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eine wichtigere Mission im Leben.

      Benjamin atmete tief aus und lehnte sich erstaunt zurück, als ihm ein weiterer Gedanke durch den Kopf schoss.

      Hatte er gerade vor seiner bereits kontrolliert geglaubten Triebhaftigkeit kapituliert? Hatte sie ihn wieder im Griff?

      Er sollte wieder mehr unter Leute gehen, statt zu grübeln und zu forschen, das hatte ihm sein Bruder Alexander geraten. Nicht zuletzt deswegen ging er wieder in Cafés und an andere öffentliche Plätze, wo man Leute treffen konnte, in Bars, auf den Markt, in die Kunstläden und zu den Vernissagen und Konzerten, die es in Göttingen gab. Zen fühlte, wie er innerlich schwankte. Hatte ihn die Lust wieder im Griff? Ein Seufzer entrang sich seinem halb geöffneten Mund. Opferte er gerade seine Spiritualität auf dem Altar des Sinnlichen?

      Zunächst musste er sich wieder beruhigen. Benjamin bestellte sich einen weiteren Kaffee und einen Grappa. Auch das war wieder neu: der Alkohol. Ein Jahr lang hatte er keinen angerührt; nun schmeckte er ihm wieder und wärmte ihm die aufgewühlte Brust.

      Benjamin klappte die ZEIT auf und blätterte darin herum.

      Politik interessierte ihn nicht, Wirtschaft noch weniger. Der Sportteil brachte auch nichts Interessantes. Da sprang ihn nichts an, was ihn hätte begeistern können, und auf die Artikel konzentrieren konnte er sich immer noch nicht. Benjamin sah kaum die Überschriften.

      Auf der Wissenschaftsseite stand der Artikel über ihn selbst und seine Entdeckungen. Er überflog ihn; der Reporter hatte nicht alles verstanden, dafür war das Foto von ihm gut gelungen, fand er. Dr. Benjamin Zeno Abendschein vor seinen Rindern, war das Bild untertitelt. Er war eindeutig das hübscheste Wesen darauf.

      Der leere Hocker, auf dem die Frau ihre Suppe gelöffelt hatte, starrte ihn an. Benjamin war über ein Jahr lang ohne Frauen und ohne Sex ausgekommen. Es hatte ihm nichts ausgemacht, im Gegenteil. Er hatte es genossen, den Kopf frei von irdischen Zwängen zu haben, solange es gedauert hatte. Keine Ablenkungen, keine Störungen, nur Wissenschaft, Natur, Schönheit. Befreiung. Er hatte sich in die lichten Höhen des Geistes emporschrauben können, ungebunden von dumpfen Zwängen.

      Im Café lief leise Musik, ein Radiosender aus Göttingen, Radio 21. Gerade lief ein altes Stück von Black Sabbath, das langsam wie ein gelassener Herzschlag begann, bis sich irgendwann das animalistische Dröhnen der Bässe und wenig später ein aufgeregtes Crescendo der Gitarren in den Vordergrund schob. Schließlich gewann das dumpfe Bumm-Bumm der Basstrommeln die Oberhand.

      Das Ganze erinnerte ihn an den Ablauf eines gelungenen Aktes.

      Der Song wurde von einem langsamen Liebeslied der Beatles abgelöst.

      Ging es immer und überall nur darum?

      Am Sex und seiner angenehmen Notwendigkeit hatte Benjamin niemals gezweifelt. Als Biologe nicht, und als Mann schon gar nicht. In der Arterhaltung und damit der Weitergabe der Gene bestand der Sinn des Lebens, das sich dabei fortwährend immer besser an seine Umgebung anpasste. Jedenfalls war das in der Welt der sogenannten höheren Lebewesen so; bei Bakterien, mit denen er beruflich zu tun hatte, war das anders, da ging es auch ohne Sex.

      Säugetiere brauchten das ein bis zweimal im Jahr, der Mensch rund um die Uhr, wenn man der Musik Glauben schenken mochte. Neben der täglichen Behauptung im Leben, der Sorge fürs eigene Überleben, das in modernen Zeiten immer weniger im Vordergrund stand, war es eine der Hauptsorgen und Beschäftigung der meisten Menschen, guten Sex zu haben.

      Wie er als Mann wusste, gab es ohne ihn weniger Sinn und Freude. Der Saft, der durch seinen Körper schoss, war Lebenslust pur.

      Auch wenn er schon früher gewusst hatte, wie Hormone und Pheromone und andere griechische Substanzen funktionierten, auf welche Weise sie den jugendlichen Körper für seine Fortpflanzungsbemühungen beschenkten, hatte ihm das früher nie und nimmer den Spaß daran verdorben.

      Er hatte mehr als genug davon gehabt, als erfolgreicher Sportler, gut aussehender Jüngling und freizügiger Student. Eines Tages, viele Jahre später, und ganz plötzlich, von einer Stunde auf die andere, hatte er die Nase voll davon gehabt, als sich ihm lichtere Dimensionen eröffnet hatten.

      Die beiden ersten Semester in Göttingen hatte er praktisch nur in fremden Betten verbracht. Im zweiten Jahr begann das Studium mehr Raum einzunehmen, und Benjamin – Zen, wie ihn seine Freunde nannten – traf seine weiblichen Bekanntschaften bald mehr als nur einmal.

      Aus zweimal wurden ein paar Mal; aus flüchtigen Nächten wurden Freundschaften. Man zog zusammen in eine WG. Noch war nichts verboten oder verpönt, man war ja nicht verlobt. Man traf sich mit anderen entspannten Paaren, man fuhr gemeinsam in den Urlaub. Ehe er sich versah, war Zen fast drei Jahre mit Sandra aus Cuxhaven zusammen, seine Mutter fragte schon, wann sie sich denn verloben wollten. Benjamin hatte nur laut gelacht.

      Zen war bekannt in der Stadt. Nur er hieß so, Benjamin hießen viele in seinem Jahrgang. Sein Vater, Altphilologe am Max-Planck-Gymnasium, hatte auf seinem zweiten Namen bestanden, Zeno, kurz für Zenodoros, das Gottesgeschenk. Der Zeus zugehörige, sein Vater hatte ihm viele Nuancen erklärt. In seiner Schulklasse hatte es noch zwei Bens gegeben, aber nur einen Zeno. Daraus wurde Zen, selbst seine Lehrer und Professoren nannten ihn so.

      Zen legte die ZEIT zurück auf den Zeitungstisch und zog sein Handy aus der Tasche, hielt aber inne. Die Nachrichten und wissenschaftlichen Reports auf seinen Apps und den sozialen Medien hatte er alle schon frühmorgens im Bett gelesen. Nichts Neues. Daddeln mochte er hier im Café nicht.

      Also die Lokalzeitung. Zen steckte das Handy wieder weg.

      Im Göttinger Tageblatt las er gern die Kleinanzeigen. Sie zeigten die Welt im Kleinen, die alltägliche menschliche Seite der Stadt. Richtige Menschen, die aber ein kleines, für sie wichtiges Anliegen hatten. Etwas Unverfälschtes. Leute, die etwas brauchten oder loswerden wollten.

      Zen fiel auf, wie viel Raum Tiere in den Kleinanzeigen einnahmen, Hunde, Katzen, Meerschweinchen und der gelegentliche Wellensittich. Die Rubrik Tiermarkt war eine der größten in dieser Ausgabe. Ein fett gedrucktes Inserat fiel ihm ins Auge.

      Kleine Muschi sucht

      neues Herrchen.

      Trau dich!

      Die Anzeige hob sich durch einen dünnen Rahmen von den anderen Anzeigen ab. Mit Chiffre und Telefonnummer.

      Wenig darunter, unter Vermischtes, stand eine weitere Anzeige, mit derselben Telefonnummer, die man bei Interesse anrufen sollte.

      ZEN UND DIE KUNST DES BÜGELNS 101

      Privater Kurs.

      Nur ernst gemeinte Zuschriften!

      Zen wurde neugierig. Was war das denn? Durch Bügeln zum Nirwana? Volkshochschul-Satori für Anfänger? Und wieso gab da die gleiche Person zwei so unterschiedliche Anzeigen auf? Denn die angegebene Nummer war bei beiden dieselbe.

      Er musste grinsen. Zen. Ich und die Kunst des Bügelns, dachte er. Worum ging es da bloß?

      101 sagte ihm was, one on one, zwei Personen mit- oder gegeneinander. Oder etwa aufeinander?

      Zen sagte ihm auch etwas. Nicht nur seines Namens wegen hatte er sich mit dieser Spielart des Buddhismus beschäftigt. Erst vor zwei Wochen hatte er ein Buch von einem Eugen Herrigel über Zen und die Kunst des Bogenschießens gelesen. Ein sehr schönes Buch. Und anschließend ein anderes, Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, das ihm nicht so gefallen hatte. Er fuhr Fahrrad und konnte Motorrädern nichts abgewinnen. Aber Bügeln? Hallo?

      Bügeln. Das weckte verschiedene Assoziationen. Bügeln wie platt machen. Plätten. Der Vorgang, ein Kleidungsstück zu glätten, die Falten platt zu machen, zu beseitigen. Jemanden platt machen, aber das passte nicht zu Zen.

      Jemanden flachlegen. Das passte zu der zweiten Anzeige mit der kleinen Muschi, die ein neues Herrchen suchte, mit der gleichen Handynummer. In dem Zusammenhang hatte er Bügeln auch schon mal gehört. Bügeln, Vögeln. Wenn nicht tatsächlich ein Kätzchen gemeint gewesen war.

      Aber Zen?

      Zen

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