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gegen die berühmte Mauer des Schweigens.

      An diesem Donnerstagmorgen suchte ich sie. Sämtliche Familienmitglieder waren mit den Vorbereitungen für die Feierlichkeiten beschäftigt und keiner von ihnen hatte Jule gesehen. Irgendwann landete ich im verwinkelten Keller des Instituts und im Kühlraum wurde ich dann auch tatsächlich fündig. Sie lag regungslos auf dem geschlossenen Sarg unseres Vaters und starrte an die weiß geflieste Decke. Ich konnte nicht verstehen, warum sie solche merkwürdigen Dinge tat. „Verdammt noch mal, Jule, … was tust du denn da? Komm gefälligst runter.“

      Ich packte sie am Arm und erschrak, sie fühlte sich an wie ein tiefgefrorenes Schnitzel. Erstaunlicherweise kam sie meiner Bitte sofort nach, rutschte vom Sarg und nahm meine Hand, „Du musst mir unbedingt helfen, Leon, … willst du?“

      In diesem Moment überkam mich ein unbeschreibliches Glücksgefühl, denn sie schien sich auf dem Wege der Besserung zu befinden. „Natürlich will ich dir helfen, Jule. Wenn du mir verrätst wie und wobei.“

      „Lass uns den Sarg öffnen. Ich will unseren Vater ein letztes Mal sehen und mich vernünftig von ihm verabschieden.“

      „Was? Nein! Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt, … der Sarg bleibt zu!“ Die Familie hatte sich schließlich nicht ohne Grund für einen geschlossenen Sarg entschieden. Der Verwesungsprozess war inzwischen ziemlich weit fortgeschritten, und da meine Eltern sowieso eingeäschert werden wollten, bestand kein Grund für eine aufwendige Restauration ihrer sterblichen Überreste.

      Doch meine Schwester sah das offensichtlich anders. Sie war sehr darum bemüht dem Ruf einer kleinen Rotzgöre gerecht zu werden, indem sie trotzig mit dem Fuß auf den Boden stampfte, „Aber das ist nicht fair, … ich hatte doch noch gar keine Gelegenheit mich richtig von Papa zu verabschieden.“

      „Was erzählst du denn da, … du hast doch drei Tage und zwei Nächte lang nichts anderes getan.“ Verständlicherweise wurde mir langsam kalt. Außerdem hatte ich die Schnauze gestrichen voll, von dem überaus merkwürdigen Gebaren meiner kleinen Schwester, „Lass uns bitte draußen weiter reden, sonst bekommen wir am Ende beide noch einen Schnupfen.“

      Sie schüttelte energisch ihren Kopf, „Ich werde hier aber nicht eher weggehen, ehe ich nicht …“

      „Ach hier steckt ihr zwei Hübschen also“, ausgerechnet mein Onkel Hendrik entpuppte sich als Retter in der Not und avancierte sofort zu meinem persönlichen Helden. Er löste die Bremse des kleinen Transportwagens und schob das Objekt ihrer Begierde Richtung Ausgang, „Na dann folgt mir mal unauffällig. Die Feier soll in wenigen Minuten beginnen und außerdem werdet ihr schon vermisst.“ Da mir gerade ganze Zentnerlasten vom Herzen gefallen waren, konnte ich mir ein winziges Grinsen nicht verkneifen. Dem Julchen war das natürlich nicht entgangen. Sie bedachte mich mit einem kurzen verachtenden Blick, der ziemlich laut nach Vergeltung schrie. „Wenn es euch nichts ausmacht, dann könntet ihr den Sarg von eurer Mutter ja gleich mitbringen.“ Onkel Hendrik dachte sich nichts dabei und mir machte es komischerweise tatsächlich nichts aus.

      „Kein Problem, Onkel Hendrik, wir bringen ihn mit.“ Ich schnappte mir den zweiten Rollwagen und versuchte ihn, mehr schlecht als recht, in eine günstigere Position zu bringen. Da mir das nicht wirklich gelingen wollte, wandte ich mich kurzerhand an meine Schwester, „Möchtest du vielleicht mal mit anfassen? Ich könnte ein bisschen Hilfe gebrauchen.“

      Doch Juliette ließ mich ihre Wut deutlich spüren und zischte mich an, „Du Arschloch hast mir ja auch nicht geholfen, also mach es gefälligst alleine. Wirst schon sehen, was du davon hast.“ Dann rauschte sie davon.

      Der einzige Lichtblick an diesem rabenschwarzen Tag erschien in Form meines Lieblingsonkels Quentin. Es handelte sich um den jüngeren Bruder meiner Mutter, der vor einigen Jahren die Rolle des schwarzen Schafes regelrecht an sich gerissen hatte. Ausgerechnet auf der Geburtstagsfeier seines Vaters krakelte er heraus, dass er schwul sei und ausschließlich Männer begehren würde. Als sein Vater dann ein halbes Jahr später das Zeitliche segnete, hieß es, Quentin hätte ihn mit seiner Offenbarung zugrunde gerichtet und er sei an gebrochenem Herzen gestorben. Das war natürlich völliger Quatsch. Denn als wahrer Schuldiger für sein bedauerliches Dahinscheiden kam tatsächlich nur einer infrage, nämlich der faustgroße Tumor in seiner Brust. Nach dem Tod der Mutter stellte sich heraus, dass sie ihn noch auf den letzten Metern enterbt hatte. Doch meine Mutter teilte das nicht unerhebliche Erbe in zwei gleichgroße Hälften und zahlte ihn aus. Onkel Quentin legte das Geld vernünftig an und wurde quasi über Nacht zu einem steinreichen Mann. Seit dem tingelte er durch die Weltgeschichte und genoss sein Leben in vollen Zügen. Ab und zu tauchte er mal bei uns auf, blieb eine kleine Weile, um dann wieder sang- und klanglos in der Versenkung zu verschwinden. Wir wussten nie, wo er gerade steckte. Ich mochte ihn wirklich sehr. Seine weltoffene Art, seinen Humor, seinen eleganten Charme und seine unglaubliche Leichtigkeit des Seins. Er legte genauso großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres, wie auf besonders gepflegte Umgangsformen. Dazu verfügte er noch über ein schlichtweg beeindruckendes Allgemeinwissen und außerdem war er seit jeher der einzige Mensch, der mir auch mal zuhörte.

      Am frühen Nachmittag war mein Kraftpotenzial vollkommen ausgeschöpft. Unzählige Hände hatten meinen Kopf getätschelt und unzählige Münder Bedauern geheuchelt. Ich konnte einfach kein Mitleid mehr ertragen, deshalb zog ich mich in unseren etwas abgelegenen Gartenpavillon zurück. Er ließ nicht lange auf sich warten. Wie immer bestach er durch schlichte Eleganz. Schwarzer Anzug mit Weste, weißes Hemd, schwarze Fliege und Einstecktuch. Ein schwarzer Schirm bot ihm Schutz vor dem anhaltenden Regen. Seine kurzen schwarzen Haare pflegte er mit Pomade zu bändigen, deshalb erinnerte er mich immer ein bisschen an die Zeiten von Al Capone. Er lächelte, „Darf ich mich zu dir setzen, mein Freund?“

      Ich rutschte ein Stück beiseite, „Klar doch.“

      So saßen wir ein ganzes Weilchen schweigend nebeneinander und starrten in den Regen. „Möchtest du vielleicht darüber reden?“

      Ich zuckte mit den Schultern, „Was gibt es da zu reden? Meine Eltern sind gestorben und ich hatte die besondere Ehre, diesem einmaligen Ereignis beiwohnen zu dürfen.“

      „Das tut mir aufrichtig leid, … ich habe deine Mutter wirklich sehr geliebt.“

      „Ich auch.“ Der Kloß in meinem Hals wuchs zu einer unangenehmen Größe heran, „Glaubst du an Gott?“

      „Wenn du einen alten Mann mit Rauschebart meinst, der von seinem Wolkenthron über unser aller Schicksal wacht, dann lautet die Antwort nein. Ich glaube an die Kraft der Natur, an bedingungslose Liebe, an all die herrlichen Geschöpfe, die diesen wundervollen Planeten bewohnen und ich glaube an mich selbst. Was ist mit dir, … glaubst du an Gott?“

      Ich lachte bitter, „Meinst du möglicherweise den Gott, der bereits kleinen Babys Krankheiten schenkt, der manche seiner Schäfchen einfach verhungern lässt und mir ohne jegliche Vorwarnung die Eltern genommen hat? Oh nein, ganz sicher nicht.“ Ich senkte den Kopf und schluckte.

      „Schau mich an.“

      „Nein.“

      „Bitte, Leon, schau mich an.“ Ich schluckte erneut, hob langsam den Kopf und wagte einen Blick in seine wasserblauen Augen. Im selben Moment brach es aus mir heraus. Seit dem Tod meiner Eltern hatte ich noch kein einziges Mal geweint und dieser stetige Kampf gegen die Tränen hatte mich unendlich viel Kraft gekostet. Deshalb genoss ich es sehr, mich einfach nur an Quentins Brust zu schmiegen und ihnen endlich freien Lauf zu lassen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in seinen Armen gelegen und seinen Trost genossen habe, aber ich weiß, dass es mir danach um einiges besser ging. Er drückte mir sein mit Initialen besticktes Taschentuch in die Hand, „Hier mein Freund, schnaub dir erst mal die Nase.“

      „Danke, Onkel Quentin. Wie hast du überhaupt davon erfahren? Die Familie hat’s dir doch bestimmt nicht gesagt.“

      „Ich habe es in der Zeitung gelesen.“

      Ich nickte,

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