitte, alle!«

      Der Esstisch war voll besetzt. Eigentlich wollte Max sich neben seine Großtante setzen, aber Carmen machte ihm den Stuhl abspenstig. Er nahm stattdessen zwischen Immanuel Stuber und Herrn von Voss Platz. Er konnte hören, wie Carmen der Gastgeberin zuraunte:

      »Das finde ich ja mutig, hier auf dem Lande so multi-kulturelle Einstellungspolitik zu betreiben. Wo kommt Ihre Köchin denn her?«

      »Fragen Sie sie ruhig selbst«, raunte Elfriede zurück. »Sie versteht unsere Sprache hervorragend.«

      Carmen ergriff die Chance, sobald Sandrine ihren Teller füllte.

      »Verraten Sie mir bitte, Sandrine: Wo kommen Sie her?«

      »Moi? Aus Frankreich.«

      Max entging nicht, wie Sandrine für den Besuch eine extra Portion französischen Akzent in ihre Worte legte.

      »Nein, ich meine, wo kommen Sie wirklich her«, beharrte Carmen und deutete mit der Hand auf die dunkle Haut der Köchin. »Also ursprünglich

      »Na, aus Frankreich«, erwiderte Sandrine. »Sagte ich doch.«

      Es war zum Aus-der-Haut-fahren. Nicht nur Max, auch die anderen am Tisch waren peinlich berührt. Sie verstanden zwar, worauf Carmen hinauswollte, aber wie wenig Feingefühl für politische Korrektheit konnte ein Mensch heutzutage haben? Gustav hatte schließlich Mitleid mit seiner Geliebten, tätschelte ihre Hand und übernahm für sie das Wort.

      »Sandrine, ich glaube, meine Begleitung meint Ihre Vorfahren.«

      »Ach so!«

      Sandrine hob mit gespielter Überraschung die Hände ans Gesicht. Max ahnte, dass die Köchin die ganze Zeit über gewusst hatte, was Carmen meinte, sie aber absichtlich zappeln ließ. Er fand das sehr sympathisch.

      »Meine Großeltern verließen vor vielen, vielen Jahrzehnten Mali und kamen nach Frankreich«, erklärte sie. »Seitdem ist meine Familie französisch – naturellement!«

      Mit dieser kurzen und bündigen Erklärung war das Thema für sie abgeschlossen. Sie setzte sich auf den letzten freien Stuhl, wünschte allen »Bon appétit!« und langte ordentlich zu. Die anderen taten es ihr nach.

      Carmens Verhalten führte dazu, dass das Abendessen weitestgehend schweigend verlief. Niemand wollte sich eines neuen, vielleicht noch schlimmeren Fauxpas schuldig machen. Letztlich war es wieder Carmen, die nach dem Essen in ein neues Fettnäpfchen trat, indem sie ihre Zigarettenschachtel zückte.

      »Ts, ts, ts«, machte Sandrine und wackelte tadelnd mit dem Zeigefinger. »Nicht in der Nähe meiner Küche rauchen. Das dulde ich nicht.«

      Damit die Dame nicht allzu dumm dastand, kam ihr Max zu Hilfe. Er holte seinerseits eine Zigarette aus der Hemdtasche, dazu ein Feuerzeug, und sagte:

      »Seitdem sie hier ist, versucht Sandrine allen und jedem, das Rauchen abzugewöhnen. Bei mir hat sie’s aber nicht geschafft. Gehen wir hinters Haus, Carmen, da steht ein Aschenbecher.«

      Hinter der Pension befand sich neben der Terrasse ein kleiner Garten. Weiße Trittsteine führten über grünes Gras hin zum Bungalow, der Gustav und Carmen als Unterkunft und Atelier dienen sollte. Die beiden Raucher setzten sich auf eine alte Hollywoodschaukel und begannen eine harmlose Plauderei.

      »Ich hab wohl eins, zwei Mal etwas Dummes gesagt«, gestand Carmen. »Das passiert mir immer wieder. Wie dankbar bin ich Gustav, dass er darum nie viel Aufhebens macht.«

      »Ja, er ist in Ordnung«, erwiderte Max. »Er hat viel Verständnis für die Menschen.«

      »Im Gegensatz zu Klävers«, bemerkte Carmen. »Ich habe mitbekommen, wie er Sie getadelt hat, Max. Und auch mich hat er heute Abend mehrmals mit einem bösen Blick bedacht. Er ist sicher sauer, weil ich offen zugegeben habe, kein Werk von ihm zu kennen. Als ich ihn fragte, ob er von seiner Lyrik wirklich leben könne, zog er sich ganz beleidigt zurück.«

      Max musste kichern. Ja, Ole Klävers war sehr sensibel, was seine Dichtkunst anging. Zum einen bildete er sich viel darauf ein, nur in kultivierten Kreisen bekannt zu sein, zum anderen schmerzte es ihn, dass nicht einmal die hiesige Buchhandlung seine Poesiebändchen anbot. Er hatte einmal unter falschem Namen ein Dutzend seiner Bücher dort bestellt und nie abgeholt, in der Hoffnung, der Händler würde sie dann ins Schaufenster oder wenigstens an den Verkaufstresen stellen, um sie loszuwerden. Stattdessen hatte man das Dutzend einfach wieder an den Verlag zurückgeschickt.

      »Über Ole Klävers muss man drei Dinge wissen«, erzählte er Carmen. »Sein Erstlingswerk hieß ›Zwanzigtausend Meilen über dem Watt‹ und sollte eine lyrische Hommage an Jules Vernes Roman und an seine eigene nordische Heimat zugleich sein. Ich fand es gar nicht schlecht, auch wenn man es nur einmal liest und dann nie wieder. Sandrine dagegen war der Auffassung, es müsse eher ›Zwanzigtausend Meilen unterm Niveau‹ heißen. Sie liebt Jules Verne und hält nichts von Nachahmungen.«

      »Zwanzigtausend Meilen unterm Niveau«, lachte Carmen. »Das gefällt mir. Und die zwei anderen Dinge, die man wissen muss?«

      Max nahm einen Zug, bevor er weitersprach.

      »Die zweite Sache, deretwegen Ole bekannt

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