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Er hielt den großen weißen Vogel den Eltern hin. Die Frau und der Mann wandten sich ab.

      Der Junge warf den Vogel in die Luft. Er hörte klatschenden Flügelschlag und einen schrillen Schrei: »Krrjäh - gijä gijä!«

      »Sieh nur!«, riefen der Mann und die Frau. »Sie fliegt!«

      Der Junge öffnete die Augen. O ja, die Möwe flog! Er wollte schon weggehen, da sah er sie, wo Himmel und Meer scheinbar eins wurden, ins Wasser fallen wie ein kleiner weißer Stein.

      Der Frosch (Tschomolungma, 1981)

      Peter hat die Schule weit hinter sich gelassen, er zwingt sich, langsamer zu laufen. Nicht weit entfernt vom Kindergarten, hinter einem Holzzaun, steht das letzte Haus des Ortes. Peter stellt sich auf Zehenspitzen, zieht sich am Zaun hoch und sieht in den Garten.

      Auf der kleinen Terrasse sitzt Rose im Rollstuhl und liest in einem Buch. Klein und zart erscheint ihm das Mädchen. Ihre Haut ist so hell, wie sie bei Prinzessinnen in den Märchen beschrieben wird. Die Haare trägt sie kurz, sie haben die Farbe reifer Kastanien und glänzen auch so. Ihre Augen sind groß und dunkel, ihr Blick ist, selbst wenn sie liest, prüfend, misstrauisch und hart. Peter fällt es täglich schwerer, Rose in die Augen zu sehen, er weiß nicht warum.

      Das Mädchen ruft spöttisch: »Ich habe dich längst gesehen. Warum versteckst du dich? Dort, hinterm Zaun bist du!«

      Der Junge lässt sich am Zaun heruntergleiten. Dem Märchen entgeht aber auch nichts. Dabei ist es erst Vormittag, nicht seine Zeit für einen Besuch, er müsste noch beim Unterricht sein. Jeden Tag, gleich nach der Schule besucht er sie und ist gespannt, wie sie sich heute verhält. Einerseits wünscht er, sie wieder auf den Beinen zu sehen. Aber er sorgt sich auch, dass sie vielleicht gar nicht mehr mit ihm zusammen sein will, wenn sie wieder herumspringen kann. Manchmal, wenn der Junge sich in Tagträumen verliert, ist sie ein verwunschenes Burgfräulein, und nur er kann sie von dem bösen Zauber erlösen.

      Peter öffnet die Gartentür, aber Rose befiehlt: »Klettere über den Zaun. Nun tu’s schon!«

      Peter müht sich widerspruchslos über das Hindernis. Er ist nicht mehr überrascht von Roses Befehlen. Jeden Tag verlangt sie etwas anderes von ihm, einen Sprung über einen Stuhl, einen Kopfstand, minutenlanges Hüpfen auf einem Bein. Sie hat von ihm sogar verlangt, er soll einen Salto springen, er hat aber nur eine Rolle vorwärts fertiggebracht. Rose lacht nicht über ihn, wenn ihm etwas nicht gelingt, sie reagiert gar nicht darauf, was ihn noch mehr verunsichert.

      Peter steigt die Stufen zur Terrasse hoch, setzt sich neben den Rollstuhl auf die roten Steinplatten.

      Rose legt das Buch auf ihrem Schoß ab und will wissen: »Warum bist du heute schon so früh gekommen?«

      Peter winkt ab. »Mir ging´s nicht so gut. Ich sollte nach Hause gehen und mich auskurieren.«

      »Hm.« Rose mustert ihn gründlich und gibt sich dann zufrieden. Ihre dunklen Augen sprühen vor Neugier. »Nun erzähl schon«, fordert sie. »Alles. Lass nichts aus, hörst du. Fang an, als du heute Morgen aufgewacht bist. Was machen die andern so? Und Frau Weinhold? Hat sie wieder was gesagt, dass sie nicht mehr unterrichten will? Mensch, nun rede doch!«

      »Es ist alles so, wie es war«, sagt Peter. »Ich sage dir schon, wenn was passiert.«

      Sie lässt ihn nicht aus den Augen und fährt ihn dann an: »Unsinn! Du lügst!«

      Peter winkelt die Beine an, zieht die Schultern zusammen und schweigt. In letzter Zeit häufen sich Roses Gefühlsausbrüche. Sie nimmt das Buch und wirft es auf den Steinboden. Im nächsten Augenblick beginnt sie heftig zu weinen und stößt einige Mal ihre Stirn auf die Oberschenkel.

      Der Junge will aufspringen, dem Mädchen die Hand auf die Schulter legen, ihr sagen – ja was soll er ihr sagen? Er weiß, sie hält es nur schwer aus im Haus und in der Abgeschlossenheit des Gartens. Sie braucht das »da Draußen«, wie sie es nennt, den Ort, die Straßen und Wege, die in ihn hinein und aus ihm herausführen. Woher? Wohin? Das will sie erkunden, das muss sie wissen und will es sehen. Sie braucht all die Leute, die täglichen Begegnungen, das Verstehen wie den Streit. Die Schule, über die sie oft geschimpft und ihre Regeln gern mal übertreten hat, fehlt ihr. Ihr fehlen die nahen Hügel und die fernen Berge, der zum Versteckspiel bereite Wald, der Duft der Wiesenhänge nach dem Regen, der schier unendliche Blick vom alten Wachtturm, der am Waldrand steht. Der Junge weiß das alles, und hat manchmal das Gefühl, sie gibt auch ihm die Schuld, dass das »da Draußen« von ihr weggerückt ist. Er soll ihr mitbringen, was sie nicht mehr erreichen kann. Der Junge und das Mädchen kennen einander, schon lange, schon immer. Über die Jahre hat sie ihn kaum wahrgenommen, wogegen er gern in ihrer Nähe war, wenn sie mit den anderen herumtollte, es konnte ihr nicht wild genug zugehen. Einmal war sie in der Hofpause gegen ihn geprallt, sie hatte ihn heftig weggestoßen und »Pass doch auf, du Frosch!« gerufen. Er hatte etwas gestammelt und war beiseite gegangen. Von nun an war er für die anderen der »Frosch«, und obwohl ihm der Spitzname nicht gefiel, wehrte er sich nicht dagegen.

      Nach Roses Unfall wurde es bald einsam um sie. Die Mitschüler kamen seltener zu Besuch, bis sie ganz wegblieben. Es gelang ihnen nicht, das Mädchen im Rollstuhl mit der »wilden Rose« gleichzusetzen. Sie wirkten hölzern, wenn sie bei ihr waren, als hätten sie eine ungeliebte Pflicht zu erfüllen. Rose hasste ihre verstohlenen Blicke, die ihr das Gefühl gaben, ihnen nicht mehr gleichwertig und aus ihrem Kreis ausgeschlossen zu sein. Mit Sticheleien und giftigen Worten hatte sie es alsbald geschafft, selbst ihre engsten Freunde zu vertreiben. Tags darauf war Peter bei Rose mit den Hausaufgaben aufgetaucht, Frosch, den alle für einen Spinner hielten und der ihr bereitwillig erzählte, was im Ort und in der Schule vor sich ging. Manchmal erzählte er ihr auch erfundene Geschichten, in denen sich einer auf den Weg nach Weißnichtwo machte, um Weißnichtwas zu finden. Einmal hatte er sie gefragt, ob sie ihm zutraue, dass er einen Berg bezwingen könnte, nicht irgendeinen, den höchsten vielleicht. Und er hatte ihr zugeflüstert, als vertraue er ihr sein größtes Geheimnis an: »Tschomolungma.« Rose hörte dem Jungen gern zu, wenn er »spann«, es hörte sich an wie Nachrichten aus einer anderen Welt. Sie spürte die gleiche Sehnsucht nach etwas, das sie nicht kannte, aber unbedingt kennenlernen musste.

      Von der Straße her sind ausgelassenes Lachen und übermütige Schreie zu hören. Rose richtet sich mit einem Ruck auf und wischt sich mit den Handrücken derb über ihr Gesicht. Sie sieht Peter fragend an, der nickt. Vom Ortskern her kommt, wie bei schönem Wetter oft um diese Zeit, eine Gruppe von Jungen und Mädchen herangetobt. Vor dem Unfall gehörte Rose dazu und war stets vorn dran. Die Schüler wollen hinaus in die Wiesen, zu den Lehmlachen. Das größte der Wasserlöcher ist ihr Badeteich, dort lassen sie sich von der Sonne braten oder spielen einander den Ball zu, der immer dabei ist. Wenn ihnen zu warm wird, springen sie ins Wasser, haschen einander oder tauchen nach Muscheln.

      Die Jungen und Mädchen verharren hinterm Zaun, sie blicken durch Astlöcher in den Garten. Rose und Peter ducken sich, um nicht gesehen zu werden.

      Für Sekunden ist nur das Sirren des Windes zu hören.

      »Kommt schon!« Einer geht los, die anderen folgen ihm. Ein anderer lacht und verfällt ins Rennen, und alle rennen ihm hinterher. Weg sind sie, als wären sie nie da gewesen.

      Rose hebt das heruntergeworfene Buch auf, legt es zurück auf ihre Oberschenkel, setzt sich betont gerade hin, atmet tief ein und aus. Doch dann trommeln ihre kleinen Fäuste ungestüm auf das Buch ein.

      Peter verdrückt sich von der Terrasse, er will Rose Zeit lassen, sich zu beruhigen. Er setzt sich am Rand des Zierteiches ins Gras, und als neben ihm etwas aufspringt, fasst er reflexartig zu. Er fühlt etwas Weiches und Feuchtkaltes in der Hand. Obwohl es ihn ekelt, möchte er doch sehen, was er da erwischt hat und öffnet vorsichtig die Hand. Es ist ein Frosch, ein Laubfrosch, der keine Anstalten macht wegzuspringen und sich im hohen Gras oder im Wasser unsichtbar zu machen. Der Grünling ist nicht groß, am beeindruckendsten ist sein Kopf mit dem breiten Maul und den seitlich herausstehenden Augen. Sie sind unverhältnismäßig groß, glänzend-schwarz und starren scheinbar ins Leere.

      Der

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